Wolfgang Mock

Der Mitläufer


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Schatten über uns, ein Polizist riss mir die Zigarette aus dem Mund und das Etui aus der Hand. Ich schoss in die Höhe, der Typ neben mir fiel mir in den Arm, bevor ich zuschlagen konnte, drückte mich wieder auf den Sitz. Unversehens war es still geworden in der Wache. Alle schauten zu uns herüber.

      »Der reine Bullenterror«, sagte eine Stimme in die Stille hinein.

      Der Polizist stand vor uns und schien darauf zu warten, dass ich mich doch hinreißen ließe, aber der Typ, der um einiges kräftiger war als ich, hielt mich fest, bis der Polizist zurück zu seinen Kollegen ging.

      »Danke«, sagte ich und zog meine Persianerjacke aus. Ich zitterte vor Wut. Wortlos hob ich den Enzensberger-Band auf, der runtergefallen war, und blätterte ihn durch.

      »Lyrik ist so gar nicht mein Ding.«

      »Beruhigt aber«, gab er zurück. Leicht von oben herab, wie ich fand.

      Ich betrachtete den zerfledderten Band.

      »So sieht bei mir zu Hause das Kommunistische Manifest aus«, sagte ich. Er schaute mich an, mit seinem Bart sah er schon nach Landei aus. Und das mit dem Kommunistischen Manifest schien ihn zu schockieren. Ich grinste.

      »Wir haben einen Hund. Der liebt das Buch.«

      Verunsichert hatte ich ihn schon.

      »Frank«, sagte ich nach einer Weile.

      »Alexander«, antwortete er und reichte mir die Hand. Also doch ein Landei.

      Klar, dass sie uns stundenlang warten ließen. Steckten Betrunkene in Ausnüchterungszellen, nahmen Anzeigen von Bestohlenen auf, ein Auge dabei immer in unsere Richtung. Zwischendurch notierten sie unsere Namen, dann wieder nichts.

      So gegen drei Uhr, als die Ersten von uns aneinandergelehnt eingeschlafen waren, bauten sich zwei Polizisten vor uns auf. »Kann Sie jemand abholen und Ihre Identität bestätigen?«

      Ich sah, wie Alexander den Kopf schüttelte, und sagte schnell: »Ja, klar, meine Mutter. Sie kennt dich doch auch.« Und gab dem Polizisten unsere Telefonnummer. Mein Vater, welch ein Glück, war auf Dienstreise.

      Eine halbe Stunde später tauchte meine Mutter auf, in ein schwarzes Cape gehüllt, die Locken einwandfrei; unfrisiert verließ sie nie das Haus. Trotzdem sah man ihr an, dass halb vier Uhr morgens nicht ihre bevorzugte Zeit war. Sie hatte uns sofort gesehen, ich zeigte auf den Typ neben mir und sagte: »Alexander kennst du ja.« Sie verdrehte die Augen, reichte einem der Polizisten ihren Ausweis, schob das Kinn in Richtung Alexander und sagte: »Den nehmen wir auch mit.«

      »Sie kennen ihn?«

      »Seit ewig.«

      Der Polizist reichte ihr mein Zigarettenetui und den Ausweis und straffte sich. »Wir haben die beiden in einem Lokal aufgegriffen, in dem, wie wir vermuten, mit Drogen gehandelt wird. Nimmt Ihr Sohn Drogen«?

      »Soweit ich weiß, nicht«, sagte meine Mutter, laut genug, dass es alle hören konnten, »aber das kommt sicher noch. Es wäre der erste Blödsinn, dem er aus dem Weg ginge.«

      Als wir die Wache verließen, wandte ich mich noch einmal um. Irgendwann würde ich denen allen den Arsch aufreißen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Und ich sah das Bild von Ulrike Meinhof vor mir und das von Andreas Baader.

      Schließlich standen wir in der frischen Nachtluft vor dem VW Käfer meiner Mutter.

      »Lass uns Kontakt halten. Ich fange in diesem Semester hier an der Uni an«, sagte Alexander.

      »Das passt. Ich auch.«

      Er gab meiner Mutter die Hand. »Danke.«

      Wir stiegen in den VW und fuhren los, ich sah ihn im Rückspiegel unschlüssig auf der Straße stehen, rief »Halt mal!«, und meine Mutter trat mit einem »Dachte schon, du lässt ihn mit Absicht auf der Straße stehen« auf die Bremse. Ich sprang raus.

      »Wo musst du eigentlich hin?«

      »Nach Benrath.«

      »Ja dann.« Ich zeigte auf den Rücksitz.

      Alexander stieg ein.

