Thomas Matiszik

Blutgeschwister


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mit Ihnen passiert? Sie klingen so, als hätten Sie den Mund voller Wattepads? Ich hab nur Bahnhof verstanden. Egal, ich brauche Sie. Und zwar jetzt! Gesine ist immer noch nicht aufgetaucht, ihre Geschäftspartnerin sagt, sie sei heute Morgen nicht im Büro erschienen. Ihr Handy ist ausgeschaltet, was völlig untypisch für Gesine ist. Ich verwette meinen Arsch darauf, dass ihr etwas zugestoßen ist!“ Bei den letzten Worten verlor Heppner völlig die Fassung und brach in lautes Schluchzen aus. Modrich versuchte, das Ganze herunterzuspielen und seinen Chef zu beruhigen. „Gab es eventuell Streit zwischen Ihnen in letzter Zeit? Vielleicht ist sie ja einfach nur zu ihrer besten Freundin, um ein paar Tage Ruhe zu haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wer sollte Ihrer Frau denn etwas antun wollen? Sie ist doch wirklich eine absolute Sympathieträgerin. Kommen Sie, Kurt, Hand aufs Herz: Gab’s Stress? Hat Gesine sich beschwert, dass Sie zu selten und zu spät nach Hause kommen? War sie am Ende eifersüchtig?“ Es schien fast so, als habe Peer einen Knopf gedrückt. Allerdings den Falschen. Deeskalation war links, er hatte rechts erwischt. Dort, wo „Vulkanausbruch“ stand. „Jetzt hören Sie mal gut zu, Sie Schimanski für Fußgänger, Sie Möchtegern-Emil-Zatopek: Gesine und ich haben keinen Stress, jedenfalls nicht mehr oder weniger als andere Paare! Aber, und das bleibt unter uns, sie hat anonyme Drohanrufe bekommen. Irgendjemand wollte sie ‚zur Rechenschaft ziehen‘. Vor ein paar Tagen kam sie abends nach Hause und war völlig aufgelöst, weil sie offenbar bis zum Auto verfolgt worden war. Wir haben das noch nicht so ernst genommen, weil es einfach zu wenig Konkretes gab, dem man hätte nachgehen können. Jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war, meine Frau nicht eher zu schützen. Und deshalb bitte ich Sie jetzt noch ein letztes Mal: Schwingen Sie Ihren Marathonarsch hierhin, lassen Sie den Fall mal beiseite. Ich erwarte Sie in spätestens fünfzehn Minuten bei mir zu Hause!“

      12

      „Gibt es was Neues von Modrich?“ Kruschek hatte mit Guddi die Backstage-Garderobe verlassen, um Stefanie Mellinger ein wenig Zeit zu geben, wieder auf Raumtemperatur herunterzufahren. Ihr verbaler Ausraster hatte etwas Psychotisches, das Kruschek Angst einflößte, allein Guddi war sich nicht sicher, ob Mellinger wirklich reif für die Psychiatrie war oder einfach nur eine geniale Schauspielerin. Immerhin hatte sie sich als Zeugin freiwillig gemeldet. Alles in allem war ihr Verhalten mehr als seltsam, es würde definitiv Sinn machen, einen Psychologen zurate zu ziehen. Oder Modrich?! Richtig, wo steckte er eigentlich? War er immer noch im Prosperhospital? Modrich wäre früher in so einer Situation sicherlich keine Hilfe gewesen, doch seitdem er sein Leben in die Hand genommen und auch noch in den Griff bekommen hatte, war aus ihm ein echter Verhörspezialist geworden. Seine Menschenkenntnis war bisweilen beängstigend treffsicher, seine Strategie während einer Zeugenvernehmung nur selten von außen zu durchschauen. Selbst erfahrene Kriminalisten wie Guddi zollten ihm mittlerweile den größten Respekt. Das war nicht immer so. Guddi erinnerte sich nur zu gut an die ersten Wochen nach dem Abschluss der Akte „Karl Ressler“, als Modrich noch wie ein führerloses Schiff durch die vom Sturm aufgepeitschte See trieb. Er hatte nach seinem letzten Absturz zwar aufgehört zu rauchen und zu saufen, war aber trotzdem für den polizeilichen Dienst absolut ungeeignet und erschien in schöner Regelmäßigkeit verspätet zum Dienst. Dabei mochte man ihn weder anschauen noch mit ihm reden, er war stark abgemagert und völlig lethargisch. So eine rigorose Ernährungsumstellung schien offenbar auch Nachteile zu haben.

      Guddi schaute auf ihr Smartphone, das sie während des Verhörs von Stefanie Mellinger auf stumm geschaltet und zur Seite gelegt hatte. ‚Muss dringend zum Chef. Komme später wieder zur Halle. Kann noch immer nicht richtig sprechen. Melde mich! Peer‘

      „Wir müssen erst einmal ohne Kommissar Modrich auskommen“, erklärte sie Kruschek. „Ich würde gerne Meike Ressler anrufen und herbestellen. Ich fürchte, wir kommen mit der Zeugin so nicht weiter.“ Kruschek schaute sie fragend an. „Meike Ressler ist eine ausgewiesene Expertin und eine der besten Psychologinnen, die ich kenne.“ „Und die Schwester von diesem Monster … wie hieß der noch? Fred Ressler?“ „Karl. Karl Ressler. Genau die ist das, ja.“ Guddi lief ein Schauer den Rücken herunter. Auch sie hatte der Fall „Karlchen“ noch lange nach seinem Ende mehr beschäftigt, als ihr lieb war. Die erste und vielleicht wichtigste Veränderung, die sie und Peer vornahmen, war die Versetzung von der Sitte ins Morddezernat. Weder Guddi noch Peer hatten, nachdem die Akte Ressler geschlossen war, Lust auf perverse Triebtäter und Kinderschänder, deren einzige Lebensmotivation darin zu bestehen schien, den schwächsten und hilflosesten Menschen der Gesellschaft unsagbar Böses anzutun. ,Normale‘ Morde waren doch spannend genug.

