Wolfgang Mock

Der Mitläufer


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war es ihr egal, wenn sie ihren Körper und ihr Gesicht im Morgenlicht sahen. Sie brauchte ihre Gesellschaft.

      Meta sah auf die Uhr: kurz nach zehn, es wurde Zeit. Mit Schwung zog sie die Vorhänge zur Seite. Geblendet von der Sonne, richtete sich der Junge auf und hielt sich die Hände vor die Augen.

      »Ich muss los«, sagte Meta.

      »So früh?«

      »Eine Beerdigung.« Sie ging ins Bad.

      Als sie zurückkam, war er so gut wie angezogen, lächelte sie an.

      »Sehr schlimm?«

      »Mein Mann«, sagte sie gedankenverloren. »Ist ewig her.«

      Fast vierzig Jahre. Sie hatte sich von Alexander scheiden lassen, kurz nachdem sie aus der Wohngemeinschaft ausgezogen war und die Stadt verlassen hatte. Sie spürte noch heute, wie Doris und Frank sie zum Abschied umarmten. Gelitten hatte sie, gelitten wie ein Hund. Dabei war sie nur sechs Jahre mit Alexander verheiratet gewesen.

      In den vergangenen Wochen war das alles wieder nah gewesen, diese gemeinsame Zeit mit Alexander und die Jahre in der Wohngemeinschaft. Sie hatten sich in seinen letzten Monaten um ihn gekümmert, weniger aus Sentimentalität, eher aus einer Selbstverständlichkeit heraus. Sie hatten alle mit ihm zusammengelebt.

      »Tut mir leid, dass ich gefragt habe«, sagte der Junge, »ich verschwinde besser.«

      »Für einen Saft ist Zeit.« Was sie nicht gesagt hätte, wenn sie nicht einen Stich, eine plötzliche Angst vor der Einsamkeit gespürt hätte. Die sie aber schnell unterdrückte. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und stellte sich vor die verspiegelte Tür. Die Sonne fiel auf ihren Körper, kein einziges Körperhaar, sie hatte diese dicken, dunklen Haare immer gehasst, ausgezupft und weggewachst, sobald eins auftauchte. Zweimal hatte sie sich ihre Brüste machen lassen, die Haut schien dort etwas glänzender und straffer als am Körper, aber das war auch alles, keine Narben.

      Super, sagte sie sich, sah die kleine weiße Ecke hinter dem Spiegel hervorlugen und zog mit den Fingernägeln ein altes Bild hervor, mehr als postkartengroß. Jahre mussten vergangen sein, seit sie dies Bild zum letzten Mal in der Hand gehalten hatte. Es war eine Nachstellung des Frühstücks im Grünen von Manet. Frank und Alexander angezogen im Vordergrund, vor ihnen, im Zentrum und völlig nackt, Chrissie, die Augen fest auf den Betrachter gerichtet; im Hintergrund, in einem kleinen See, ebenfalls so gut wie nackt, sie selbst und Doris. Es stammte aus den ersten Monaten ihrer Zeit in der Wohngemeinschaft.

      Vor Jahren noch hatte sie sich das Bild häufiger angesehen, eine eigenartige Kraft ging von ihm aus. Es zeigte einen Aufbruch und ein Ende zugleich. Frühling vielleicht. Doch wie sie jetzt so dastand in der Morgensonne und ihren gebräunten Körper im Spiegel betrachtete, überfiel sie das peinigende Gefühl von Herbst, von Vergänglichkeit. Aus und vorbei. Herbst eben. Sie wusste es nicht anders zu beschreiben. Alexander war tot. Der Erste von ihnen.

      Als sie in die Küche kam, presste der Junge gerade den zweiten Saft. Sie sah sofort, dass er sich Alexanders Todesanzeige angesehen hatte, die auf dem Küchentisch lag. Sie setzte sich in ihrem Kostüm an den Tisch, spielte nachdenklich mit der schwarz geränderten Karte.

      »Wir waren Studenten«, sagte sie und ärgerte sich, dass sie dem Jungen das erzählte.

      »Achtundsechziger und so?«

      »Ein bisschen später.«

      »1977? Deutscher Herbst?«

      Das hat er sich angelesen, dachte Meta und nickte zögernd.

      Neugierig blickte er sie an. »Muss spannend gewesen sein, die Zeit damals. Was man so hört.«

      »Wo hört man das denn?«

      »Grundkurs Zeitgeschichte an der Uni. Ich will nicht als DJ enden.«

      So begegnet man seiner eigenen Vergangenheit. Ihre Hand mit der Karte zitterte leicht. Plötzlich wollte sie ihn loswerden.

      Bevor sie in ihren Mini stieg, klappte sie das Verdeck hoch. Ihre Haare würden völlig ruiniert sein, wenn sie am Friedhof ankam, dachte sie, aber sie brauchte Luft, ihr war eng um die Brust geworden. Wer wohl da sein würde, auf der Beerdigung? Alle, die zählten. Da war sie sich sicher. Eine plötzliche Aufregung ließ sie im warmen Fahrtwind frösteln.

