Reiner Hänsch

100.000 Tacken


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schaut uns ganz traurig hinterher. Der arme Kerl.

      „Kauft es. Sieb’n Prossent!“, ruft er uns hinterher und dann weint er, glaube ich.

      Die frische Luft ist ein echter Schock und bringt mich fast um das Gleichgewicht. Aber dann fange ich mich wieder und Steffi bugsiert mich geschickt zu unserem alten Volvo, den wir nach einiger Zeit auch ohne Zwischenfälle erreichen.

      Ich drehe mich dann aber noch mal sehnsüchtig um und sehe auch Freund Willi jetzt in äußerst gewagten Schleifen auf seinen Mercedes zuwanken. Er schließt ihn sorgfältig auf, lässt noch ganz nebenbei einen hintenraus knattern, weil er sich ganz alleine wähnt, und dann fährt er mit Vollgas von dannen.

      „Wir meld’nuns, Willi!“, rufe ich ihm hinterher, aber er hört mich natürlich nicht mehr.

      Im selben Moment biegt ein Lieferwagen um die Ecke und hält direkt vor unserem Haus an. Elektro Stankozi steht in großen dicken Lettern an der Seite und darunter der flotte und sehr sinnige Spruch Hast du’n Kurzen in der Dosi – Stankozi!.

      Zwei kräftige Männer in blauer Arbeitskleidung und großen Westernhüten steigen bedächtig aus, werfen ihre Zigaretten in hohem Bogen auf die Straße und sehen sich lauernd nach allen Seiten um. Sie stehen breitbeinig vor ihrem Lieferwagen und ich warte nur darauf, dass sie in der nächsten Sekunde ihre Colts aus den Blaumännern ziehen und wild auf bisher unsichtbare Verfolger schießen. Aber sie sehen sich nur um, der eine rückt seinen Cowboyhut zurecht und dann betreten sie mit zwei schweren Werkzeugkästen das Haus.

      „Macht mir bloß nix kaputt!“, rufe ich ihnen zu und dann knallt Steffi meine Tür zu.

      Unser guter, alter Volvo nimmt den Gestank des Takis Orakels dankbar an und wir donnern los.

      ***

      Ich hatte einen Traum.

      Es war eine wunderschöne, laue Sommernacht und ich saß mit vielen Menschen an einem großen, langen Tisch, der im Hinterhof unseres grauen Hauses in Arnsberg stand. Es waren unsere Menschen. Alle Bewohner des Hauses Ruhrstraße 214 waren anwesend und der Grill räucherte munter vor sich hin. Takis lautes Lachen übertönte sogar das Geschrei des kleinen Göktürk-Monsters, das ab und zu eine kleine Ohrfeige bekam, und Takis schnitt immer wieder kleine, dünne Schnipsel von dem gewaltigen Gyrosspieß ab, der sich goldbraun und saftig vor der Glut drehte. Ab und zu kniff er seine Frau wolllüstig knurrend in den Hintern.

      Herr Horstkötter hatte seine gesamte Marschmusik-CD-Sammlung samt Plattenspieler in den Hof getragen, spielte ein Meisterwerk nach dem anderen ab und marschierte dazu im Takt stramm hin und her. Frau Göktürk hatte ihren Riesenfernseher in den Hof geschleppt und Herr Wukuada, Herr Nguyen und das Ehepaar Bolschakow saßen einträchtig davor und verfolgten eine sehr interessante Diskussion.

      Die Libanesen hatten ihren Schlangenbeschwörer dabei und eine seiner Kobras schlängelte friedlich zischend zwischen den Gartenstühlen umher. Der Herr Maharadscha hatte seinen Tiger vorsichtshalber an die Leine gelegt, damit er die Schlangen nicht beißt oder umgekehrt. Und alle vertrugen sich ganz wunderbar. Selbst die Araber sangen gemeinsam mit Herrn Bhattacharya den Rhythmus des Radetzky-Marsches mit. „Tadda-buff-tadda-buff-tadda-buff-tata.“

      Und alle trugen bunte T-Shirts, die Herr Wozniak in seiner kleinen Druckerei gefertigt hatte und auf denen in liebevoll geschwungenen Lettern zu lesen stand: „Knippschilds – we love you!“ Daneben prangte ein rotes Herz. Herr Wozniak selbst war nicht dabei.

      Ach, es war so schön. Multikulti. Ein paar Hühner trotteten gackernd um uns herum und pickten fröhlich und dankbar alles auf, was uns herunterfiel. Nur Willi Dunkeloh saß in einer Ecke und schüttelte andauernd den Kopf.

      Auch Steffi hatte einen Traum.

