Renato Baretic

Der achte Beauftragte


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als wäre der Blitz eingeschlagen.

      »Negetiv. Bart Nassfuß«, nuschelte er und beschleunigte seinen Schritt.

      Den Rest des Weges erklommen sie schweigend. Und dort, wo sich die Vorder Mur und die Hinter Mur wie zwei Riesenschamlippen vereinigten, erstarrte Siniša so wie kürzlich Tonino. Rechts unterhalb der Biegung des Pfades erstreckte sich ein Tal wie auf einer kitschigen Postkarte. Eine breite Dorfstraße zog sich hindurch, mit Steinen gepflastert und vom Regen glänzend. An den sanften Berghängen entlang dieser Straße standen Steinhäuser in zwei, drei geordneten Reihen, rechts und links jeweils ungefähr dreißig vorwiegend einstöckige Häuser. An beiden Enden der Hauptstraße befand sich je eine kleine Kirche ohne Turm, nur mit kleinen, niedrigen Glockentürmchen über den Portalen. Das ganze Dorf war von Steinmauern umgeben, und vor diesen Mauern wuchsen alle möglichen Pflanzen. Auf dem linken Abhang, der nach Süden lag, gab es Weinreben, und …

      »Uff, ihr seid ja nicht viel weiter gekommen«, hörte der erstarrte Siniša in seinem Rücken eine bekannte Stimme in bekannter Sprache. Ganz durchnässt und außer Atem lächelte ihn Tonino an wie ein Kind. Eine nasse Haarsträhne hing über seine Nase und klebte an ihr fest.

      »Und, was sagen Sie, Herr Beauftragter? Beeindruckend, nicht wahr?«

      »Oh ja, ja … Es sieht wunderbar aus. Und du? Geht es dir gut?«

      »Kein Problem, kein Problem«, beeilte sich Tonino verlegen zu versichern. »Ich werde es Ihnen schon noch erklären, aber glauben Sie mir, es gibt wirklich kein Problem … Und das Dorf sieht so aus …« Tonino warf das nasse Zeitungsbündel auf den Boden und legte seine leicht gekrümmten Handflächen zusammen, als wolle er sein Gesicht waschen.

      »Ihr habt zwei Kirchen?«, fragte Siniša, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.

      »Ja«, antwortete Tonino prompt; alle Anzeichen seiner Benommenheit waren verschwunden. »Der Heilige Eusebius und der Heilige Polion, wie in der nordkroatischen Stadt Vinkovci. Nur dass die beiden dort eine gemeinsame Kirche haben, und hier hat jeder seine eigene. Heileusebi und Heilopoli.«

      »Heileusebi und Heilopoli …«, wiederholte Siniša nach einigen Sekunden der Stille. Er spürte, wie ihn eine plötzliche Müdigkeit überwältigte, begleitet von einem inneren, unsichtbaren Schüttelfrost, wie jedes Mal nach einer langen und anstrengenden Reise.

      »Ich glaube, dass ich für heute genug habe«, sagte er. »Wo bringt ihr mich unter? Ich muss mich gut ausschlafen, damit wir uns morgen an die Arbeit machen können.«

      »Bei mir natürlich, wie es sich für einen echten Beauftragten gehört. Sie werden gut zu Abend essen, es sich gemütlich machen …«

      »Nein, werde ich nicht, Tonino. Ich werde mich nur hinlegen und schlafen. Bring mich einfach hin und erzähl mir nichts mehr, bitte.«

      Die letzten Worte sprach Siniša langsam aus, kalt und warnend. Er spürte, wie der »wahre Siniša« von ihm Besitz ergriff. So nannte ihn Źeljka, wenn ihn, was manchmal geschah, Anfälle schrecklicher Nervosität und Wut überkamen, plötzlich und intensiv. Der »wahre Siniša« hatte ihm nie besondere Sorgen gemacht, bis ihm Źeljka diesen Namen gab, eine halbe Stunde, nachdem er das Hemd zerrissen hatte, das sie gegen seinen Willen bügeln wollte. Er begann, über diesen Dämon in sich selbst nachzudenken, er suchte nach der Stelle, an der sich das Glöckchen befand, das ihn herbeirief, aber alles, was er mit seinem Verstand begreifen konnte, war die Erkenntnis, dass der »wahre Siniša« im Augenblick seines Auftretens mit dem irrationalen und starken Verlangen verbunden war, sofort und ehe man noch mit den Fingern schnippen konnte, allein zu bleiben. Angesichts der Gestalten, mit denen er in den letzten Jahren zusammen gewesen war, war das nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich war nur, dass der »Wahre« auch Macht von ihm ergreifen konnte, wenn er sich in angenehmer Gesellschaft befand. Mit der Zeit lernte Siniša, den »Wahren« so lange zu zügeln und zu kaschieren, bis es ihm gelang, allein zu bleiben, doch dann war er in der Regel zu erschöpft, um an beiden Fronten den Sieg zu genießen.

