Ulrich Land

Messerwetzen im Team Shakespeare


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sie überm Kopf zusammengeschlagen hatte, wieder runter, wischte sie mit derselben flüchtigen Geste wie ihre Chefin am groben Linnen ihrer Schürze ab, um sich dann ächzend – sie war schließlich nicht mehr die Jüngste – auf die Knie zu begeben und emsig die Scherben einzusammeln und zu einem amorphen Gebirge auf dem Tablett aufzutürmen.

      Kyds Augen wurden magnetisch angezogen von diesem Bild verzweifelter, dennoch sedierter Betriebsamkeit, so dass er nur grade eben noch am Rand des Blickfelds mitbekam, wie Frizer nach hinten weg in den finstren Flur huschte. Während sich seine zwei Kumpane nun auch aufrappelten. Der erste kämpfte gegen den bleiernen Schlaf, der ihm in Gliedern und Lidern steckte.

      Na, wenn bei dem die Promille man nicht auch schon im Prozentbereich lagen! Ausreichend zugelangt hatte er ja!

      Der Bursche taumelte, so schnell ihn die schwammigen Füße trugen, seinem Master hinterher. Die zerknautschte Zeitung in der Ecke des Raums verriet, dass sie ihm wohl weniger als Lektüre, denn als Kopfkissen gedient hatte, bevor er sie hektisch von sich geschmissen hatte, als Frizers Aktion ihn aufschreckte. Sein Kollege …

      … garantiert den wimmernden Gameboy mit blinkendem Display in der Hand …

      … hob in einem Anflug von Zuvorkommenheit …

      … oder unterm Eindruck einer Attacke des schlechten Gewissens, egal, kommt aufs Gleiche raus …

      … eine der Bierkrugruinen auf und stellte sie der Housemaid auf das Tablett mit der alpinen Trümmerlandschaft. Die gute Seele aber hielt ihr Servierbrett vor Verblüffung so schief, dass der zerbrochene Krug im Handumdrehn ins Rutschen kam und, die bereits aufgeklaubten Scherben mit sich reißend, eine Lawine aus Porzellan- und Keramikschotter auf die Bodenbohlen niedergehn ließ. Worauf die Alte sich ein weiteres Mal mit unermüdlicher Hingabe dem Scherbenhaufen widmete, während Frizers zweiter Bundesgenosse …

      … der Bierhumpenversteher …

      … im Eiltempo das Weite suchte, offensichtlich bemüht, seine Kollegen einzuholen.

      Kyd stand immer noch wie angewurzelt im Flur, als Witwe Bull die Stiege hinaufächzte, getragen von der ungemütlichen Erkenntnis, dass die zugespitzten Ereignisse dort oben ihren höchstpersönlichen Einsatz, zumindest aber ihre Anwesenheit verlangten.

      »Was ist das für ’n Radau hier oben?!«, moserte sie lauthals wie zum Hohn der Tatsache, dass sie damit selbst nicht gerade wenig zu dieser Lärmkulisse beitrug. »Und wo, bei allen schwarzen Engeln der Unterwelt, wo ist der Lumpensack, der hier die Zeche prellen will?«

      »Niemand«, ging Kyd dazwischen, »niemand will hier die Zeche prellen. Blödsinn. Hier geht’s weiß Gott um ganz was andres!«

      Worauf Eleanor Bull kurz davorstand, einen epileptischen Anfall aus ihrem Hysterie-Werkzeugkoffer zu ziehen. »Wie was? Wurde doch grad eben lauthals durchs Treppenhaus gerufen. Also!«

      Wissen Sie, es gibt ja so Nasen, und die olle Bull hatte eine solche, die einem einfach Respekt einflößen. Schon im Standby-Modus. Aber jetzt, in diesem Augenblick, da bin ich mir sicher, jetzt müssen die Flügel ihrer kolossalen Nase, die sich da kartoffelknorrig unter dem ausufernden Haarschopf hervorhob, gebebt haben, dass einem wahrhaftig angst und bange werden konnte. Auch das Haargestrüpp auf ihrem Schädel wirkte immer dann, wenn nicht alles rund und nach Plan lief, noch roter als sonst, schien gradezu nach der Feuerwehr zu schreien und muss angesichts der Turbulenzen damals, zack, unter den Haarbändern hervorgeschnellt sein, mit deren Hilfe sie allmorgendlich mühselig, doch erfolglos versuchte, ihrer Strähnen und Wirbel Herr zu werden. Und auf ihrer buckligen Stirn haben die tief eingekerbten Längsfalten – da geb ich Ihnen Brief und Siegel drauf – einen irrwitzigen Derwischtanz aufgeführt, Hand in Hand mit den senkrechten Furchen, die überm Nasenbein Richtung Haaransatz aufstiegen. Alles an ihr wird den Eindruck erweckt haben, als müsse es davor bewahrt werden, aus dem Ruder zu laufen und sämtliche Regeln der Contenance mit Füßen zu treten. Worum sie sich übrigens – mal abgesehn von ihrer hyperaktiven Augenbraue – nicht im Mindesten zu scheren pflegte.