      Als die Versetzung genehmigt war, hatte Guddi damals, anders als Peer Modrich, der dem Veganismus und dem Laufwahn verfiel, eine Reise mit ihren drei besten Freundinnen in die Berge angetreten. Eine einsame Hütte in den Schweizer Alpen und viele intensive Gespräche am offenen Kamin hatten Guddi zwei Wochen lang über den Schrecken hinweggeholfen. Karl Ressler würde sie vermutlich niemals loswerden, aber sie wusste nun, wie sie ihn vom Hof jagen konnte, falls er sie wieder mal in ihren Erinnerungen heimsuchte.

      Am Ende des Flurs kamen zwei Männer den Gang herunter, die Guddi bereits gesehen hatte, als sie an der Halle angekommen waren. Der linke sah aus wie der uneheliche Sohn von Chuck Norris und René Weller, das Hemd hatte er bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, dazu trug er eine viel zu enge Levi's 501. Die restlichen Haupthaare hatte er sorgsam von rechts nach links gekämmt, um seine Glatze zu kaschieren. Eine goldumrandete, übergroße Sonnenbrille und ein üppiger Oberlippenbart rundeten das Bild ab. Die Krönung allerdings waren seine Cowboystiefel aus Krokodilleder, die den letzten Beweis antraten, dass dieser Typ modisch in den 80er-Jahren hängen geblieben war. Der andere war kleiner und deutlich schmächtiger, sein etwas tapsiges Auftreten und sein Polyesteranzug verliehen ihm den diskreten Charme eines Gebrauchtwagenverkäufers. Guddi merkte, wie ihre Mimik langsam entglitt. Nur mit großer Mühe konnte sie verhindern, laut loszuprusten und sich auf die Schenkel zu schlagen. „Wir sind die Konzertveranstalter des heutigen Abends“, rief der etwas unscheinbarere Mann mit einem leichten fränkischen Akzent. „Ich bin Mirko Sänger von R-Concerts, das hier ist mein Kollege Viktor Pospisil!“

      Guddi musste sich immer noch zusammenreißen. Wie um alles in der Welt konnte man erwarten, mit solchen Typen seriöse Geschäfte machen zu können? Wie konnte es sein, dass zwei solche Lackaffen ein ausverkauftes Joe Sanderson Konzert veranstalteten und mit ’nem Sack voller Geld nach Hause gingen? Irgendwas lief hier deutlich schief. Während Guddi im tiefen Tal der Vorurteile wandelte, ergriff Kruschek das Wort: „Freut uns, Sie kennenzulernen. Wie können wir Ihnen helfen?“ Guddi hatte ihre Contenance ebenfalls wiedererlangt und lächelte gequält in Richtung des behaarten Bauchnabels auf zwei Beinen. „Wir möchten eine Aussage machen“, begann Pospisil mit sonorer Stimme, „ich denke, wir können die Ermittlungen in diesem tragischen Fall vorantreiben.“

      Wow! Guddi war baff. So viel Distinguiertheit hätte sie dem Typen gar nicht zugetraut. Natürlich war es eine Binsenweisheit und vor allem für einen Kriminalisten von elementarer Bedeutung, sich nicht von Äußerlichkeiten blenden zu lassen. Weder in die eine noch in die andere Richtung. Es gab genügend Beispiele von männlichen Kollegen, die sich von den großen Rehaugen einer Zeugin oder Tatverdächtigen haben beeinflussen lassen.

      Guddi besann sich also darauf, wieder professionell und vorurteilsfrei zu denken und führte die beiden Konzertveranstalter in einen etwas größeren Raum, in dem die traurigen Reste des Künstlercaterings auf ihre Entsorgung warteten.

      „Wir werden Ihre Aussage natürlich zu Protokoll nehmen müssen“, erklärte Guddi Sänger und Pospisil. „Ich gehe davon aus, dass Sie damit kein Problem haben?!“ Während der eine, Viktor Pospisil, ruhig blieb und Guddi mit festem Blick musterte, schien Sänger kurz vor der Schnappatmung zu stehen. Kalter Schweiß spiegelte sich auf seiner Stirn, unruhig nestelte er an seiner Hosentasche, und aus irgendeinem Grund blinzelte er plötzlich im Sekundentakt. „Möchten Sie eventuell etwas Wasser, Herr Sänger?“ Kruschek war die plötzliche Nervosität des Zeugen nicht entgangen, seine Reaktion erstaunte Guddi nun aber doch. Ihr Kollege reagierte exakt so, wie man es auf der Kommissarschule lernte: Erhöhe niemals den Druck auf einen Zeugen, wenn dieser ohnehin schon zu nervös ist, um einen klaren Gedanken zu fassen. Nimm erst einmal ein wenig Druck aus dem Kessel, lenke das Gespräch auf etwas vermeintlich Unwesentliches,