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Was bildet ihr uns ein?


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Die Institution der Förderschule behindert also die Menschen in ihren Lebenschancen.

      Zum Berufserfolg von Schülern mit einer sogenannten Lernbehinderung forscht Urs Haeberlin, emeritierter Professor der Universität Freiburg in der Schweiz. Über die biografischen Folgen des Sonderunterrichts veröffentlichte er 2011 eine Langzeitstudie. 37 Diese ging der Frage nach, ob die spätere berufliche und soziale Situation von Kindern mit einer sogenannten Lernbehinderung durch schulische Integration oder durch separaten Unterricht besser gefördert werden. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Ausbildungs- und Berufschancen für diejenigen, die in separaten Sonderklassen38 unterrichtet wurden, sind schlechter. So sind Ausbildungsabbrüche und Langzeitarbeitslosigkeit für diese Gruppe charakteristisch. Hinzu kommt, dass das Selbstwertgefühl dieser Jungen und Mädchen viel niedriger ist als bei Schülern in einer integrativen Klasse.

      Überhaupt leiden Jugendliche, die eine Förderschule besuchen, oft stark unter dem Stempel des Förderschülers. So zeigt beispielsweise Brigitte Schumann, ehemalige Lehrerin und Politikerin, in ihrer empirischen Studie, dass die Förderschule die Schüler sozial isoliert. 39 Oft empfinden sie den Besuch der Förderschule als so ablehnendes Erlebnis, dass sie gar verschweigen, auf welche Schulform sie gehen, um nicht noch weiter ausgegrenzt zu werden. Somit ist es diesen Schülern häufig nicht möglich, ein positives Selbstbild aufzubauen, da das durch die negativen Stigmatisierungen gehemmt wird oder sie diese gar übernehmen. Die eigentlichen Probleme der Lernbehinderung bleiben dabei verschleiert. Denn die große Mehrheit aller Förderschüler kommt aus sozial schwachen Familien und so scheint die Beeinträchtigung mit der sozialen Herkunft einherzugehen. Die Herkunft dieser Kinder beeinträchtigt also ihre Bildungschancen.40

      Kinder mit „sonderpädagogischem Förderbedarf “ werden aber auf Förderschulen geschickt mit dem Hinweis: Man könne sie dort besser fördern und besser auf sie eingehen. Doch dies ist nicht mehr als eine Wunschvorstellung, wie das Ergebnis einer Studie des Lernbehindertenpädagogen Hans Wocken zeigt: Schüler erreichen auf einer Förderschule nicht wie erwartet bessere Leistungen, sondern verharren auf dem gleichen Niveau.41 Der geplante Schutzraum ist also nicht mehr als eine Bremszone, die zudem noch in die soziale Isolation führt. Laut Ute Erdsiek-Rave, Kultusministerin von Schleswig-Holstein a.D., führt die Situation der sogenannten Lernbehinderten in Deutschland auf internationaler Ebene zu Kopfschütteln und Unverständnis. Der Tenor auf der Weltbildungskonferenz der UNESCO in Genf 2008 sei gewesen, dass Heterogenität nicht leistungsfeindlich sei und Kinder mit Lernschwierigkeiten Unterstützung, aber keine eigenen Schulen bräuchten. Ihrer Meinung nach ist die Existenz der Förderschulen für Lernbehinderte „in geradezu fahrlässigem Umfang diskriminierend“42. Sie hätten sich zudem zu einem Sammelbecken für sozial Benachteiligte und Migranten entwickelt.43 All diese Ergebnisse sprechen eine Sprache: Förderschulen für Lernbehinderte stehen der Chancengleichheit entgegen und behindern Menschen auf ihrem Lebensweg.

      Deutschland in der Grauzone

      Schaut man in andere europäische Länder, so findet man Beispiele, in denen es schon Schulsysteme gibt, die keine Selektion zwischen Schülern mit und ohne Beeinträchtigung vornehmen. Die skandinavischen Länder haben in diesem Bereich eine Vorreiterrolle, beispielsweise Norwegen. Dort gehen seit den 1990er-Jahren alle Kinder gemeinsam zur Schule. Allerdings gibt es an einigen Schulen noch Förderklassen. Diese besuchten im Schuljahr 2001/2002 lediglich 1349 Schüler. Eine Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen fand offensichtlich nur in absoluten Ausnahmefellen statt.

