25 Millionen Besucher an. Sie strömten aus den Farmen und den Kleinstädten des Umlandes wie auch aus dem Ausland nach Chicago. Ein staunender Besucher schrieb an seine Eltern: »Verkauft euren Kochherd, wenn nicht anders, und kommt!« Ein anderer Besucher versicherte seiner daheimgebliebenen Ehefrau: »Du musst die Ausstellung sehen, und wenn das Geld, das wir für die Beerdigung zurückgelegt haben, draufgeht!« Die Venus von Milo war in Schokolade nachgebildet, ein lebensgroßer Ritter zu Pferde stellte getrocknete Pflaumen her, Deutschland, eine der 77 vertretenen Nationen, hatte ein gewaltiges Küstengeschütz aufgestellt, das ein tonnenschweres Geschoss über 16 Meilen schießen konnte. Als die Ausstellung schloss, schrieb die Chicago Tribune, was Millionen von Besuchern dachten: Man hatte eine »kleine, ideale Welt« gesehen, »eine Realisation von Utopia, in der die überbordende Phantasie der Künstler und Architekten einen in der Zukunft liegenden Zustand vorwegzunehmen scheint, bei dem die ganze Erde so rein, so schön und so freudig sich darstellen wird, wie heute die Weiße Stadt«.
Doch schon ein Jahr später, 1894, zeigte sich auch die andere Seite der Medaille. Die Arbeiter der Pullman Car Company verbündeten sich mit den Arbeitern der Eisenbahngesellschaften und streikten. Chicagos Arbeiter waren die Ersten, die sich in Gewerkschaften organisierten. Und was vielleicht noch erstaunlicher war für jene Zeit: Zum ersten Mal streikten schwarze und weiße Arbeiter gemeinsam für höhere Löhne und einen sicheren Arbeitsplatz. Der damalige amerikanische Präsident Cleveland beurteilte die Lage als so gefährlich, dass er Truppen in die Stadt entsandte. 1905 wurde Chicago dann zum Gründungsort der Industrial Workers of the World (Wobblies), jener legendären radikalen Gewerkschaftsbewegung, deren bekanntester Vertreter wohl Joe Hill war. Während eines Streiks festgenommen, wurde er 1915 in Salt Lake City hingerichtet. Ein politisches Kampflied über ihn ist inzwischen zum Volkslied geworden:
»Ich sah im Traum Joe Hill vor mir.
Ganz deutlich sein Gesicht.
Sprech' ich: Bist du nicht lange tot?
Sagt er: Ich sterbe nicht.
In Salt Lake City, Joe, sprech' ich,
da irrte das Gericht.
Unschuldig gingst du in den Tod.
Nein, schuldig war ich nicht.
Den Herren von der Industrie,
den' warst du unbequem.
Unschuldig gingst du in den Tod.
Er spricht: So ist's geschehen!
Da stand er vor mir, lebensgroß,
und lächelte mir zu.
Was tut's, wenn einer von uns stirbt.
Wir geben keine Ruh'.«
3. Chicago und Al Capone
Eine andere Epoche, die zum Klischee des »bösen Chicago«, der Windy City, beigetragen hat, ist die Zeit der Prohibition in den 20er Jahren. Damals hatte der noch junge Gangster Johnny Torrio, die beherrschende Persönlichkeit der Unterwelt von Chicago, einen Einfall. Er rechnete sich aus, dass er das große Geld machen könnte, wenn er den illegalen Verkauf von Spirituosen in der Stadt unter seine Kontrolle brächte. Torrio holte sich als Lieutenant einen 23jährigen Neapolitaner aus New York, dessen Karriere in der berüchtigten Five-Points-Gang und als Schüler von Lefty Louie und Gyp the Blood begonnen hatte. Er versprach ihm die Hälfte aller Einnahmen aus dem Bootlegging-Geschäft, sofern es ihm nur gelinge, unliebsame Konkurrenten auszuschalten. Der junge Mann, der sich in dem Spielsalon »Vier Würfel« etablierte, hatte auf seinem Schreibtisch demonstrativ eine Familienbibel liegen und ließ sich Visitenkarten mit der Inschrift drucken: »Händler in Möbeln aus Zweiter Hand, 2220 South Wabash Avenue.« Der junge Mann hieß Al Capone. Heute bedient sich Chicago seiner Gestalt als Touristenattraktion! Innerhalb von drei Jahren verfügte er über eine Streitmacht von 700 Mann, die alle ausgezeichnet mit Gewehren mit abgesägten Läufen und den eben aufkommenden Thompson-Maschinenpistolen umzugehen verstanden.
