Frederik Hetmann

Route 66


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Phänomen. Was heute als New-Orleans-Stil gilt, ist nicht der archaische, auf Schallplatten kaum existierende Jazz, der in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in New Orleans gespielt wurde, sondern die Musik, welche die aus New Orleans stammenden Musiker in den 20er Jahren mit nach Chicago brachten.

      Zur gleichen Zeit kamen durch eine starke Einwanderungsbewegung von Schwarzen auch Blues-Sänger aus den ländlichen Bezirken der Südstaaten in die Stadt. Es waren Leute, die zuvor in ihrer alten Heimat mit Gitarre und einem Bündel von Plantage zu Plantage gezogen und dort den in unsauberen Tönen intonierten Folk-Blues gesungen hatten. Unter dem Eindruck der Großstadt veränderte sich der ländliche Blues. Vieles trug auch dazu bei, dass seine Sängerinnen sich mit den aus New Orleans nach Chicago emigrierten Jazz-Instrumentalisten zusammentaten und in der South Side von Chicago auftraten.

      Die jungen Leute – Schüler, Studenten, Amateure –, die in die Jazz-Lokale der South Side gingen und den Blues wie auch die New-Orleans-Bands hörten, begannen, diese Musik begeistert nachzuahmen. Daraus entstand der Chicago-Stil. Er ist gekennzeichnet durch eine Folge von Soli, die man »Chorusse« nennt. In ihm gewinnt als Instrument das Saxophon jene Bedeutung, die es seither in der Jazzmusik hat. Der vielleicht hervorragendste Vertreter des »kühlen« Chicago-Stils war der Kornettist Bix Beiderbecke. Sein früher Tod ließ ihn zur Legende werden, und die amerikanische Schriftstellerin Dorothy Baker machte ihn in ihrem Roman Young Man With The Horn zu einer literarischen Figur.

       American Memories

      »Wenn du den Blues nicht magst, musst du ein Loch in deiner Seele haben.«

      Jimmy Rogers, Blues-Gitarrist

      Noch einmal, in den 50er Jahren, kreuzen sich die Wege von Jazz und Literatur. In der Beat Generation versucht Jack Kerouac, die Rhythmen des Bebop in die Prosa seiner Romane zu übertragen. Unvergesslich für jeden Jazz-Fan und begeisterten Leser Kerouacs, wie er in seinem Roman Unterwegs seine Eindrücke als Tramp in Chicago schildert:

      »Ich kam recht früh am Morgen in Chicago an, fand ein Zimmer im YMCA und ging mit sehr wenig Geld in der Tasche zu Bett. Nach einem guten Tagesschlaf machte ich mich über Chicago her. Der Wind vom Michigan-See, Bebop auf dem Loop, lange Spaziergänge in South Halsted und North Clark, und ein langer Spaziergang nach Mitternacht in das ›Dschungelviertel‹, wo mir ein Patrouillenwagen folgte, weil er mich für eine verdächtige Figur hielt. Zu jener Zeit, 1947, stand ganz Amerika wie wahnsinnig auf Bebop. Die Typen auf dem Loop bliesen ihn, aber mit müden Mienen, denn der Bebop befand sich gerade in einem Übergangsstadium zwischen Charlie Parkers ›Ornithology‹-Periode und einer anderen, weniger hitzigen, die mit Miles Davis einsetzte. Und da saß ich und lauschte den Tönen der Nacht, deren Inbegriff Bebop für uns alle geworden war; und ich dachte an all meine Freunde von einem Ende des Landes zum anderen, und wie sie eigentlich alle in demselben Hinterhof irre und rasende Dinge trieben.«

       8. Wie alles begann: Der Mann, der die Route 66 schuf

      Der stilbewusste Reisende beginnt seine Fahrt über die Route 66 in Lou Mitchell’s Restaurant am 565 W. Jackson Boulevard, wo man seit 1923 von 5 Uhr 30 am Morgen bis 15 Uhr nachmittags frühstücken kann. Bis 8 Uhr morgens ist das Parken kostenlos. Ein Danish von Mitchell’s soll eine gute Wegzehrung sein! Von einer anderen Besonderheit des Restaurants hörte ich erst später: Jeder weibliche Kunde erhält kostenlos Milk-Duds. (Ich konnte nicht herausfinden, ob es sich dabei um ein Gebäck, ein Getränk oder vielleicht Sahnebonbons handelt!) Also, meine Damen: Auf zu Lou Mitchell’s und stellen Sie es fest!

      Aber zurück zur Route: Es wäre eine Schande, sie zu befahren, ohne nicht wenigstens eine Ahnung davon zu haben, wie sie überhaupt entstanden ist.

      Als Cy Avery vierzehn Jahre alt war, zog er 1885 mit seiner Familie nach Oklahoma. Sie kamen aus Pennsylvania, und zwar mit dem Pferdewagen. Die Reise, die drei Monate dauerte, ließ den jungen Mann zu einem lebenslangen Vorkämpfer für ein gutes Straßensystem werden. Nachdem er an einem College in Missouri graduiert hatte, verkaufte er Versicherungspolicen und Grundstücke in Oklahoma, lebte zunächst in der Kleinstadt Vinita, darauf in Oklahoma City und dann in Tulsa.