      Auch wenn sich das inklusive Schulsystem dort noch nicht vollständig durchsetzen konnte – in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Sonderschüler wieder angestiegen – , ist man von Zahlen, wie sie für Deutschland vorliegen, weit entfernt.44

      Norwegen kann Deutschland deshalb als Vorbild dienen. Denn dort spiegelt sich das Ergebnis des Schweizer Professors wider: Auch hier hat die Schule für alle dazu geführt, dass Schüler mit Beeinträchtigung häufiger einen Schulabschluss bekommen und zudem leichter den Zugang zur Fachhochschule oder Universität schaffen. Auch das integrative Schulsystem der USA zeigt diese Entwicklung.45

      Deutschland hingegen hat sich noch nicht klar für ein System entschieden. Wie man dem Bericht der Kultusministerkonferenz entnehmen kann, steigen die Zahlen der sogenannten Integrationsschüler, also der Schüler mit Förderbedarf, die eine Regelschule besuchen. Im Schuljahr 2007/2008 waren es fast 85.000 Jungen und Mädchen46, zwei Jahre später noch einmal 12.000 mehr47. Hierbei gibt es aber starke Unterschiede zwischen den Bundesländern. So hat das Bundesland Bremen beispielsweise schon eine Integrationsquote von 45 Prozent, wehrend sich Niedersachsen vom herkömmlichen Sonderschulsystem kaum entfernt hat. Seine Integrationsquote liegt bei 5 Prozent.48 So gilt für Deutschland: Der Großteil der Förderschüler wird weiterhin an separaten Schulen unterrichtet.

      Das Märchen von einheitlichen Lerngruppen

      Dass in Deutschland in einigen Bundesländern noch so stark an den Förderschulen festgehalten wird, liegt u.a. an einer falschen Annahme, auf der das gesamte deutsche Schulsystem aufbaut: Dass Schüler in einheitlichen Lerngruppen optimal lernen können. Dieser Sicht zufolge haben Schüler, die dieselbe Schulart besuchen, auch die gleichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Schwierigkeiten. Sie können auch die gleichen Sachverhalte in derselben Geschwindigkeit lernen und verstehen. Nur aufgrund dieser Annahme hat die Aufteilung auf verschiedene Schulen Sinn.

      Dies ist aber nicht nur in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen eine irrige Annahme. Auch auf andere Klassen, die vermeintlich „gleich gut“ sind, trifft sie nicht zu.

      Das zeigt sich daran, dass sich Gruppen, egal ob dort die vermeintlich „Besten“ oder „Schlechtesten“ lernen, erneut sortieren und es auch hier wieder „Bessere“ und „Schlechtere“ gibt. Diese Annahme unterstreicht auch, wie sehr unser Schulsystem auf dem Vergleichen von Menschen untereinander aufgebaut ist und nicht die eigene, persönliche und individuelle Entwicklung gesehen und betrachtet wird.

      Es kann nie eine Gruppe von Menschen geben, die auf die gleiche Art und Weise in der gleichen Geschwindigkeit lernt und sich weiterentwickelt. Die allseits anerkannten Normen, die festlegen, in welchem Alter man welche Menge an Wissen gesammelt haben muss, erscheinen aus diesem Grund sinnlos und unmöglich einzuhalten.

      Die Annahme der homogenen Lerngruppe hat aber zur Folge, dass man nur bei vermeintlich Schwächeren oder Beeinträchtigten davon ausgeht, dass sie individuelle Förderung benötigen. Vielmehr ist es aber so, dass die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit aller Menschen eine individuelle Förderung und Bildung jedes Einzelnen notwendig macht. Wünschenswert wäre daher, dass in jeder Lerngruppe auf individuelle Bedürfnisse eingegangen wird, so dass sich jeder Mensch bestmöglich entwickeln kann.

      Schule und Bildung neu denken

      2006 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Darin steht unter anderem, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht vom allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden dürfen. Der entscheidende Punkt wird allerdings im ersten Abschnitt des 24. Artikels gemacht. Dort heißt es: „States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing the right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and life long learning […].”49 Die UN schreibt in ihrer Konvention also ein sogenanntes inklusives Schulsystem vor. Dies bedeutet, dass Schule und andere Bildungseinrichtungen neu gedacht werden müssen. Denn eine inklusive Schule zeichnet sich besonders durch eine Grundeinstellung aus, die die Individualität jedes Menschen in den Mittelpunkt stellt. Jan-Åke Klasson von der Universität Göteborg hat dazu treffend formuliert: „Inclusion is not about organization, it’s about attitude.“50 Bei Inklusion geht es folglich in erster Linie um die Einstellung den Menschen gegenüber. Für Kinder mit Beeinträchtigung heißt das, dass sie genauso wie alle anderen Jungen und Mädchen einzigartig sind und nicht auf einer separaten Schule lernen müssen.

      Auch