Wolfgang Mock

Der Mitläufer


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Ich straffte mich, stützte mich kurz am Sarg ab, trat dann mit den anderen zurück und reihte mich in der vordersten Reihe der Trauernden ein. Das Friedhofspersonal zog dicke Taue unter dem Sarg hindurch und seilte ihn hinab in die Grube.

      Ich war wirklich nicht mehr ganz bei mir. Die Sonne zerkochte mir den Kopf. Aber mag sein, dass es weniger die Sonne war als eher die plötzliche Entlastung, dass nun all das mit Alexander ein Ende hatte, die Besuche, die letzten Tage, sein Sterben, die Ungewissheit, bis die Leiche endlich freigegeben wurde. All das war jetzt mit ihm in die Grube gefahren.

      Langsam ging es mir besser, deutlich besser. Crêpe de Chine, dachte ich, als ich Chloe auf der gegenüberliegenden Seite des Grabes stehen sah, vielleicht noch Crêpe de Georgette, unglaublich, ich spürte diesen Teufelstanz des Blutes zwischen den Beinen, dass mir ein bisschen angst wurde, dass jemand etwas merken könnte. Aber sicher ging es den anderen Männern genauso. Ich blickte zur Seite, sah in die glasigen Augen eines vielleicht Vierzigjährigen, vermutlich ein ehemaliger Schüler von Alexander, und wusste, dass ich mit meiner Vermutung so falsch nicht lag.

      Chloe war an das offene Grab getreten, hatte sich leicht nach vorn gebeugt, um die Schaufel zu greifen. Der Stoff des Kleides, Crêpe de Chine oder eben Crêpe de Georgette, floss wie Öl um ihren Körper, jede Bewegung, jedes Muskelzucken bildete er ab, gab ihm zusätzlich Kontur. Als sie das rechte Bein leicht beugte, um an die Schaufel zu gelangen, bemerkte ich, wie ihre rechte Pobacke unter der Muskelanspannung leicht zitterte. Gebannt starrte ich auf ihren Hintern, die Trauernden waren in eine andächtige Stille verfallen. Ich suchte nach den Konturen ihres Slips, fand keine, bemerkte schließlich die kaum sich abzeichnende Kerbe. Es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung, nicht die Hand auszustrecken.

      Crêpe de Chine, dachte ich, um mich zu beruhigen, Crêpe de Georgette, vielleicht.

      Auf eine alberne Art macht mich das stolz, dass mir der Name des Stoffs einfiel, wenngleich nicht zweifelsfrei, aber immerhin. Im Büro vergaß ich bisweilen sogar den Namen meiner Assistentinnen. Diejenigen, die mich besser kannten, vertraten in dieser Sache übereinstimmend die Ansicht, dass das weniger Signal einer sich anschleichenden Demenz war, sondern eher Zeichen meines vollständigen Desinteresses an der Person. Manch einer im Verlag war, so hörte ich, auch dankbar, wenn ich mich nicht an seinen Namen erinnerte.

      Ich spürte, wie der durchgeschwitzte Stoff an meinem Körper klebte, als Chloe die Erde auf den Sarg warf, sich aufrichtete, zur Seite trat und sich neben das offene Grab stellte, wo einer der Friedhofsmitarbeiter ihr Sonnenschirmchen in die Erde gesteckt hatte. Vielleicht, um ihr zu signalisieren, wo sie zu stehen habe, war der Sarg erst einmal in der Erde.

      »Mach du den Anfang«, wisperte mir jemand ins Ohr. Ich kniff kurz die Augen zusammen, trat vor und nahm die Schaufel. Mit auffallend hohlem Ton landete die Erde auf dem Sarg, ich hatte wohl einen festen Klumpen erwischt. Ich ging zu Chloe, die mich mit aufgespanntem Schirm und kühlen Augen musterte, gab ihr die Hand und kondolierte.

      Doris hatte gezögert, sich in die Schlange der Kondolierenden einzureihen, bis sie Romy entdeckte und sich zu ihr gesellte.

      »Entsetzlich«, sagte Romy unvermittelt, »dieses Ausfransen am Ende eines Lebens.«

      Doris schwieg, unsicher, ob sie Alexanders Wochen dauerndes Ende meinte oder ihre Trennung von Thomas.

      »Wenigstens liegen wir im Trend, die Scheidungen älterer Ehepaare nehmen sprunghaft zu. Habe ich vorgestern noch in der Zeitung gelesen.« Romy lachte trocken. »Was nicht drin stand, war, was man dabei durchmacht. Oft bin ich völlig glücklich, ebenso oft habe ich vor allem eins – Angst. Ich wäre froh, wenn es anders gekommen wäre. Aber es gibt keinen Weg zurück.« Sie starrte auf das trockene Gras unter ihren Füßen, während sich die Menschenschlange langsam in Richtung Grab bewegte und sie dem Schirmchen näher kamen. »Aber was beklage ich mich.«

      Sie sah Doris an. »Wie geht es dir?«

      »Es geht.« Doris betete, dass Romy nicht auf Jens zu sprechen käme.

