Wolfgang Mock
Der Mitläufer
Sämtliche Figuren und Handlungen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Dittrich Verlag ist ein Imprint
der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2019
Lektorat: Markus Lorenz
Satz: Gaja Busch
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch
Printed in Germany
ISBN 978-3-947373-43-7
eISBN 978-3-947373-48-2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten, es war ein Zeitalter voller Weisheit und eines des Irrsinns, es war eine Epoche des Glaubens und eine Epoche der Skepsis, es war eine Jahreszeit des Lichts und zugleich eine der Dunkelheit, es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung.
Charles Dickens, Eine Geschichte aus zwei Städten
Da lag man, zwanzig Jahre alt, halbnackt im Freibad, ließ sich von der Sonne bescheinen, rauchte Peter Stuyvesant, schaute die Mädchen an, las – und wusste ohne jede Anfechtung durch einen Zweifel, dass die Welt vollkommen in Unordnung ist.
Michael Rutschky, Erinnerungen an die Gesellschaftskritik
Für Ines
Inhalt
Auf der Suche nach mehr Leichtigkeit
Die Revolution kommt in die Stadt
Dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen
Ein nicht besonders empfehlenswertes chinesisches Restaurant
»Das Fleisch ist trostlos, ach, und ich hab alle Bücher gelesen«
Prolog
Die Welt brannte. Und ich mit. Vor Zuversicht. Die Welt, so sah es aus, war im Begriff sich neu zu erfinden. Aufregende Zeiten. Baader war gerade von Ensslin und Meinhof aus der Haft befreit worden, die RAF überfiel Banken, warf Bomben und machte täglich von sich reden. Mich faszinierte das. Mein Vater sagte: »Wir stehen am Abgrund.« Dann fragte ich ihn, ob er das 1933 auch gesagt habe. Was zwangsweise im Streit endete. Ich lachte ihn aus und schrieb mich an der Uni ein.
Und abends ging ich ins Creamcheese.
Da ging man hin, wenn man ganz vorn mitschwimmen wollte und einigermaßen gut aussah. Eine echte Hürde war noch der ganz in Leder gekleidete Türsteher. Aber dann. Kilometerlange Theke mit Spiegellamellen an der Thekenwand, tief im Raum eine erhöhte Tanzfläche. Projektionen an den Wänden, flackernde Stroboblitze, eine Wand von Fernsehgeräten, auf denen Bilder von der Tanzfläche und aus dem Creamcheese liefen. Ein Inferno. Nicht nur einmal mussten sie jemanden halb ausgeknockt zum Abkühlen auf die Straße stellen. Meistens Frauen. Was natürlich auch am Qualm der fetten Joints gelegen haben mag, den auch ich nicht wirklich gut vertrug. Wenn man zwischen zwei solcher Joints an der Bar saß, musste man echt aufpassen, nicht vor lauter Albernheit vom Hocker zu fallen. Dazu lief Can, gern vor allem Tago Mago, oder Atomic Rooster, Birth Control, ansonsten musste ich passen, viele der Platten kannte ich einfach nicht. Wildes Zeug.
Oft hing der Qualm im Creamcheese so tief, dass man von den Tänzern die Oberkörper kaum mehr sah. Wenn dann noch die Frau hinter der Theke hin- und herlief, ich meine, sie hieß Mora, und über die Spiegel hinter der Bar flatterte, dann sorgte ich mich manchmal schon, ob ich das alles heil überstehen würde.
Da kam dann A Day in the Life von den Beatles ganz recht, das der DJ am Ende des Abends auflegte, eine Art Rausschmeißer. Manches Mal war das eine kleine Erlösung.
Ab und zu endete so ein Abend auch mit einer Überraschung. Gerade tönten noch die letzten schrillen Akkorde von A Day in the Life aus den Lautsprechern, da war aus Richtung Tür der Ruf »Bullen« zu hören. Von innen schien jemand die Tür zuzuhalten, während es weiter hinten etwas hektischer wurde und ein paar Tütchen mit Gras oder Haschisch in die dunklen Ecken flogen. Benebelt, wie ich war, dachte ich, es sei ein eher freundschaftliches Gerangel, bis die Polizisten an der Bar und an der Tanzfläche auftauchten, Taschen durchwühlten und sich die Ausweise zeigen ließen.
Ich hatte keinen dabei. Nicht einmal meinen neuen Studentenausweis.
Die mit Ausweisen konnten gehen, die ohne wurden im Gänsemarsch zur Wache gebracht, die nur ein paar Schritte entfernt lag. Schweigend lief ich neben einem Typ in Jeans und schwarzer Jacke her, kurze Haare, Bart um Kinn und Oberlippe. Er fiel schon ein bisschen ab, verglichen mit mir: weiße Hose, Plateausohlen und die ausrangierte Persianerjacke meiner Großmutter.
Auf der Wache hockten wir uns auf die verfügbaren Bänke, der Typ mit dem Bärtchen setzte sich neben mich und zog ein zerlesenes rotes Suhrkamp-Bändchen mit Gedichten aus der Tasche. Ich schaute ein paarmal unauffällig zu ihm rüber, bis ich den Titel entziffern konnte: Die Verteidigung der Wölfe von Enzensberger.
Ich holte mein Zigarettenetui hervor, steckte mir eine Zigarette in den