Reiner Hänsch

Die Faxen Dicke


Скачать книгу

aufgehobene seltene und unwiederbringliche Erinnerungsstücke wie Tankquittungen, Strafzettel oder Notizzettel mit wichtigen Adressen und Telefonnummern als zusammengeklumpte Papiermasse wieder auftauchen, weil meine Steffi natürlich nie die Taschen durchforstet, bevor sie meine Sachen brutal in die Waschmaschine stopft. Ts, ts, ts.

      Die Bläckfäss-Kuhponns sind jedenfalls noch nicht zerfasert oder irgendwie beschädigt, nur leicht zerknittert, und das ist auch gut so, denn schließlich sind sie überlebenswichtig. Rüdiger Nehberg hat sicher keine.

      Nur bis „tännäclock ey ämm“ gäbe es Frühstück. Auch das hat man uns gestern Abend noch eindringlich ins Koma geflüstert und außerdem steht es auch auf den Coupons drauf.

      Jaja, Urlaub ist nicht einfach so rumhängen. Es gibt feste und eindeutige, ernsthafte Spielregeln, an die man sich auch halten muss. Wer mogelt, fliegt raus! Schließlich sind wir nicht zum Vergnügen hier. Der reibungslose Ablauf des durchorganisierten Urlaubsvergnügens muss einwandfrei gewährleistet sein, und wie ich das Räderwerk des Pauschalurlaubs kennengelernt habe, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass man auch hier im Paradies keine Gnade kennt.

      Also hüllen wir uns, soweit noch nicht geschehen, in weitere sommerliche Kleidungsstücke wie kurze Hose, T-Shirt und leichte Bluse.

      Ach, ist das schön, endlich mal die Jacken, Unterhemden, Schals, Pullover, Wollmützen, Mäntel, Thermojacken, Moonboots … also praktisch die gesamte Antarktis-Ausrüstung und vor allem die Schirme und Gummistiefel weglassen zu können! Und so eilen wir befreit aus der knarzenden Tür unserer Armenhütte in die sonnige, tropische Freiheit.

      Ist das schön hier! Alles grün und dazwischen niedliche, halb zusammengebrochene Hütten wie unsere, aus denen sich wieder ganz andere Menschen aus ganz anderen Teilen der Welt quälen und ebenfalls ohne braunes Wasser im Gesicht den Tag begrüßen wollen und offensichtlich in Richtung Frühstücks-Arena hasten. Wahrscheinlich habe ich recht und das Frühstückszeitfenster schließt exakt um zehn Uhr. Ey ämm.

      „Morng!“, ruft uns jemand aus der Nachbarhütte zu. Wir drehen uns erschrocken um und sehen Herrn Lotze-oder-so freundlich übers ganze Gesicht grinsen. In der rechten Hand eine dicke qualmende Zigarre.

      „Na, wie isses? Chut cheschlaf’n? Schön hoite, woll?“

      Etwas irritiert antworte ich: „Morgen! Gut. Ja … und ja.“

      „Iss dat nich häärlich hia? Äntlich aus’m usseligen Doitschland raus, woll?“, sagt unser Nachbar und nuckelt an seiner dicken Zigarre.

      ‚Woll‘, sagt der? Ich wette, er kommt ungefähr da her, wo wir

      auch herkommen.

      „Un so schön waam, woll!“

      Noch mal ‚woll‘. Ich winke irritiert, aber einigermaßen freundlich zurück.

      „Pädder, getz mach den scheiß Stumpen aus! Wir müssen los!“, höre ich da noch hinten aus der Lotze-Baracke.

      „Wo sind meine Schuhe?“, fragt Max und bellt noch mal, dass wir wieder rhythmisch mitzucken. Es tut uns jedes Mal selber weh und wir sehen uns mitleidend, aber auch genervt an. Zum einen natürlich wegen des verdammten Hustens, zum anderen aber wegen der Frage. Max weiß wirklich nie, wo seine Sachen liegen, und es scheint ihm auch egal zu sein. Seine Mutter wird ihm schon alles bringen. Ich sei angeblich genauso, er hätte das von mir. Aber das ist nur Steffis unverbindliche Meinung.

      „Geh ohne Schuhe“, antworte ich ihm fröhlich und aufmunternd und fühle mich schon wie der ausgemachte Naturbursche, der entschlossen ist, endlich zum wahren, einfachen Leben zurückzufinden.

      „Einfach so!“

      Rüdiger Nehberg.

      „Baarfuuß?“, fragt er mit blankem Entsetzen in den Augen.

      „Ja, das geht hier. Barfuß. Natur, verstehst du? Wie Robin Kruse. Schon mal gehört?“

      Ich weiß, dass er eigentlich Crusoe und Robinson heißt, aber Kruse hießen mal unsere Nachbarn, und die haben ihren Sohn Robin genannt. Das fand ich mutig.