      Was nicht geschah. Dafür legte Romy ihr den Arm um die Schultern und sagte: »Wir halten durch.« Was Doris mit einem Nicken quittierte.

      Sie kondolierten Chloe. Doris bemerkte, wie Romy ihre Hand ein wenig länger als nötig hielt und ihr mit dem Handrücken über die Wange fuhr, was Chloe, ohne Überraschung zu zeigen, geschehen ließ.

      Als sie sich umschauten, sah Doris Chrissie winken. Sie stand mit Frank und einigen anderen im Schatten einer riesigen Rosskastanie, deren Blätter in der Hitze und Trockenheit begannen, sich rotbraun zu färben. Träge fielen einzelne Blätter aus dem Laubdach.

      Als sie mit Romy näher trat, schob Thomas sich unauffällig in den Hintergrund. Einige andere hatten sich auch zu der Gruppe gesellt, Freunde von früher, Gesichter, die Doris erst erkannte, als die dazugehörigen Namen fielen. Dann ging es reihum mit den Umarmungen. Meta hielt Frank lange im Arm. Beide, fand Doris, wirkten erleichtert, mehr noch als alle anderen.

      Ganz anders, als Frank Chrissie umarmte. Er schaukelte sie glücklich in seinen Armen, der Schmerz von damals war fraglos vergessen. Als Doris sie so sah, fiel ihr auch wieder ein, dass beide damals miteinander verheiratet gewesen waren, bevor irgendein Liebhaber, den niemand je zu sehen bekommen hatte, dessen Existenz Chrissie aber auch nie geleugnet hatte, die Ehe beendete.

      Auch wenn sie Alexander im letzten halben Jahr regelmäßig besucht hatten, waren sie sich doch nur selten über den Weg gelaufen. Keiner, und das überraschte Doris jetzt, wie sie so vor ihr standen, hatte je den Vorschlag gemacht, etwas gemeinsam zu unternehmen. Dazu hatten die Besuche bei Alexander offenbar zu schwer auf ihnen gelastet.

      Immer mehr Trauernde suchten den Schatten und bildeten kleine Gruppen unter den Kastanien. Ein Forschen in alten Gesichtern setzte ein, die Suche nach dem, was geblieben war, irgendetwas, was die Erinnerung hätte wecken können, bisweilen tatsächlich ein lautstarkes Wiedererkennen.

      Einige, die sie nicht kannten, sammelten sich ebenfalls unter den Bäumen. Freunde, wie Doris hörte, vor allem aber Alexanders Schüler. Sie hatte sich aus dem Reigen der Umarmungen gelöst und beobachtete die Trauernden, von denen die ersten den Friedhof verließen. Noch immer bewegte sich das Schirmchen über Chloes Kopf, während sie die letzten Hände schüttelte. Dann sah Doris, wie ein älterer Mann mit haarlosem Schädel in gebeugter Haltung auf Chloe zuging. Hatte Chloe auf ihn gewartet? Er hielt ihre Hand, sprach eindringlich auf sie ein, es schien, als ärgere sie sich über ihn, ihr Kinn vorgereckt. Sie entfernten sich ein paar Schritte vom Grab. Von der Kapelle her kam ein heller, tragender Gesang, von dem sie nicht wusste, ob er noch zu Alexanders oder schon zur nächsten Beerdigung gehörte.

      Neben ihr waren Frank und Meta aufgetaucht, und Doris hörte gerade noch, wie Frank leise zu Meta sagte: »Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung«, und Meta wischte sich einen Träne von der Wange.

      »Als ob ich das je vergessen könnte …«

      »Von wem ist das?«, fragte Doris.

      »Klopstock, Messias, die erste Zeile. Wie oft hat Alexander mir daraus vorgelesen. Deshalb Meta. Weil Klopstock seine Frau so nannte.«

      »Und du«, wandte sich Doris an Frank, »… hast dir den Spruch heute Morgen noch schnell angelesen und auf einen passenden Moment gewartet, ihn loszuwerden. Habe ich Recht?« Sie sah Chrissie an, die neben Frank aufgetaucht war.

      »Ein gutes Gedächtnis hatte er schon immer. Er hat eigentlich nie etwas vergessen.«

      »Heißt: Ich bin nachtragend«, gab Frank zurück.

      »Und wie geht es dir sonst so?«, wollte Doris wissen.

      »Ich tue mich noch etwas schwer mit dem Älterwerden, bin da wohl nicht so lernfähig. Jedenfalls beschäftigt es mich Tag und Nacht. Es ist zum Kotzen.«

      »Aber was man so hört, bist du auf deine alten Tage nochmal auf dem Sprung nach oben.«

      Frank gab sich lässig, zu lässig, um überzeugend zu wirken.

      »Das bedeutet nur Stress, und irgendein Hampelmann nimmt sich dann vermutlich meine Diss vor und schaut, wo ich abgeschrieben