tragen allerhand Lasten, und eine Decke mit goldbeschlagaffiner Verzierung hält den Laden zusammen.
Zufrieden dreinschauende Mafiabosse der mittleren Ebene killen monströse Bierpokale, ein blau getäfelter Durchgang führt zum einzigen Gemeinschaftsklo oder in die Erdhölle. Und derweil einem beim Zermalmen der Brotwürfel die Backenknochen um die Ohren fliegen, ordert der Dicke nächst zur Toilettentür vier Weizen auf einen Schwung. Keine Minute später ist der Bestand halbiert – wie die Servietten, die Insignien der neuen Ökonomie.
Die »Strömung der Wolga«, sann Gorki, mache, »daß mein Denken lebhafter, schärfer wird«. Ein Bier im Abgrund Auf dem Grund tut’s aber auch.
Vergorene Gegenwart
Gegen Mitternacht zieht ein milder Nebel über die behaglich faule, durch allerlei in den fünfziger Jahren angelegte Stauseen zu derart artigem Müßiggang verführte Wolga. Auf dem Sonnen- respektive jetzigen Mondscheindeck blinken die erhobenen Gläser, und eine erschöpfte Bierflasche fällt um und rollt auf die Reling zu, als wolle sie dem drunten am Pier ertönenden frohgemuten Klimperspiel des Flaschengutes antworten.
Drunten, also gewissermaßen am Fuß des zirka dreihundert Passagiere fassenden und nach Georgij Shukow, dem Marschall der Sowjetunion, Heerführer der Roten Armee und späteren Verteidigungsminister benannten Flußkreuzfahrtschiffes, das unsereinen im Verbund mit einer dem Alter nach reifen Reisegemeinde von Kasan bis hinunter nach Astrachan am Kaspischen Meer schippert, immer zuverlässig brav tuckernd und ohne jede Andeutung von abenteuerlichen Überraschungen oder dräuenden Havarien – drunten also, wo uns die hölzerne Bordbrücke an Land und dort durch ein Spalier von schweigenden Menschen führt, die Stoffe, Bestecke, Batterien oder Kassetten verkaufen, da brummt und rappelt es richtig, bis in den Oktober hinein und dann spätestens ab Mai aufs neue.
Droben, wo die Reisegesellschaft mehr rechtschaffen schlapp denn aufgekratzt-fidel verweilt, zerschmilzt die Sonne am Horizont – wie eine Pfirsicheiskugel, die in ein aquarelliertes, glühend gelbes und aquamarinblaues Band zerfließt, als würden ihr die Prospekte der Tourismusbranche das vorschreiben. »Die Natur ist nie Kitsch«, bewundert manch einer zu Recht eine solche Anmutung, und doch zieht es einen nach unten. Abermals runter vom Schiff möcht’ man springen und hetzen hinein ins Gewusel und Gequirle.
Droben ist Natur, droben ist Tourismus, zu einem aparten Paar vereinen sie sich höchstens bei Einbruch der Dämmerung. Drunten ist, sobald unser Dampfer als das von der halben Stadt inklusive Brot, Bürgermeister, Salz und Trachtentruppe erwartete und jeden anderen im Hafen herumlungernden Rest- und Rostkahn zufriedenstellend überragende Symbol des Aufschwungs andockt, das Leben.
Beim buddhistischen Dahintreiben auf dem Fluß neigt sich die Wahrnehmung nach innen, sofern man das ewige, breite Fließen für ein Bild stiller Erhabenheit erachtet, das mythische Konnotationen transportiert. Es genügt indes genauso, einfach nur das sanfte, einnickende Ufer dahingleiten zu sehen und die Bezeichnung »Dampfer« als Euphemismus dingfest zu machen. Dampfen, brausen, rauschen tut’s wenige Schritte vom Pier entfernt.
Der Fluß und das Leben, der »heilige Strom« (Gorbatschow) und die säkularen Menschen: In der Welt ist in Rußland, wer sich, kaum hat er hundert Schritte getan, im erstbesten Bierzelt einfindet, unter einem der zahllosen, aus Plastikplanen gefügten und von einer der expandierenden heimischen Großbrauereien gesponserten knallbunten Baldachine, unter denen das Glas- und Plastikflaschenbierangebot Ausmaße annimmt wie die Kartoffelchipsabteilung im amerikanischen Supermarkt. Und obwohl diverse der den Markt überschwemmenden Sortimente an Turbovergärung und Fuseltuning gemahnen – weshalb man sich zuzeiten als Bierzurückgehlasser oder immerhin Bierstehenlasser betätigt –, schiebt die auf Vergnügen und Eros geeichte Jugend, als gebiete ihr das ein ehernes Gesetz der Tradition, eine Fuhre nach der anderen in sich hinein, geschlechtlich paritätisch verteilt.