      Wir schaffen es nur bis etwa hundert Meter vor das Frühstücksgebiet – man kann es schon sehen – als Max in einen Nagel tritt, der im Paradies eigentlich gar nicht vorkommen sollte.

      „Aua, aua“, jammert er, hüpft auf einem Bein und hält den vernagelten Fuß mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Au, verdammt, tut das weh, tut das weh.“

      Ich bin kurz davor ’Stell dich nicht so an!’ zu sagen, aber ein Blick von Steffi genügt, diesen Ratschlag noch mal gründlich zu überdenken. Also wird im Handumdrehen daraus ein mürrisches „Lass mal sehen!“

      Ich sehe mir fachkundig die Bescherung an und komme zu der halbwegs fundierten Meinung, dass es nur halb so schlimm sei. Der Nagel steckt ja noch nicht mal im Fuß drin. Er hat ja nur eine kleine, rote Delle hinterlassen, die in der Mitte einen winzigen Blutstropfen bildet. Wirklich winzig. Ich doziere aber trotzdem wissenschaftlich-pseudomedizinisch und absolut klugscheißerisch wie immer, dass man aber erst mal abwarten müsse, ob sich daraus eventuell eine Blutvergiftung ergeben würde. Ich kann’s eben nicht lassen. Das sähe man ja ganz einfach, indem die Vene (oder ist es die Ader?), die zum Herzen führt, nach einer Weile rot wird. Dann wäre es immer noch Zeit, etwas zu unternehmen.

      „Blutvergiftung?“ – Steffi ist außer sich. Ich hätte dieses böse Wort einfach nicht benutzen sollen, es könnte mich um das heutige Frühstück gebracht haben. „‚Blutvergiftung‘, sagst du? Weißt du, was das heißt? Der Junge stirbt!“

      „Jaaa, sicher … also, nein! Nein! … Es ist ja keine Blutvergiftung, es blutet ja noch nicht einmal“, versuche ich, das Unheil abzuwenden und das Frühstück zu retten. „Es ist auf jeden Fall KEINE BLUTVERGIFTUNG, Steffi, bitte, glaub mir.“

      „Ach was, aber du hast ja gerade selbst gesagt, das kann man erst sehen, wenn die Vene zum Herzen rot wird. Willst du etwa so lange warten und Brötchen essen?“, schnauzt Steffi mich an und ist jetzt richtig wütend geworden. Ich bezweifle außerdem, dass es hier Brötchen geben wird, sage darüber aber erst mal nichts.

      „Wir gehen jetzt zurück zu unserem Bungalow und ich wasche das auf jeden Fall aus, bevor ich in mein Brötchen beiße“, sagt sie mit einer Bestimmtheit, der man lieber nicht widersprechen sollte. Und dass sie unsere verfallene Baracke jetzt schon offiziell Bungalow nennt, finde ich richtig süß. Superior Hillside Bungalow, um genau zu sein.

      „Nimm aber das Mineralwasser dafür“, gebe ich ihr noch als gut gemeinten Tipp mit auf den Weg, bin aber jetzt natürlich in einen ausgewachsenen Gewissenskonflikt geraten. Einfach und egoistisch den Weg zum nahen Frühstücksgelände antreten und meine Familie dem Schicksal überlassen, das kann ich ja nun auch nicht bringen. Was mache ich?

      „Ach, es tut schon nicht mehr weh“, sagt da glücklicherweise der hungrige Max und steht auch schon wieder vorsichtig auf bei-den Füßen. „Lass uns lieber frühstücken gehn. Is schon wieder gut, ehrlich“

      Steffi sieht ihn kritisch und zweifelnd an, aber vielleicht ist es auch bei ihr der Hunger, der sie magenknurrend einlenken lässt, nicht aber, ohne zu sagen: „Gut, dann machen wir’s eben am Tisch MIT MINERALWASSER!“

      Und dann stiefeln wir los. Max humpelt ein wenig.

      Es ist fünf Minuten nach zehn. Wir sind wohl die Letzten. Alle sind schon da, alle Tische besetzt, und die Bayern lächeln uns in Siegerpose zu. Erster! Sie haben sich den schönsten Platz auf dem hölzernen Deck gesucht, ganz vorne neben einer krummen Palme mit Blick auf das Meer.

      Das Meer! Wir können es sehen und riechen. Oh, ist das schön. Herrlich blau und weit liegt es vor und etwas unter uns und noch etwa zwei-, dreihundert Meter entfernt. Aber es ist da und glitzert in der tropischen Sonne Ko Samuis, unseres Paradieses für die nächsten zwei Wochen. Die dicke schwarze Regenwolke, die sich von hinten energisch und bedrohlich ins Bild schiebt, ignorieren wir erst mal einfach. Die ist ja noch so weit weg.

      „Melli Klissmä! Hau ah ju, Sir Missa Nipsi.