DDR wie in der BRD – kam der deutsche Kolonialismus viel ausführlicher zur Sprache als heute.[18] Dabei kann Kolonialismus nicht von der Gründungsgeschichte Deutschlands getrennt werden – ebenso wenig wie die Geschichte des Rassismus. Welche Geschichte und Geschichten werden unseren Kindern heute bloß erzählt?
Genau genommen wäre die Gründung der ersten deutschen Nation ohne Rassismus gar nicht möglich gewesen. Denn im Glauben, es gebe »deutsches Blut«, wurden Rasse und Nation aufs Engste miteinander verstrickt.[19] In der Folge werden Deutsche noch heute als weiß, blond und blauäugig imaginiert. Diese Vorstellung fand ihren tödlichen Tiefpunkt bekanntermaßen im Nationalsozialismus. Doch es wäre falsch, zu glauben, dass der deutsche Rassismus im Nationalsozialismus begonnen habe und ausschließlich in der rechten Ecke zu finden sei. Und daher ist es auch falsch, Rassismus mit Rechtsextremismus gleichzusetzen.
Rassistische Ideen gibt es im Laufe der Geschichte immer wieder. Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt sich in Spanien eine zu Anfang religiös begründete Idee von »Rassen«, die sich von dort aus in Europa ausbreitete. Im 18. Jahrhundert wird der Rassismus in Europa dann zu einer Wissenschaft verklärt. Daran war neben Disziplinen wie der Anthropologie, der Eugenik und den Sexualwissenschaften auch die europäische Philosophie maßgeblich beteiligt. Der deutsche Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) und der deutsche Philosoph Christoph Meiners (1747–1810) führten die rassistische Hierarchisierung ein. Der Rassebegriff fand in Deutschland insbesondere durch Immanuel Kant (1724–1804) Verbreitung und regt noch heute hitzige politische Diskussionen an, wie später aufgezeigt wird. Kant hatte wesentlichen Anteil daran, dass die Idee von »Rasse« als biologische Kategorie hierzulande Verbreitung fand. Durch sein Rassedenken und seine darauf aufbauende Rassenlehre wurde Rassismus überhaupt erst materialisiert, d.h., die Kategorie »Rasse« wurde in seinen Vorlesungen (1790–1791) zu einem greifbaren Konzept, auf dessen Grundlage Schwarze Menschen herabgewürdigt und diskriminiert werden konnten.[20] Kants rassifizierenden Ideen bildeten auch die Grundlage dafür, dass spätere Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) die Vorstellung verbreiten konnten, Schwarze Menschen seien keine geschichtlichen Wesen, was er als Beweis für ihre vermeintliche Unterlegenheit anführte.[21] Bis heute wirkt »Rasse« als strukturierendes und ordnendes Merkmal auf die Gesellschaft zurück und hat dadurch eine soziale Funktion, die jenseits von biologischen Kategorien wirkt.
Während Immanuel Kant allen bekannt sein dürfte, muss der Schwarze Aufklärer Anton Wilhelm Amo (ca. 1703–1753) wieder ins kollektive Gedächtnis gerufen werden. Der Philosoph und Jurist promovierte 1729 an der Universität Halle-Wittenberg zu den Rechten der Schwarzen (damals mit dem M-Wort fremdbezeichnet) in Europa.[22] Seine Arbeit verweist bereits auf die Wichtigkeit von Recht und Justiz in allen Epochen Schwarzer deutscher Geschichte, wie auch später noch deutlich wird. Nach dreißig Jahren aktivistischer Forderung wird nun zu Recht als richtige Antwort auf die BLM-Bewegung endlich die M-Straße in Berlin-Mitte nach Amo umbenannt. Schon fünfzig Jahre vor Kant hatte er die Menschenrechte diskutiert und Schwarze Menschen dabei einbezogen. Ob Kant hingegen tatsächlich alle Menschen meinte, als er in seinen Schriften von allen Personen sprach, oder doch nur den (inzwischen sehr alt gewordenen) »weißen Mann«, bleibt fraglich. Dass er wohl eher Letzteren meinte, zeigt folgendes Zitat:
»Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben I* haben schon ein geringeres Talent. Die N* sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften. […] Die N* von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.«[23]
Wir leben immer noch in der Verfestigung von Kants Rassenlehre, obwohl er selbst in seinem Spätwerk Zweifel an seiner eigenen Theorie hegte. Vom Sockel wurde Kant zwar nicht gestoßen, aber seine kritischen Schriften werden mit Blick auf den antirassistischen Protesten aufs Neue diskutiert – ein kleiner, aber wichtiger Fortschritt. Denn auch wenn Kant sich in seiner Altersschrift für die Gleichberechtigung aller Rassen aussprach und Kolonialismus und Versklavung verurteilte,[24] ist das Rassedenken, was die Grundlage seiner Rassenlehre war und zur Herausbildung der biologischen Kategorie Rasse geführt sowie Kolonialismus und Versklavung gerechtfertigt hat, nicht verschwunden. Noch heute sind die Nachwirkungen des Kolonialismus und somit auch des Rassedenkens der europäischen Aufklärung sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch hierzulande in Form von Alltagsrassismus spürbar. Dieser reicht von Ablehnungen bei der Wohnungssuche über verweigerte Beförderungen im Beruf bis hin zu einfachen Fragen, die Schwarzen Menschen das Deutschsein absprechen, wie »Woher kommst du?« oder Aussagen wie »Du sprichst aber gut Deutsch«.[25]
