Wolfgang Mock

Der Mitläufer


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flog es in hohem Bogen auf den Parkettboden und schlitterte unter die Kommode, knallte vor die Fußleiste und schwieg. Sie fluchte, Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie riss einen Kleiderbügel aus dem Schrank und stocherte unter der Kommode nach dem Gerät. Als sie aufstand, sah sie im Spiegel, dass der Ärmel ihrer schwarzen Kostümjacke grau vom Staub des Fußbodens war. Mit einem Schluchzen warf sie sich aufs Bett und starrte auf das Display. Ihr in vier, fünf Teile zersplittertes Gesicht schaute zurück. Ohne Erfolg fingerte sie auf der Tastatur herum. Das Handy blieb still. Eine leichte Übelkeit ergriff sie.

      Mit einem Ruck setzte sie sich auf, feuchtete ein Handtuch an, hielt es vor ihre geröteten Augen und wischte die Staubflusen von ihrer Jacke. Wobei ihr Blick auf das Foto fiel, das hinter dem Spiegel steckte. Le Déjeuner sur lherbe – in dem Wäldchen mit dem kleinen See, Frühstück im Grünen. Es war ein fröhlicher Tag, eine angenehme Spannung hatte sie in Bann geschlagen, wie sie nackt an dem See posierten.

      Wie unkompliziert hatte damals alles ausgesehen. Da war auch Frank noch nicht so unzugänglich gewesen. Nicht, dass sie voller Hoffnungen waren, sie brauchten gar nichts zu hoffen, es war alles da, lag ausgebreitet vor ihnen. Unendliche Möglichkeiten. Es ging nur darum, die richtige auszuwählen. Vor einigen Tagen noch hatte sie einen Satz gelesen, wenngleich sie nicht mehr wusste wo, der ihr nicht aus dem Kopf ging. »Man stellt nicht viele Fragen in der Jugend, man vertraut dem Leben.« Sicher Camus, dachte sie. Wie glatt ihre Haut war. Selbst auf der schlechten Kopie sah man das.

      Sie blickte auf die Uhr und fragte sich, was sie auf der Beerdigung erwarten würde. Ablenkung. Zumindest Ablenkung. Und für einen Augenblick, als sie schon in ihrem Fiat saß und Richtung Düsseldorf fuhr, kam ihr der Gedanke, dass es doch schreckliche Zeiten sein mussten, wenn man, um sich abzulenken, auf eine Beerdigung ging. Aber vielleicht würde sie wenigstens für ein paar Stunden etwas von der Leichtigkeit wiederfinden, die ihr Leben hatte, als es noch vor ihr lag.

       In A Gadda Da Vida

      Alexander hatte seine Ankündigung wahrgemacht. Das hörte Meta sofort. Von fern schon klang Musik herüber, Iron Butterfly. In A Gadda Da Vida. Fast fünfzig Jahre her. Kurz ertappte sich Meta bei dem Gedanken, dass das eigentlich ihre Platte war, die sie Alexander damals bei ihrem Auszug zurückgelassen hatte. Ihr gefiel der Gedanke von Großzügigkeit, doch je länger sie sich zu erinnern versuchte, umso unwahrscheinlicher kam ihr das vor. Es waren keine großzügigen Zeiten gewesen, damals. Ganz sicher nicht bei Platten.

      Der Friedhof erinnerte sie an die Weiden in Mallorca im Spätsommer – verdorrtes Gras, braune, geknickte Halme, staubtrockene Erde. Ihr Gefühl sagte ihr, dass die Musik bald zu Ende sein würde. Sie lief zwischen den Gräbern hindurch in Richtung Kapelle. Mit den letzten Gitarrenriffs erreichte sie das kleine Gebäude, als Letzte, wie es aussah. In dem Raum war kein Stuhl unbesetzt, gut vierzig Menschen, schätzte sie. Vorn, neben Vasen voll weißer Callas, der Sarg, schwarzes Holz. Sie lehnte sich an die Rückwand der Kapelle, nicht weit entfernt von einem Mann unbestimmbaren Alters, leicht gebeugt, große Tränensäcke unter den Augen, der Kopf rasiert, grau schimmernd, fast ein bisschen räudig. Was es nur war, dass sie glauben ließ, sie kenne ihn?

      Der Geistliche hatte mit seiner Andacht begonnen. Als er zum zweiten Mal ein »Liebe Freunde von Alexander« einschob, hörte Meta nicht mehr hin. Es war so schwül in der Kapelle, dass sie fürchtete, das Ende der Andacht nicht zu überstehen. Der Mann mit den Tränensäcken kam ein paar Schritte näher, griff hinter einen Vorhang und holte einen kleinen Hocker hervor, den er neben sie stellte. Die Blöße würde sie sich nicht geben.

      »Danke, es geht.« Sie schüttelte den Kopf.

      Jetzt zwinkerte er ihr zu, »vielleicht später«.

