Deutschen tötete.[30] So versuchte die Szene, die Tat zu rassifizieren und als Beweis für den in der Einleitung bereits angesprochenen Mythos, es gebe Rassismus gegen weiße Menschen, zu missbrauchen.
Die Schwarze deutsche Historikerin Fatima El-Tayeb beschreibt die gegenwärtige Situation folgendermaßen:
»Die Not der Geflüchteten hat etwas erschreckend Stabilisierendes für die deutsche Identität. Die Welle rassistischer Gewalt um die sogenannte ›Asylkrise‹ in den 1990ern, der politische Ruck nach rechts, um den ›Sorgen der Bürger‹ entgegenzukommen, die Verschärfung eines vormals relativ großzügigen Asylrechts, das zum ersten Mal auf die Probe gestellt worden war – all das scheint ebenso vergessen wie die Diskussion um die Notwendigkeit, Rassismus als solchen zu benennen. Stattdessen geht es wie gehabt um ›Fremdenfeindlichkeit‹.«[31]
Rassismus als strukturelles Phänomen darf nicht hinter Worthülsen wie »Fremdenfeindlichkeit« oder »Ausländerfeindlichkeit« verschwinden, denn es geht hier weder um »Fremde« noch um »Ausländer:innen«. Fremdbezeichnungen wie »Migrant:in«, »Mensch mit Migrationshintergrund« oder »Mensch mit Migrationsgeschichte« greifen zu kurz, weil die meisten so bezeichneten Menschen vor vielen Jahrzehnten aufgehört haben zu migrieren. Wie wir am Beispiel von Anton Wilhelm Amo sehen, lebten Schwarze Menschen bereits im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, und viele Schwarze Familien haben seit der deutschen Kolonialisierung noch immer ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Daher haben Schwarze Menschen das Recht auf eine eigenständige deutsche Geschichtserzählung, die nicht nur generationsübergreifende Migrationserfahrungen in den Vordergrund stellt, sondern Schwarze Vielfalt und Verwurzelung hierzulande widerspiegelt und Schwarze Menschen als Subjekte anerkennt. Dafür stehen die Selbstbenennungen Schwarze Deutsche oder Afrodeutsche bereit. Diese finden aber aufgrund des Rassismus nur schwer Einzug in Medien und Politik. Dabei kann und darf Schwarze deutsche Geschichte nicht ausschließlich im Kontext von Migration und Integration gelesen werden. Genauso wenig darf sie mit der Geschichte des Rassismus gleichgesetzt werden. Vielmehr müssen die Gesellschaftsstrukturen in den Blick genommen werden, die Ausschlüsse produzieren, eine Schwarze deutsche Geschichtserzählung unmöglich machen und das Gefühl erzeugen, »fremd im eigenen Land«[32] zu sein.
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts weist viele Beispiele andauernder Kolonialität auf, z.B. wie Schwarzen Deutschen ihr Deutschsein abgesprochen wurde und sie zu Fremden gemacht wurden, – und sie reichen sogar bis in das 21. Jahrhundert hinein. Als Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen des Versailler Vertrags seine Kolonien an die Alliierten abgeben musste, verloren die Deutschen nicht nur ihre Kolonialterritorien: Zahlreiche im Kaiserreich lebende Kolonialmigrant:innen verloren im Zuge dessen ihren Aufenthaltsstatus. Sie erhielten »Fremdenpässe«, wie Theodor Wonja Michael in seiner Biografie berichtet, oder sie wurden des Landes verwiesen.[33] Sie waren gezwungen, ihre deutsche Heimat und ihre Familien zu verlassen. Weiterhin wurden seit Ende des Ersten Weltkrieges die Nachkommen von Schwarzen, meist französischen Soldaten und weißen deutschen Frauen*, als »Rheinlandbastarde« herabgewürdigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wiederum nach einer offen rassistischen Bundestagsdebatte entschieden, die Kinder von Schwarzen US-amerikanischen Soldaten und weißen deutschen Frauen* in den USA zur Zwangsadoption freizugeben. Die rassistische Struktur war hierbei mächtiger als die Staatsangehörigkeit der weißen deutschen Mütter, deren Kinder nicht mehr als Deutsche in Deutschland leben durften – eine ziemlich perfide Verstrickung von Patriarchat und Rassismus. Die Bundestagsdebatte um diese Zwangsadoptionen verweist zudem auf die institutionelle Dimension rechtlicher Entscheidungen und macht die Billigung und Unterstützung des Anti-Schwarzen Rassismus durch die Alliierten sichtbar.[34]
Auch in der Geschichte der DDR finden sich Beispiele fortdauernder rassistischer Ausschlussprozesse. Der Kommunismus hatte nach dem Zweiten Weltkrieg den Faschismus zwar unterdrückt, ihn aber nicht zerstört. Rassismus und Antisemitismus wurden fortan strengstens gesetzlich geregelt, aber nie als nationale Realität anerkannt oder aufgearbeitet. So kam es in der DDR durchaus zu rassistischen, antisemitischen und auch neonazistischen Taten, von Schmierereien bis hin zu körperlicher Gewalt. Der Historiker Harry Waibel weist in einer 2014 erschienenen Studie zu unveröffentlichtem DDR-Archivmaterial ca. 9000 neonazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewalttaten nach.[35]