      Einmal in Fahrt gekommen, polterte Widow Bull los, ohne noch irgendwelche Verwandten zu kennen: »Versuch er nicht, … wie war doch gleich der Name? Kyd? … versuch er nicht, hier ein allzu berechtigtes Donnerwetter abzuwenden. Das nämlich kommt, kommt auf jeden Fall. So sicher, wie der Blitz in St Paul’s Cathedral fährt. Erst zu vier Kerlen ’nen ganzen Tag hier rumhocken, fürstlich speisen und pokulieren, und dann nicht zahlen wollen! Ich werd euch den Geldbeutel schon lockern, und wenn ich Walsingham selbst herbeizitieren muss!«

      Die Housemaid hatte inzwischen das Scherbengericht wieder leidlich auf ihrem Tablett aufgeschichtet, richtete sich auf und warf endlich einen zweiten Blick in jenes unheilvolle Zimmer. »Das ist ja, darf doch nicht«, schrillte sie, von jetzt auf gleich um weitere Jahre gealtert, »darf doch nicht wahr sein, ist ja … Kann nicht mehr zahlen, der Bursche. Weder zahlen noch prellen! Toter Mann kann sich nicht in die Tasche packen.«

      »Tot?« – Auch Witwe Bull schickte sich an, die letzten Schritte zur Schwelle des Zimmers zu absolvieren, während Kyd immer noch schockgefroren in der Flurnische verharrte, in der er eben zum Stehen gekommen war. »Tot?«, kreischte die Witwe noch mal und fuhr ihre Bedienstete an: »Old Maid, du sollst dir bei der Arbeit keinen auf die Lampe gießen, wie oft soll ich das noch sagen!«

      In diesem Augenblick schoss Helen um die Ecke und jaulte: »Wer ist tot, soll tot sein?«

      Crime time is nice time.

      Kyd nahm sich ein Herz …

      Was, wie? Echt? Im Mai ’93 erst? Wo’s Marlowe ans Fell ging, sollen die unsern Kyd noch in den Folterkellern in Bridewell zwischengehabt haben? Ja, aber wer, wer hat mir denn dann die ganze Nummer, die sich da am 30. Mai in dieser Pinte in Deptford zugetragen hat, erzählt? Wollen Sie mir das vielleicht mal sagen? Nee nee, solang die Herrn mir das Gegenteil nicht mit Dokumenten und Quellen beweisen, geh ich davon aus, dass sich die verdammten Kerkermeister und Folterknechte unsern Kyd schon im März, April geschnappt hatten, um ihn – hübsch zugerichtet – paar Wochen später wieder laufen zu lassen, nachdem er ihnen geflüstert hatte, was sie hören wollten. Und also hat er das Marlowe-Drama unterm Dach der Widow Bull brühwarm mitgekriegt. – Ja ja, halt ich auch für’n Gerücht. Alles Quatsch. Der war zwar echt geknickt, um nicht zu sagen: ’n gebrochener Mann, aber dass er im Sommer drauf schon die Augen zugemacht haben soll – blanker Unsinn! Sommer ’94, das glaub, wer will. Niemals! Der ist auf jeden Fall die nächsten paar Jahre noch mit dabei gewesen, bevor er endgültig platt war. – Ich sag doch: Das kann nicht sein! Ich mein, sicher, der Vogel hatte sich mächtig vergeigt, hatte mit seiner Quatscherei fast unser ganzes Projekt aufs Schafott getragen. Aber wir haben ihn trotzdem nicht rausgeschmissen. Im Gegenteil: haben ihn aufgefangen, als er einen Depri nach dem andern schob. Jedenfalls: Kyd ist und bleibt mit von der Partie. Basta.

      Kyd nahm sich ein Herz und beugte sich so weit aus seinem Zufluchtsort in diesem unseligen Flur, dass er durch die offen stehende Tür aufs Bett sehen konnte. »Christopher – Chris! – Weg da!« Er schob die bleiern dastehende Wirtin unsanft zur Seite und war mit drei Schritten bei Marlowe, der mit dem Gesicht ins Kissen gepresst, reglos dalag. »So helft mir doch!«, schrie er die untätigen Ölgötzen um sich herum an. Aber die – keine Regung! Keiner. Nicht die kleinste. Also drehte Kyd Marlowe kurzerhand allein auf den Rücken, um … und prompt kam der leblose Leib ins Rutschen.

      Da war Helen endlich auch zur Stelle, griff Marlowe und Kyd unter die Arme und raunzte die fassungslose Housemaid an: »Haltet nicht Maulaffen feil, packt mit an!«

      Wäre eh zu spät gekommen. Marlowe, nicht sonderlich lebendig, war schon im Rutschen begriffen und stürzte ab wie ’ne infizierte Festplatte.

      Die alte Hausbedienstete verharrte ebenso in Regungslosigkeit wie ihre Chefin, die sich krampfhaft am Türpfosten festhielt. Kyd und Helen schafften es trotzdem. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den eigenartig schweren Marlowe wieder aufs Bett zu hieven. Kyd versagte die Stimme – während die Housemaid die wohlgeformten, aber alles andere als stabil über die Lippen gebrachten Worte »Da tut sich nichts mehr, mausetot; Blut mit Bier, schäumt schön« auswarf.

      Hinter Kyds Stirn baute