      Nach all den Jahren

      Auch Chrissie fröstelte trotz brütender Hitze. Sie stand am Fenster und suchte nach dem Wort für die Farbe des Himmels. Es lag ihr auf der Zunge, nein, eigentlich lag ihr überhaupt nichts auf der Zunge. Ihr Kopf war völlig leer und sie bekam es mit der Angst zu tun. Dann die Erlösung. Schweflig. Schweflig, das hatte sie gesucht. Sie waren ihr aufgefallen in letzter Zeit, diese Wortfindungsprobleme. Bei Stress vor allem. Aber sie verdrängte das schnell. Der Himmel sah wirklich schwefelig aus. Trotz Willy Brandts Diktum »Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden«. Der Spruch hatte lange über ihrem Schreibtisch gehangen. Und es wurde auch besser, jetzt hatten die Schatten wieder scharfe Konturen. Ein bisschen auch wegen Brandt war sie ins Ruhrgebiet gegangen. Sie wollte beim Strukturwandel dabei sein, Unternehmen beraten, den Himmel etwas blauer machen. Es lief nicht so gut wie geplant, zumal in den letzten Jahren, aber sie hatte sich eingerichtet, ein paar große Namen waren unter ihren Klienten wie Ford, RWE und Opel, doch von ihren einst sechs Angestellten blieben nur einer und zwei Halbtags-Assistentinnen übrig.

      Wahrscheinlich, sagte sich Chrissie, war es auch nur ihre Unruhe, die den Himmel heute so schwefelig aussehen ließ.

      Die Todesanzeige lag auf dem Schreibtisch unter einem faustgroßen Glasdiamanten. Sie ließ die Jalousien herunter, zu grell war das Sonnenlicht. Aber es half nichts, sie konnte sich nicht konzentrieren, zwei Projekte, jede Menge Arbeit lagen vor ihr, doch es ging nicht.

      Chrissie zog die Karte unter dem Glasdiamanten hervor. Sie war der Schlussstrich unter den letzten Monaten, als sie sich um Alexander gekümmert hatten und sich zeitweise so nah waren wie vor fast vier Jahrzehnten.

      »Das Leben ist eine ewige Gegenwart.« Das hatte Meta gern gesagt. Für ein paar Jahre schien ihr das richtig, damals, als sie so gut wie unsterblich waren, da hätte sie diesen Satz unterschrieben. Auch danach noch, als sie die Wohngemeinschaft verließ. Bis sie Nicki, ihr zweites Kind, verlor, kurz nach der Geburt. Danach war Schluss mit Unsterblichkeit.

      Chrissie räumte die Seminarkonzepte und Tabellen zur Seite, blickte auf die Uhr, etwas Zeit war noch.

      Die Beerdigung würde der endgültige Abschied von Alexander sein. Fast ein halbes Jahr hatte sich dieser Abschied hingezogen. Ihr war dabei eine unerwartete Rolle zugefallen und sie war sich überrumpelt vorgekommen.

      Sie sah die junge Frau noch vor sich, wie sie in ihrem Büro aufgetaucht und unangekündigt in ein Meeting geplatzt war. Sie hatte sie bitten müssen zu warten, spürte aber, dass sie nicht mehr bei der Sache war, und beendete das Meeting schnell.

      »Chloe«, sagte die Frau, als Chrissie aus dem Besprechungszimmer kam, und, als Chrissie nicht reagierte: »Chloe. Alexanders Tochter«. Blond, schlank, modisch gekleidet, die Beine übereinandergeschlagen, etwas Unberechenbares lag in ihren Augen, unterdrückte Aggressivität ging von ihr aus. Alexander, erzählte sie, gehe es sehr schlecht, ein rapide zunehmendes Lungenversagen, er könne das Bett kaum noch verlassen, wolle aber um keinen Preis ins Krankenhaus. Ob sie, Chrissie, und die anderen Alexander denn mal besuchen würden? Er würde sich freuen, auch wenn er es nicht zeigte.

      Nach all den Jahren. Einfach so. »Hast du schon mit den anderen gesprochen?«, erkundigte sie sich nach einer Weile, während der sie einander betrachtet hatten, Chloe mit einer Kälte, die schon unhöflich wirkte. Sie will nicht als Bittstellerin kommen, vermutete Chrissie.

      »Nein. Wie ich meinen Vater verstanden habe, bist du damals als Erste aus der Wohngemeinschaft ausgezogen. Ich dachte mir, wenn du zusagst, können Meta und die anderen nicht ablehnen.« Mit Meta war Alexander immerhin verheiratet gewesen.

      So hatte sie zugestimmt, obwohl noch der Moment kam, als sie fast ihre Zusage zurückgenommen hätte.