      Achtundsechziger und so

      Das unnatürlich schwüle Hoch hing seit Tagen wie eine Glocke über der Republik, und ein Ende der Hitze war, glaubte man den Wetterpropheten, nicht abzusehen. Mal milchiger Himmel, mal ein, zwei Wolken, morgens vor allem Kondensstreifen. Am Tag über dreißig Grad, nachts kaum kühler.

      Mit geschlossenen Augen blieb Meta im Bett liegen, der Vorhang hielt die Mittagssonne aus dem Zimmer. Nur am Rand fiel etwas Licht in das Halbdunkel. Benommen schob sie den Arm des Jungen von ihrem Bauch.

      Die Menschen waren nicht zu halten bei diesem Wetter, holten alles aus den Tagen und Nächten raus. Sie sah ihnen dabei zu, es waren gute Nächte für sie, es wurde viel getrunken. Wer keinen Platz an einem Tisch fand, saß auf dem Bordstein oder einer Bierkiste. Wen der Alkohol lauter werden ließ, der wurde von den Gästen flüsternd zurechtgewiesen, um die Nachbarn, die hinter weit geöffneten Fenstern Schlaf suchten, nicht zu stören.

      Abend für Abend besuchte Meta mit dem Fahrrad ihre drei Lokale. Sie liebte es, wenn die Hitze des Tages aus dem Asphalt aufstieg; ihr war dann, als könne sie fliegen. Vielleicht nicht bis zu den Sternen, aber doch bis zu den Warnleuchten oben auf den Pfeilern der Rheinbrücken.

      Sie beobachtete ihre Kellnerinnen, die sich wie nachtaktive Echsen durch die Menschen schlängelten. Nur selten machte sie eine Bemerkung; es lief von selbst, nicht ohne Grund hatte sie in diesem Geschäft so lange überlebt. Und das besser als die meisten. Sie trank keinen Alkohol mehr, nur ab und zu rauchte sie mit Freunden ein wenig Gras. Espresso war die einzige Droge, die ihr geblieben war. Dafür machte sie jetzt regelmäßig Urlaub in der eigenen Sechs-Zimmer-Finca am Hang bei Selva. Vor Jahrzehnten hatte sie schon einmal am Fuß dieses Hangs gestanden und sich gedacht, es müsse schön sein, dort oben zu wohnen. Das war das Einzige, woran sie sich nach Wochen Alkohol und Sex auf Mallorca noch erinnern konnte. Daran und an Alexander, mit dem sie zusammen auf die Insel geflogen war und mit dem sie sich dauernd gestritten hatte.

      Sie hörte das leise Atmen des Jungen neben sich. Bisweilen verlangte die Hitze der Nacht ihren Tribut. Daran hatte das Alter nichts geändert. Jetzt kam noch dazu, dass sie die vergangenen Tage vergessen wollte, die Stunden an Alexanders Totenbett, die Angst auf Franks Gesicht.

      Sie hatte ihrem neuen DJ einen Gin Tonic hingestellt, dann noch einen und sich selbst Eiswürfel und Zitronenscheiben in ihren Sprudel getan, damit er aussah wie Gin Tonic. Aber er war nicht mehr so grün, wie sie vermutet hatte. In letzter Zeit vertat sie sich häufiger mal.

      »Willst du mich betrunken manchen?«, fragte er.

      »Nicht völlig.«

      »Kannst du auch preiswerter haben.«

      »Kostet mich ohnehin nichts hier.«

      Er verstand, die Verhältnisse waren klar.

      Er klappte seinen Laptop zu, im Osten wurde der Himmel bereits heller, sie schlossen ihre Fahrräder auf. Mitten auf der Brücke, über dem dunklen Fluss, hielt sie an und starrte nach unten. »Seltsam, nicht wahr?« Ein pulsierender Schimmer schien vom Fluss aufzusteigen.

      Es war wirklich seltsam. Alexander hatte sie oft nachts abgeholt, wenn sie in einer der Kneipen auf der anderen Rheinseite gearbeitet hatte. Und immer verlangsamten sich ihre Schritte zur Mitte der Brücke hin. »Das ist der Fluss unserer Erinnerungen«, hatte Alexander gesagt, und seitdem musste sie an diesen Satz denken, wenn sie über die Brücke kam.

      »Irgendwelche Spielregeln?«, wollte er wissen, als sie in ihrer Wohnung waren und er sich das durchgeschwitzte T-Shirt auszog.

      »Warum fragst du?«

      »Ich bin Grieche.«

      Sie lachte. »Und ich über sechzig.«

      »Unglaublich«, sagte er, als sie unter der Dusche standen.