      Metas Blick wanderte durch die Kapelle, graue Köpfe in den vorderen Reihen, nur die Frauen mit eingefärbtem Blond, Rot, vermutlich Romy, oder Schwarz, wer immer das sein mochte. Den meisten Männern war kaum mehr geblieben als ein schmaler Kranz von Haaren. Einige hatten auch den noch abrasiert. Aus einem unerfindlichen Grund musste sie an Beete denken, als sie die Köpfe vor sich sah, Beete im Winter. Die meisten Männer hatten ihr Jackett ausgezogen, ihre Hemden klebten an den gebeugten Rücken. In der ersten Reihe erkannte sie Thomas und Romy, die Oberkörper voneinander weggebogen. Wenn es mit den beiden so lange gut gegangen war, der Gedanke kam ihr, hätte es eigentlich auch noch bis zum Ende gut gehen können.

      Vorn am Gang, der von der offenstehenden Pforte der Kapelle geradewegs zum Sarg führte, sah Meta eine junge Frau sitzen. Die Einzige, die deutlich unter fünfzig war in den vorderen Reihen. Sie trug ein schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern, über den nackten Schultern ein kurzes, transparentes Cape aus Gaze, das wohl weniger ihre nackten Schultern in der Kapelle verdecken als vielmehr ihre auffällig weiße Haut vor der Sonne schützen sollte. Die Haare waren kurz und weißblond. Chloe, vermutete sie, Alexanders Tochter.

      Plötzlich spürte sie den Blick des Mannes neben ihr, so als belauere er sie. Er zeigte auf den Hocker, wieder das Zwinkern, aber sie schüttelte den Kopf.

      Sie suchte ihre Brille und setzte sie auf. In der vordersten Reihe erkannte sie Frank. Und unversehens war sie froh, hier zu sein, mit all den anderen. Sie, die immer einen Bogen um Beerdigungen machte.

      Sie spürte, wie die Hand des Mannes ihren Arm hielt, als sie langsam auf den Hocker sank. »Die Hitze«, murmelte sie, »das geht gleich vorbei.« Und wieder dieses Gefühl, dass er in ihrem Leben schon einmal eine Rolle gespielt hatte. Als sie aufblickte, war er nicht mehr da. Als wollte er verschwunden sein, bevor sie sich erinnerte.

      Viel Zeit, um sich zu erholen, blieb Meta nicht, genau fünf vor zwölf war die Andacht zu Ende, die Trauergäste erhoben sich. Sechs Männer gingen nach vorn, schulterten den Sarg, koordinierten mit ein paar Tripplern ihre Schritte und verließen die Kapelle leicht schwankend durch den Mittelgang.

      Frank war einer der Träger. Die anderen waren wesentlich jünger – Schüler von Alexander, vermutete sie. Franks kahler Kopf glänzte, sein Gesicht war schweißüberströmt. Oder waren es Tränen? Er nickte, als er auf ihrer Höhe war. Sie lächelte zurück.

      Als Erste folgte das Mädchen mit dem Gaze-Cape dem Sarg. Kaum war sie aus der Kapelle getreten, spannte sie einen kleinen Schirm gegen die Sonne auf. Meta wartete, während die Trauernden blinzelnd ins Freie strömten. Als Romy und Thomas an ihr vorbeikamen, gesellte sie sich zu ihnen, drückte beiden die Hand, woraufhin Romy sie zwischen sich und Thomas zog.

      Kurz bevor sie die Kapelle verließ, drehte sich Meta nach dem Mann um, der ihr den Hocker angeboten hatte, doch er blieb verschwunden. Nur der Hocker stand verlassen an der Wand, wie zum Beweis, dass Meta nicht geträumt hatte.

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      Den Anzug, das war mir klar, als wir mit dem Sarg aus dem schützenden Dunkel der Kapelle in die Sonne traten, den Anzug konnte ich vergessen. Meine rechte Schulter, auf der das gesamte Gewicht des Sargs zu ruhen schien, schmerzte höllisch, der Schmerz zog schon ins Rückgrat. Schweißgebadet war ich, der Verzweiflung nahe. Sicher war ich der Älteste unter den Sargträgern. Aber ich wollte ihn mittragen. Um etwas gut zu machen, eine Schuld abzutragen. Abtragen, das passte. Ich kam mir bestraft vor. Mein Fahrrad gestohlen, jetzt würde auch noch mein Lieblingsanzug dran glauben, schlank geschnitten, ein Ansatz von Keitel in Reservoir Dogs. Eine Reinigung würde auch nicht mehr viel retten.

      Hinter uns ging Chloe mit ihrem Sonnenschirmchen. Gesehen hatte ich sie heute zum ersten Mal. Ich musste mich zwingen, mich nicht umzudrehen, was ohnehin unmöglich war mit dem Sarg auf der Schulter. Stolpern wäre das Letzte. Chrissie hatte erzählt, wie sie bei ihr aufgetaucht war. Alexander hatte nur selten von ihr gesprochen, manchmal sogar den Eindruck erweckt, er sei enttäuscht von ihr. Wenn ich zur Seite sah, konnte ich immerhin ihren Schatten mit dem bei jedem Schritt wippenden Schirmchen sehen.

      Über dem ausgehobenen Grab stand ein schmales Gerüst, auf dem wir, mit Hilfe mehrerer besorgt blickender, wohl zum Friedhofspersonal zählender Sargträger, den Sarg absetzten. Mein Atem ging schwer, die Sonne stach mir in den Schädel. Das Fahrrad war so gut wie neu gewesen, custom