Lift der Welt in 39 Sekunden. Darüber liegt noch das höchste Restaurant Chicagos, von dem man angeblich bei klarem Wetter 130 Kilometer weit nach Wisconsin, Indiana und Michigan sehen kann. Recht verloren unter diesen Riesen nimmt sich der alte Wasserturm aus, eines der wenigen Gebäude, die das Feuer von 1871 unversehrt überstanden haben. An ihm lässt sich die Entwicklung innerhalb der Stadt während nur eines Jahrhunderts eindrucksvoll ablesen.
5. Chicago – Zentrum moderner amerikanischer Literatur
Nach alledem, was wir bisher gehört haben, mag es erstaunen, dass Chicago seit dem 19. Jahrhundert zu einem Zentrum moderner amerikanischer Literatur geworden ist. In seinem 1883 erschienenen Leben auf dem Mississippi nennt Mark Twain die Stadt einen Ort, »wo sie ständig Aladins Wunderlampe reiben, um den Geist zu rufen, wo sie ständig neue Unmöglichkeiten ersinnen und vollbringen«.
Die im Zeichen bürgerlicher Wohlanständigkeit im neuenglischen Osten der USA entstehende Literatur Amerikas stand im krassen Gegensatz zur deprimierenden Kehrseite der Modernität des sich rasch entwickelnden Chicagos, dem Massenelend der Zu-Kurz-Gekommenen, das die theatralische Traumstadtkulisse der großen Ausstellung verbergen sollte. Die Urban Blight, die soziale Verwahrlosung, war in dieser Stadt seit der ersten Industriellen Revolution immer ein Problem. Tausende wurden in ghettoartigen Notquartieren zusammengedrängt. Daher ist es auch kein Wunder, dass die Stadt um die Jahrhundertwende ein Sammelpunkt für politische Radikale wurde. Ein Buch, das diese Problematik eindrucksvoll dokumentiert, stammt von der ebenso streitbaren wie gebildeten Jane Addams aus Cedarville, Illinois, die 1889 südwestlich des Loop in den wüstesten Slums der damaligen Zeit das sogenannte Hull-House gründete, das, wie es Hans Egon Holthusen genannt hat, »eine Art Kombination von Armenasyl, Nachbarschaftsklub und Kulturzentrum mit College-Charakter (bildete) und heute als nationales Kulturobjekt unter Denkmalschutz gestellt ist.« Jane Addams, die sich nicht nur für die Ärmsten der Armen einsetzte, sondern sich auch als Frauenrechtlerin einen Namen machte, wurde 1931 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
American Memories
»Das Outer Drive ist die Durchfahrtsstraße, die sich entlang des Sees fast durch die ganze Stadt hinzieht. Die Stadtväter waren sich bewusst, dass Autofahrer Zeitprobleme haben und bequem fahren wollen. Deswegen ließen sie achthundert Bäume im Jackson Park auf der South Side fällen.«
Studs Terkel,
Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen
Für die Schriftsteller der Gentile Tradition, zu denen im vorigen Jahrhundert die in Deutschland unbekannt gebliebenen Autoren Henry Blake Fuller, Robert Herrick und Hamlin Garland zu rechnen sind, wurden vor allem die Atmosphäre der Chicagoer Gründerjahre, die Aufsteiger und Baulöwen der »windigen Stadt«, die Vergötzung des Erfolgs zu Themen, die sie beschäftigten. Zur nächsten Generation gehört dann schon der auch in Deutschland bekannt gewordene Theodore Dreiser (1871 bis 1945) mit seinem 1900 erschienenen Roman Sister Carrie, der das Schicksal eines naiven Mädchens aus der Provinz, das in die Großstadt Chicago kommt, zum Inhalt hat. Waren die berühmten Schlachthöfe schon 1870 eröffnet worden, so wurde Upton Sinclair (1878 bis 1968) mit seinem Roman Der Dschungel von 1906 zu ihrem kritischen Chronisten. Sein Buch wiederum beeinflusste nachdrücklich Bertolt Brecht und spiegelt sich in dessen Lehrstück Die Heilige Johanna der Schlachthöfe. Upton Sinclair und Theodore Dreiser begründeten letztlich den literarischen Ruf dieser Stadt.