      Er selbst verbrachte dort wohl mehr Zeit in Gesprächen mit seinen Kunden über gute Straßen als über Versicherungspolicen. Er trat mehreren Gesellschaften bei, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Straßenbau zu fördern. 1913 wurde er zum Straßenbau-Kommissar von Tulsa County gewählt. Unter den ersten Neuerungen, die er einführte, war ein Straßen-Qualifikationssystem. 1915 war er Oberaufseher bei einer Gruppe von Sträflingen, die eine Straße von Colorado durch Oklahoma nach Arkansas bauten. 1924 schließlich ernannte man ihn zum Straßenbau-Kommissar des Staates Oklahoma. In einer seiner Denkschriften heißt es: »Mit den Highways (der amerikanischen Version der Schnellstraße) kommt eine Fusion verschiedenartiger Lebensformen, die der Stadt und die des Landes, auf uns zu. Ihr Bau verlangt nach einer neuen Konzeption, nach einem neuen Bewusstsein. Unsere großen Städte sind Abstraktionen. Ihre überkommene Form datiert aus den Tagen der Ochsenkarren und der von Mauern umgebenen Ortschaften. Ihre modernen Realitäten aber – Wasserversorgung, Abwassersystem, Eisenbahnen und vor allem menschliche Wesen – übersteigen die künstlichen politischen Grenzen. Statt Städten entstehen großstädtische Gebilde. Zurück zur Farm mag eine überholte Forderung sein. Dezentralisation ist es nicht. Wir müssen uns auf die Veränderungen, die sich daraus ergeben, vorbereiten.«

      Cy war ein kleiner, dünner Mann, den nie jemand hatte rennen sehen, der aber auch nie still sitzen oder still stehen konnte. Die Veränderungen, die er bei Übernahme seines Amtes in der Handelskammer voraussah, bedeuteten, dass der Bund mehr für den Straßenbau tun musste. Dafür setzte er sich ein.

      »Motorverkehr macht weder an den Grenzen des County halt noch an den Grenzen der Bundesstaaten. Die Straßen Amerikas müssen ihre Aufgabe bei der Vermittlung der landwirtschaftlichen Produkte erfüllen und damit einen nationalen Charakter annehmen«, predigte Cy. Sein Pech war, dass der damals amtierende Präsident Coolidge sich nicht dazu bewegen ließ, zusätzliche Bundesmittel zum Straßenbau zur Verfügung zu stellen. Bis 1918 gab es nur 3000 Meilen Poststraßen, die mit Geldern der US-Regierung gebaut worden waren. Aber als die Doughboys, die nach ihren flachen Helmen benannten amerikanischen Soldaten, aus dem Ersten Weltkrieg heimkamen, kauften sich viele die T-Modelle von Ford. Bis dahin war das Auto ein Hobby der reichen Leute gewesen. Das änderte sich nun. Wie übrigens dann auch noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte eine junge Generation den amerikanischen Traum vom Unterwegssein neu. 1925 erreichte Cy ein Brief des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums, in dem man ihm mitteilte, man habe vor, ein System von Interstate-Straßen nationaler Bedeutung zu entwickeln. Für dieses Straßennetz würde die Bundesregierung pro Meile 30.000 Dollar zur Verfügung stellen. Sei Mister Avery bereit, bei diesem Projekt als Berater mitzuwirken? Nichts, was er lieber getan hätte. Es gelang ihm schließlich sogar, Mitglied des aus fünf Männern bestehenden Gremiums zu werden, das die eigentlichen Entscheidungen traf.

      Als Thomas Jefferson für drei Cent pro Acre das riesige Louisiana-Territorium kaufte, hatte er die Vision, dass ein dichtes Straßennetz das gewaltig größer gewordene Land verbinden sollte. Nun, über ein Jahrhundert später, machten sich Cy und die anderen Mitglieder des Ausschusses daran, ein solches Netz zu entwerfen. Die von Ost nach West verlaufenden Straßen sollten die geraden Nummern erhalten, und zwar von Norden nach Süden ansteigend. Für die Straßen in Nord-Süd-Richtung hingegen waren die ungeraden Zahlen vorgesehen, mit den niedrigsten Nummern im Osten. Bereits bestehende Trassen sollten anfangs noch genutzt, später dann asphaltiert werden.

      Das Glanzstück in diesem Plan sollte eine Route sein, die Chicago mit Los Angeles verband. Dass diese Verbindung plötzlich so wichtig wurde, hatte klar benennbare Gründe. Immer mehr geschäftliche und persönliche Beziehungen bildeten sich in diesen Jahren zwischen Chicago und Los Angeles heraus. Der kalte Winter des Jahres 1907 drohte etwa der von einem gewissen Francis Boggs betriebenen kleinen Filmfirma den Garaus zu machen. Nur die Innenaufnahmen von Boggs Zwölf-Minuten- Streifen »Der Graf von Monte Christo« waren im Kasten, als der Schneefall den Dreharbeiten im Freien ein Ende setzte. Boggs und seine Mannschaft zogen in den Westen, um sich nach einem günstigeren Klima