Ein konkretes Beispiel des gesetzlich geregelten Rassismus ist etwa das der Schwarzen Vertragsarbeiter:innen aus Mosambik, Angola und Kuba, die nicht integriert wurden, sondern gezwungen waren, in Segregation zu leben. Nach der Wende wurden sie allerdings nicht in die gefeierte Gesamtgesellschaft eingebürgert, sondern zum Teil des Landes verwiesen, nachdem ihre Verträge beendet wurden. Ähnlich erging es in der DDR lebenden Namibier:innen. Mit dem Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg wurde Namibia mit den Vereinbarungen des Versailler Vertrags von 1915 bis 1990 einem anderen afrikanischen Land unterstellt: dem weißen Südafrika. Im Zuge ihrer Befreiungskämpfe gegen das Apartheidregime flohen viele Namibier:innen in das nördlich angrenzende Angola, wo sie von Kuba und der ehemaligen DDR gerettet werden konnten. Insgesamt vierhundert namibische Vorschulkinder kamen auf diesem Weg nach Ostdeutschland, wo sie bis zum Mauerfall gelebt haben. Mit der Wiedervereinigung und dem Erlangen der Unabhängigkeit Namibias wurden sie jedoch nicht eingebürgert, sondern nach Namibia zurückgeschickt, obwohl sie zum Teil seit 1979 in der DDR gelebt hatten. Mit der Wende ging ein wichtiger Teil (Schwarzer) deutscher Geschichte verloren, über den kaum in der Öffentlichkeit gesprochen wird.
Anders als andere Communitys schauen Schwarze Menschen in Deutschland nicht auf ein gemeinsames Herkunftsland zurück und sprechen auch nicht dieselbe Herkunftssprache. Aufgrund dieser Vielfalt ist es fast unmöglich, die Schwarze Community statistisch zu erfassen. Dies soll nun mit dem #Afrozensus erreicht werden. Von Juli bis September 2020 wurde die Onlinebefragung vom Schwarzen Empowerment-Projekt Each One Teach One (EOTO e.V.) durchgeführt, um belastbare Zahlen über die Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Zukunftsperspektiven von Schwarzen Menschen in Deutschland zu bekommen. Ziel der Hashtag-Initiative ist es, für mehr Sichtbarkeit der Schwarzen Bevölkerung zu sorgen. Die Ergebnisse werden im Frühjahr 2021 erwartet. Sie werden den Communitys und der Politik zur Verfügung gestellt. Auf dieser Basis sollen konkrete politische Maßnahmen vorgeschlagen werden, um Rassismus abzubauen und Schwarze Menschen in Deutschland besser schützen und fördern zu können.[36]
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass wir über Rassismus nicht aus nur einer Perspektive heraus sprechen dürfen. Wir können verwobene Geschichten nicht erzählen, als handele es sich um eine einzige Geschichte. Wir können nicht viele Realitäten auf eine Realität minimieren und dann behaupten, das sei die ganze »objektive« Wahrheit. Und ebenso wenig können wir unseren Blick auf nationale Gegebenheiten begrenzen, sondern müssen auch immer den globalen Kontext mitdenken. Hinzu kommt, dass auch andere Debatten nicht in ihrer Gänze geführt werden können, ohne über strukturellen Rassismus zu sprechen, wie beispielsweise die Klimadebatte: Industrialisierung als Ursache des Klimawandels wurde nur durch Kolonialisierung und Versklavung möglich, die hier in Europa und nicht in den USA oder auf dem afrikanischen Kontinent mit den »Entdeckungsreisen« der Europäer:innen im 15. Jahrhundert begannen.[37] Auch treffen die Folgen des Klimawandels unterschiedliche geografische Regionen auf unterschiedliche Art und Weise, wie die Schwarze Klimaforscherin Rebecca Abena Kennedy-Asante erklärt:
»Weltkarten über die Verwundbarkeit zeigen, dass Länder im Globalen Süden am stärksten von Klimawandelfolgen betroffen sind. Beispielsweise gibt es in Trockengebieten spezialisierte Ökosysteme, die an hohe Temperaturen und geringe Niederschlagsmengen angepasst sind. Aber wenn sich das verstärkt, kollabieren die Systeme, und Individuen und Arten sterben. Veränderte Lufttemperaturen können Zyklone verstärken, wie dieses Jahr in Mosambik und Zimbabwe. Außerdem schmelzen Pole, Meeresspiegel steigen, Trinkwässer auf pazifischen Inseln versalzen, und Küstenregionen werden überflutet. So werden aus ökologischen Krisen soziale Krisen.«[38]
In Europa schauen wir allerdings vom Sofa aus zu, wie Schwarze Körper seit Jahren im Mittelmeer ertrinken, wenn sie versuchen, diesen Krisen zu entfliehen. Und sollten sie Europa doch erreichen, dann sind sie dazu verdammt, ihr Leben im Lager oder in der Illegalität mit stetiger Bedrohung von (staatlicher) Gewalt zu fristen. Erst dann, wenn wir also verstanden haben, dass Rassismus strukturell ist, das Rassedenken ungebrochen