      Jetzt und hier erschien es ihm so, als würde er sich auf dieser sinnlosen, überflüssigen Insel mitten in der Adria ganz allein besser fühlen als in der Gesellschaft dieser immer düstereren Gestalten und ihrer verhängnisvollen Begrüßungszeremonie. Auf dem leichten Abhang beschleunigte er entschlossen seine Schritte und überholte den Esel und seinen Führer, während der langbeinige Tonino schweigend versuchte, Schritt zu halten. Nachdem er den ersten der vielen glatt polierten Steine betreten hatte, mit denen die Hauptstraße gepflastert war, rutschte er leicht aus und blieb stehen. Rechts von ihm lag das Kirchlein und vor ihm die kleine Loggia. Er drehte sich auf den Fersen um, und noch in der Drehung sagte er mit entschlossener Stimme:

      »Meine Herren …«

      Die Herren und Tonino waren jedoch ganze fünfzig Schritte hinter ihm zurückgeblieben. Sie wurden nicht von einem »wahren Siniša« getrieben und gingen weiterhin in ihrem eintönigen Rhythmus. Von hier unten betrachtet, undeutlich unter dem dunkel gewordenen Himmel, sahen sie aus wie ein dicker schwarzer Wurm, der langsam in Sinišas Richtung kroch und die Steinchen auf dem Pfad unter sich zermalmte. Ein riesiger, träger Wurm mit einem winzigen Eselsköpfchen …

      »Meine Herren«, begann er von neuem, als der Esel friedlich stehen geblieben war, den Kopf hängen ließ und einen Meter von ihm entfernt einmal schnaubte. »Morgen ist Sonntag. Wann ist bei Ihnen hier der Gottesdienst? Ich frage deshalb, weil ich gerne alle nach dem Gottesdienst hier …«

      Tonino hüstelte direkt neben seinem Ohr.

      »Hm … Es gibt keinen Gottesdienst«, sagte er leise.

      Der »wahre Siniša« zielte mit einem irren Blick nach ihm.

      »Ihr habt keinen Gottesdienst? Sonntags habt ihr keinen Gottesdienst?«

      »Haben wir nicht«, zuckte Tonino mit den Schultern, als wäre ihm das peinlich.

      »Zwei Kirchen habt ihr in diesem … Zwei Kirchen, aber keinen Gottesdienst? Und was macht euer Pfarrer?«

      »Wir haben keinen. Ich werde es dir erklären.«

      Der »wahre Siniša« trompetete zum Angriff, und seine Kavallerie stürmte im Galopp von allen Seiten heran. Der achte Beauftragte der Regierung rief mit vorgetäuschtem Mut seine Truppen zusammen:

      »Okay, ihr habt keinen Gottesdienst! Ich möchte, dass morgen um elf alle hier erscheinen, in dieser Loggia oder meinetwegen davor! Wir haben viel zu tun, und ich glaube, es ist am besten, sofort zu beginnen. Morgen um elf. Und – danke für den Empfang. Ich weiß, dass wir gut zusammenarbeiten werden. Gute Nacht.«

      Die Kolonne begann augenblicklich auseinanderzugehen, begleitet von kurzen, dahingemurmelten Abschiedsgrüßen.

      »Wo schlafe ich?«, fragte Siniša Tonino.

      »Bei mir, wie ich schon gesagt habe.«

      »Führ mich hin, mein Vergil.«

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      Das Krähen eines Hahns weckte ihn auf. Erschrocken setzte er sich im Bett auf, für kurze Zeit überzeugt, dass er noch immer in dem Häuschen in Dubrava war. Geblendet von dem Licht, das durch das Fenster fiel, zog er vorsichtig die Augenlider hoch: Zusammengewürfelte Möbelstücke und uneben verputzte, frisch gestrichene Wände verkündeten mit stummer Boshaftigkeit: »Nein, nein, Meister, das hier ist nicht Dubrava …«

      »Mein Gott, warum nur ist es nicht Dubrava«, stöhnte er und zog sich die Decke über den Kopf. Die nächste halbe Stunde wälzte er sich in dem weichen, durchgelegenen Bett von der einen auf die andere Seite und versuchte, in halb wachem Zustand, wenigstens die erste Ecke des Puzzles zusammenzufügen. Gestern Abend war er wie hypnotisiert gewesen, da er sich auf den Kampf mit dem »wahren Siniša« hatte konzentrieren müssen. Er war die Hauptstraße entlang gegangen, und dann hatte ihn Tonino durch die sich dahinschlängelnden Gassen hierher geführt, in dieses Zimmerchen in der ersten Etage. Er hatte nur seine Hose und die Socken ausgezogen, sich unter die kalte Daunendecke verkrochen und – die Versammlung!

      Für