Mitte der 20er Jahre war der Stadtteil Cicero fest in Capones Hand. Seine Agenten kontrollierten alle Spielsalons und 161 Bars. Und Capone war es, der darüber bestimmte, wer Bürgermeister in Chicago wurde. Die Summen, die er durch Schutzgelder einnahm, gingen in die Millionen. Torrio wurde immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Allerdings war die Errichtung von Al Capones Vorherrschaft nicht ohne Blutvergießen abgegangen. Die Standardmethode, einen Rivalen auszuschalten, bestand darin, seinen Wagen mit einem Auto voll schwerbewaffneter Männer zu verfolgen, ihn an den Randstein zu drängen, die Konkurrenz mit ein paar Salven vom Leben in den Tod zu befördern und dann im Verkehrsgewühl unterzutauchen.
Die Gang eines gewissen Dion O’Banion stellte eine Zeit lang eine Bedrohung für die absolute Herrschaft Capones über Chicago dar. Der Mord an diesem Konkurrenten hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Geschichte vom Judaskuss. O’Banion war ein Schwarzbrenner und Gangster bei Nacht, tagsüber betrieb er einen Blumenladen. Er kannte sich mit Orchideen ebenso gut aus wie mit Revolvern und Schnellfeuerpistolen. Eines Morgens hielt ein Auto vor seinem Blumengeschäft. Drei Männer stiegen aus, ein Vierter blieb hinter dem Steuer zurück. Die drei Männer traten im Laden auf O’Banion zu; offenbar war er mit ihnen vertraut. Der Mittlere unter den drei Besuchern schüttelte ihm die Hand und hielt ihn fest, während seine Begleiter sechs Schüsse auf ihn abgaben. Er war auf der Stelle tot. Die drei Gangster verließen seelenruhig das Blumengeschäft und fuhren in ihrem Auto davon. Sie kamen nie vor Gericht. O’Banion bekam ein pompöses Begräbnis, lag in einem Tausend-Dollar-Sarg, 26 Lastwagenladungen mit Blumen wurden herbeigeschafft, darunter auch ein Gebinde mit der Inschrift »Von Deinem Al«. 1926 bediente sich die O’Banion-Gang, trotz des Verlustes ihres Bandenchefs noch intakt, einer neuen Methode, die selbst in Kreisen der Unterwelt als höchst unfein bezeichnet wurde. Am helllichten Tag wagten sie es, Al Capones Hauptquartier im Hawthorn-Hotel mit Maschinengewehrfeuer aus acht Autos heraus zu belegen. Die Wagen fuhren langsam am Haus vorbei. Zunächst wurden Schüsse in die Luft abgegeben, um die Passanten zu warnen. Kaum hatten sich Capones Männer an Fenstern und Türen auf der Vorderseite postiert, rasten einige Wagen einen Block weiter und beschossen von dort die Rückseite des Gebäudes. Nachdem sich die Aufmerksamkeit im Hotel dorthin gewandt hatte, kniete sich vorn ein Mann aufs Pflaster und gab mehrere hundert Schuss in Richtung Empfangshalle ab. Der Bandenkrieg dauerte bis zum St. Valentins-Tag 1929. An diesem 14. Februar, um 9 Uhr 30 vormittags, warteten sieben Mitglieder der O’Banion-Gang in einer Garage in der North-Clark- Street auf eine Ladung schwarzgebrannten Schnaps. Plötzlich fuhr ein Cadillac in die Garage. Ihm entstiegen drei Männer in Polizeiuniform und zwei Zivilisten. Die Polizisten entwaffneten die sieben Gangster. Sie befahlen ihnen, sich in einer Reihe mit dem Gesicht gegen die Wand aufzustellen. Die Männer der O’Banion-Gang gehorchten. Sie waren an Polizei-Razzien gewöhnt und erwarteten, schließlich unbehelligt davonzukommen. Stattdessen brachten die Zivilisten eine Maschinenpistole in Anschlag und erschossen die mit erhobenen Händen wartenden Gangster. Dann fuhren sie mit den vermeintlichen Polizisten zusammen ab.
Das sogenannte »St. Valentins-Massaker«, das später sogar in einen Marilyn-Monroe-Film einging, und die Ermordung Jake Lingles, eines Mannes, der ein Doppelleben als Journalist und Gangster führte, in einem überfüllten U-Bahn-Waggon 1930 waren die spektakulärsten Ereignisse dieses Jahrzehnts. Insgesamt kam es in diesen Jahren zu rund 500 Morden, von denen die wenigsten aufgeklärt wurden. Man schätzt, dass Al Capone bis 1927 aus den Schutzgeldern pro Jahr etwa 60 Millionen Dollar einnahm. Seit seinem Auftauchen in Chicago 1920 war er zu einer Person, »so bekannt wie ein Boxweltmeister oder ein Millionär«, geworden.
American Memories
»Die Near North Side besteht zum vorwiegenden Teil aus sich hoch auftürmenden, teuren Apartment-Gebäuden und Nachtclubs. Hier versammeln sich die Junggesellen und junge Damen, die Karriere machen. Letztere teilen sich oft eine Wohnung. Das Viertel liegt bemerkenswert