Der von der Staatsduma unternommene Versuch, ab 1. April 2005 das Biertrinken aus der Öffentlichkeit per Gesetz zu verbannen, ist am Veto des Föderationsrates gescheitert. Die blühende Bierbranche atmet auf, die Mehrheit der Russen atmet durch. Das Bier aus der Flasche – im Gehen oder im Zelt, auf der Parkbank oder auf den Stufen der imposanten, von marmornen Propyläen und Kandelabern gesäumten Granittreppe des Wolgograder Flußhafens genossen – befördert eine erdnahe Beschwingtheit in unmittelbarer Nähe zur nassen Lebensader des Landes, eine sukzessive befeuerte Freude, die jene Melancholie verscheucht, die man hier allenthalben auch zu gewärtigen meint.
Gewiß, in Uljanowsk, wo der Hafen zerbröselt wie die Kulisse der Breschnew-Plattenbauten oben am Berg, erfüllt das Bierzelt vornehmlich elendstrinkerische Funktionen, und in Kasan stapeln sich im ferrariroten Bierunterschlupf rund ums markenstrotzende Bierdepot pro forma ein Sixpack Wasser, indifferente Säfte, Eisweintinkturen, Fischdosen, Kaugummischachteln und anderweitiger »magenfüllender Unfug« (E. Henscheid). Doch ob im hafennahen Park von Saratow – der »Stadt des Kühlschranks« –, wo sich die schönsten Frauen der Welt, begleitet vom unvermeidlichen Dröhnpop, zum Bier vor den ihnen zugewiesenen Zelten versammeln, oder an der Bierflaniermeile Wolgograds mit ihren schlicht bis diskopeppig orientierten Zeltbauten: Überall verdampfen das Elend der Ökonomie und der Terror der Geschichte in der emphatischen Gegenwart der vergorenen Gerste, und sei’s für ein paar illusorische Augenblicke.
Wenn das Licht der Stadt am abkühlenden Horizont im Tintenschwarz des Himmels versickert, ist man wieder unterwegs – und zurückgeworfen in die Tristesse des touristischen Teilzeitdaseins. Trost spendet allein Gottfried Benn: »Wen Bier hindert, der trinkt es falsch.« Oder doch Dostojewski? »Der betrunkene Russe ist vielleicht gemeiner als der betrunkene Deutsche, doch ist dieser zweifellos dümmer und komischer als der Russe.«
Oder umgekehrt? Wir denken bei einem Baltika Export 7 noch mal verschärft versonnen darüber nach.
Dialektischer Durst
Es gibt ja bundesweit, ob auf dem Land oder in der Stadt, nahezu keine Wirtschaft mehr, in der man, egal, ob man sie zur durstlöschendsten Zeit um 14.23 Uhr, zwecks Frühschoppenaufmunterung oder zum hirnkrampflösenden Abendbierausklang betritt, nicht berieselt, belästigt, akustisch besabbert wird. Denn es gehört zur akuten modernen Conditio humana wie der Reformstau und die flächendeckende neoreligiöse Demenz die scheinbar durch nichts mehr einzudämmende Verlärmung der Existenz selbst dort, wo der gebeutelte einzelne durchaus mal zu sich kommen, einem Gedanken nachhängen und darob den Rand halten könnte.
Da der moderne Mensch seinerseits offenbar alles vermag, außer die Klappe zu halten, die er mitunter allein sachte zu öffnen sich anschicken sollte, wenn er einen Schluck Wein, einen Nipper Wasser, einen Hieb Wodka oder einen Schwall Bier durch jene in sich hineintransportieren möchte, vermag er es nicht mehr, einfach für sich zu sein, wo allein und still und vergnügt oder traurig zu sein nach Karl Kraus einzig wirklich möglich ist: in der dezenten Öffentlichkeit eines Gasthauses.
Doch, so dialektisch diffizil ist die Lage. Je unbarmherziger dem einzelnen vor Augen geführt wird, daß er nutzlos ist wie eine Gerstenspelze, alleingelassen, verworfen, weggeworfen, desto mehr verlangt es ihn nach simulierter Geselligkeit, und deshalb nimmt er es, mitten ins allgemeine Kuddelmuddel des dummen spätkapitalistischen Lebens geworfen, unwidersprochen oder sogar insgeheim dankbar hin, selbst dann, wenn er endlich für sich sein könnte, in der am besten angenehm leeren Wirtschaft, mit Technojazz und Tahiti-HipHop zugespachtelt zu werden, ohne Unterlaß und von Jahr zu Jahr in stramm anschwellender Lautstärke. Die Welt, die einem nichts mehr sagt und in der man nichts mehr zu sagen hat, sie töne.
Daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, besagt ein allzu bekanntes Bonmot von Theodor Wiesengrund Adorno, ein, näher betrachtet, nicht gerade einleuchtendes zumal übers, genauer, Wohnen im Spätkapitalismus. Adorno war kein großer Kneipengänger, seinen Wein- und Champagnerdurst befriedigte er eher privat. Lediglich den morgendlichen Cognacbrand bekämpfte er zusammen mit seinen Spionen aus den Reihen des SDS im Frankfurter Café Laumer. Getarnt waren diese Flüssigkeitszufuhren als »Frühstück«.
Mehr als dreißig Jahre später kann einem in einem Odenwälder Dörfchen mit