Über der sozialkritischen Literatur, die in Chicago immer eine Heimat hatte, wird leicht vergessen, welcher Einfluss von hier auf die literarische Moderne ausging. Es war Ezra Pound, der in Chicago den Kristallisationspunkt für eine neue amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts – später »Chicagoer Renaissance« genannt – sah. Pound prophezeite, dass im Vergleich mit ihr die italienische Renaissance ein »Sturm im Teekessel« gewesen sei. Seine Hoffnungen setzte Pound vor allem auf die Zeitschrift Poetry, gegründet 1912, und die Little Revue, die die bildschöne Margret Anderson als radikal-avantgardistisches Unternehmen 1914 gestartet hatte. Ab April 1918 erschien in ihr der Ulysses von James Joyce als Vorabdruck, was der Zeitschrift 1920 ein Gerichtsverfahren einbrachte. Beide Zeitschriften spielten eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung dreier bedeutender amerikanischer Lyriker. Da ist zunächst einmal Vachel Lindsay: Ein dichtender Vagabund aus Springfield, Illinois (1879 bis 1931), der 1913 mit dem Gedicht »General William Booth geht in den Himmel« eine Ballade auf den Gründer der Heilsarmee schrieb und dessen vielleicht berühmteste Verse »The Congo« den in dieser Zeit in Chicago aufkommenden Jazzrhythmus in ein episches Gedicht einfließen ließen.
»FAT black bucks in a wine-barrel room,
Barrel-house kings, with feet unstable,
Sagged and reeled and pounded on the table,
Pounded on the table,
Beat an empty barrel with the handle of a broom,
Hard as they were able,
Boom, boom, BOOM,
With a silk umbrella and the handle of a broom,
Boomlay, boomlay, boomlay, BOOM.
THEN I had religion, THEN I had a vision.
I could not turn from their revel in derision.
THEN I SAW THE CONGO, CREEPING THROUGH THE BLACK,
CUTTING THROUGH THE JUNGLE WITH A GOLDEN TRACK ...!«
Heute findet man vor allem seine Absicht, eine mündliche Tradition in der Lyrik wiederzubeleben, interessant. Zwei seiner populärsten Gedichte, »The Congo« und »The Santa Fe-Trail«, hat er selbst als den Versuch bezeichnet, die Vaudeville-Form auf die halb ausgesungene Lyrik der alten Griechen zurückzuführen. Viele seiner Gedichte tragen den Vermerk, man müsse sie unbedingt laut und in einer Art Sprechgesang vortragen.
Der zweite Dichter der Chicago-Renaissance ist Edward Lee Masters. Er wurde 1869 in Garnett, Kansas, geboren, wuchs in Kleinstädten des Mittelwestens auf und war zwischen 1891 und 1920 Anwalt in Chicago. Sein bekanntestes Werk ist der 246 Gedichte in freiem Rhythmus umfassende Zyklus Spoonriver Anthology (deutscher Titel: Die Toten von Spoon River). In seinen Gedichten kommen die Einwohner einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt zu Wort, die gewissermaßen aus dem Grab heraus Rückschau auf ihr Leben halten und, indem sie von ihren Frustrationen, ihrer Isolation und der Macht des Neides berichten, den Mythos von der kleinstädtischen Idylle aufheben. Masters ist in der Tradition eines Walt Whitman zu sehen; seine realistische, desillusionierende Lyrik bildet das Verbindungsglied zu Sherwood Anderson und seinem Werk Winesburg, Ohio. In ge-wissem Sinn war dieser, von seinem Schüler allerdings verspottet, Ernest Hemingways Lehrer. Hemingway stammt aus Oakpark, einem vornehmen ländlichen Vorort von Chicago. Die Landschaft der Prärie und des Michigan-Sees bilden die Kulisse für viele seiner Kurzgeschichten.
Die Zeitschrift Poetry war es, die schon 1914 die Eröffnungsverse aus den Chicago Poems von Carl Sandburg ihren Lesern vorstellte. Sandburg, Sohn eines eingewanderten Eisenbahnarbeiters, der später auch durch seine dreibändige Abraham Lincoln-Biographie bekannt wurde, wurde zum repräsentativen Lyriker seiner Generation im Mittelwesten. Auch er kam aus der Tradition eines Walt Whitman und versuchte, aus der Umgangssprache seine Lyrik zu formen. Voller Pathos verstand er sich als der Barde des einfachen Mannes. Verse wie »Schweinemetzger für die Welt // Werkzeugmacher, Weizenstapler, Spieler mit Eisenbahnen und Frachtverteiler der Nation // Stürmisch, rüde, lärmerfüllt // Stadt der breiten Schultern« kennt noch heute jeder lokalpatriotisch gesinnte Einwohner Chicagos auswendig. Dass die akademischen Kritiker in New York über solche Zeilen die Nasen rümpften, focht den Dichter nicht an, der darauf erwiderte: »Hier haben wir den Unterschied zwischen uns und Dante. Dieser schrieb eine Menge über die Hölle, ohne sie je gesehen zu haben. Wir schreiben über Chicago, nachdem wir uns genau dort umgesehen haben.«
Für