Bei der weiteren Etablierung des Rassebegriffs und der Entwicklung von Rassentheorien spielte, wie eingangs erwähnt, der europäische Kolonialismus eine bedeutende Rolle. Das deutsche Kolonialreich umfasste Teile der heutigen Staaten Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Gabun, Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Nigeria, Togo, Ghana, Neuguinea und mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien. Koloniale Kontinuitäten zeigen sich heute in Deutschland im öffentlichen Raum (am Beispiel kolonialer Straßennamen), in Museen (am Beispiel kolonialer Raubkunst) oder in den Namen von medizinischen Kliniken, wie beispielsweise beim Virchow-Klinikum Berlin. Der deutsche Arzt und Pathologe Rudolf Virchow (1821–1902) gilt bis heute als einer der wichtigsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Im Laufe seines Lebens trug er eine große Sammlung von menschlichen Schädeln zusammen. Schätzungen zufolge wurden dafür rund dreihundert Schädel gestohlen. Sie stammen von Opfern des vierjährigen Aufstands der Ovaherero, Nama, Damara und San gegen ihre deutschen Kolonialherren von 1904 bis 1908. Teile dieser Sammlung sowie mehrere Objekte aus anderen Sammlungen sind im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité (BMM) gelagert. Ursprünglich gemessen, um Menschen von Tieren zu unterscheiden, wurden Schädel bald verwendet, um die Idee »menschlicher Rassen« zu bescheinigen. Später wurden sie eingesetzt, um mehr über den menschlichen Geist herauszufinden. Dies schlug jedoch mangels geeigneter Methoden fehl. Der Schweizer Anatom Franz Joseph Gall (1758–1828) versuchte zu beweisen, dass bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen in den Schädel eingeprägt seien, was zu der fiktiven Vorstellung führte, dass Charaktereigenschaften biologisch bestimmbar und messbar seien.[26]
Diese rassistischen Absurditäten nahmen keinen Abbruch und beeinflussten schon früh die soziale Realität von Schwarzen Deutschen, die auf Grundlage der kolonialen »Mischehegesetze« in den meisten Fällen als »illegitime« Kinder deutscher Eltern geboren wurden und aufgrund ihrer vermeintlichen »Rassenzugehörigkeit« kein Aufenthaltsrecht im deutschen Kaiserreich erhielten: Damals wurde Deutschsein per Gesetz als weiß festgeschrieben, ohne es jedoch explizit so zu benennen. Vielmehr wurde gesetzlich geregelt, dass die Nachkommen von Afrikaner:innen, damals »Eingeborene« genannt, nicht Deutsche sein könnten.[27] Auch die Residenzpflicht wurde als politische Kontrollmaßnahme in Kolonialregierungen eingesetzt und ist auch heute wieder im Asylgesetz zu finden: Nach § 56 des Asylgesetzes dürfen sich Asylbewerber:innen und Geduldete nur in einem ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich bewegen. Als Reaktion auf die rassistischen Brandanschläge in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen Anfang der 1990er Jahre wurde dieses Gesetz durch den sogenannten Asylkompromiss verschärft.[28] Die damaligen Ausschreitungen sowie der seit Ende der 1990er aktive NSU, in Chemnitz und Zwickau verwurzelt, und sein weitreichendes Netzwerk bereiteten den Nährboden für die heutigen rassistischen Bewegungen wie Pegida, die Identitäre Bewegung, rechte Hooligans, NPD, AfD und nicht zuletzt »besorgte Bürger:innen«. Die in den Medien kreisenden emotional aufgeladenen Berichte über »kriminelle Migrant:innen« und »Wirtschaftsflüchtlinge«, gekoppelt mit Angstposts in den sozialen Medien, fanden breitflächig ihren Weg auf deutsche Straßen.[29]
Tödlichen Höhepunkt bildeten die gewalttätigen Ausschreitungen im ostdeutschen Chemnitz im September 2018. Nach einer Auseinandersetzung am Rande eines Stadtfestes war es zu einer Messerstecherei gekommen. Ein Mann wurde tödlich und zwei weitere schwer verletzt. Rechte und rechtsextreme Gruppen riefen aufgrund der Nachricht vom vermeintlichen Migrationshintergrund des Täters zu Demonstrationen auf. Die Polizei sah keinen Anlass, die Einsatzkräfte zu verstärken, obwohl sie rechtzeitig über die Aktivitäten informiert worden war. Die deutsche Presse schaffte es lange nicht, zu benennen, dass der getötete Daniel Hillig ein Schwarzer Deutscher war, der selbst jahrelang rechte Gewalt und Rassismus erleiden musste. Ein Umstand, der den rechten Netzwerken in die