      Allerdings in gewissen Dingen grundlegend anders als meiner, wie ich dann erfuhr. Auch sie hatte von einer großen Feier geträumt, die bei ihr allerdings im Nebel vom Takis Orakel stattfand. Frau Bolschakow spielte finstere russische Balladen auf einem stählernen, rostigen Klavier und Wukuada übergoss Willi Dunkeloh mit schwarzem Frittenöl. Herr Horstkötter trug sein klassisches Unterhemd, das allerdings in Fetzen an ihm herunterhing, weil Herr Nguyen ihn mit seinem Sportrad überrollt hatte, und das Schutzblech sich sehr unglücklich im Feinripp verfangen hatte. Horstkötter schimpfte und nervte, und die Araber banden ihn daraufhin auf Takis‘ Grill, um ihm endlich mal Feuer unterm Arsch zu machen, dem alten Nazi. Herr Bhattacharya hetzte dann seinen Tiger auf die Libanesen, um ihn zu retten, aber der blöde Tiger fiel lieber über Frau Göktürk her, die deswegen auch laut um Hilfe brüllte. Ihr betrunkener Ehegatte aber saß teilnahmslos an einem der Plastiktische und Takis ersäufte ihn lachend im Ouzo. Nguyen und Wukuada kochten im hinteren Bereich Hunde, die schon lange nicht mehr bellten, und Helmut Vonderbrake, unser Klempner, warf eine schwarze Kloschüssel aus dem zweiten Stock, die laut krachend vor dem Grill zerplatzte.

      Wieder wachen wir ziemlich gleichzeitig auf und Steffi sagt schweißüberströmt: „Meinst du echt, wir sollten dieses Haus kaufen?“

      „Ja, warum denn nicht, Steffi? Es ist doch sehr schön“, antworte ich fröhlich. Das fällt mir natürlich auch sehr leicht, denn ich hatte ja diesen wunderbaren Traum.

      „Aber diese Leute!“, sagt Steffi.

      „Ach“, versuche ich sie zu beruhigen, „die sind doch alle sehr nett. Ja, gut, vielleicht ist der eine oder andere etwas gewöhnungsbedürftig, zum Beispiel dieser schreckliche Horstkötter. Und die Göktürks, naja, ich weiß noch nicht … Aber du wirst sehen, Steffi, schon bald werden wir gemeinsam mit ihnen schöne Feste im Hinterhof unseres Hauses feiern.

      Hauptsache, die Substanz ist gut! Sieben Prozent! Wahnsinn. Und dann der Preis! Und wie du den eiskalt runtergehandelt hast. Meine Güte, Steffi, bist du cool.“

      Steffi sagt dann nichts mehr und geht ins Bad.

      „Sieh dir doch nur mal an, was uns der Willi gegeben hat. Das sind die Zahlen. Die lügen nicht“, sage ich am Frühstückstisch und reiche ihr die Papiere, die Willi Dunkeloh in seiner schwarzen Mappe mit sich herumgetragen hat und die Steffi gestern glücklicherweise noch aus dem Takis Orakel mitgenommen hatte. Ich hätte sie glatt vergessen. Aber heute Nacht habe ich sie noch mal heimlich studiert. Ich hatte den kurzen, schnellen Ouzo-Rausch irgendwann endlich hinter mir und musste einfach noch mal aufstehen. War nicht mehr müde und hatte außerdem mächtig Durst nach dem gut gewürzten Gyros.

      Und da habe ich mir Willis Papiere angesehen. Das Exposé, wie man so was ja nennt.

      Es war zwar alles etwas kompliziert, aber die wichtigen Sachen waren ja dick unterstrichen. Und das waren die Mieteinnahmen und die Darlehenskosten für eine Finanzierung. Und das sah verdammt gut aus. Es sollten nach Willis Rechnung so jeden Monat etwa Zweitausend Euro übrig bleiben.

      Zweitausend! Das muss man sich mal vorstellen! Für nichts und wieder nichts. Bloß, weil die Leute in unserem Haus wohnen und Miete zahlen!

      Und dass wir ja selbst dank Onkel Günter über ganze hunderttausend Euro verfügten, wusste Willi ja gar nicht, als er dieses Exposé erstellt hatte. So hoch werden die Finanzierungskosten also gar nicht sein.

      „Sieben Prozent! Das ist der Wahnsinn!“

      „Wie, sieben Prozent?“, fragt Max und beißt lässig in sein Marmeladenbrot.

      „Erklär ich dir im Auto. Komm, Max, wir müssen los! Du hast noch Marmelade an der Backe.“

      Und dann gehe ich mit Max zum Auto, um ihn zur Schule zu bringen und selbst zur Redaktion zu fahren.

      „Sieh’s dir mal genau an, Steffi. Es lohnt sich wirklich. Willi hat recht. Das ist der Hammer! Wir sollten es kaufen.“

      „Was sollen wir kaufen, Papa?“, fragt Max und ich erkläre ihm dann auf der Fahrt in seine Schule, dass die Familie Knippschild demnächst relativ breitspurig ins Immobiliengeschäft einsteigen wird.

      „Geil“, sagt er nur. Na bitte.

      Und dann sagt er noch: „Marvins Eltern haben auch so ein Mietshaus.“