Thomas Matiszik

Blutgeschwister


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      „Stefanie Mellinger … das ist doch Ihr Name, oder?“ Guddi hockte sich vor die Zeugin und versuchte, ihren leeren Blick einzufangen. Einen Wimpernschlag lang hatte sie das Gefühl, dass Mellinger ihren Blick erwiderte, doch dann verlor sie sich wieder im Linoleumboden des Pförtnerbüros. Guddi seufzte und nahm einen tiefen Schluck aus dem Kaffeebecher. Die Plörre schmeckte schlimmer als das, was man ihnen seit Jahren auf dem Revier zumutete. Vor knapp zwei Wochen erst hatte Heppner dem Antrag des gesamten Reviers endlich stattgegeben, einen Kaffeevollautomaten zu besorgen, es konnte also nur noch ein paar Tage dauern, bis sie und Modrich endlich etwas während der Arbeit trinken konnten, das den Begriff „Kaffee“ wirklich verdient hatte. Gut, bei Modrich würde das jetzt noch etwas dauern, und Kaffee aus einer Schnabeltasse war dann vermutlich doch nicht das, was er sich unter einem gelungenen Start in den Arbeitstag vorstellte.

      Sie ertappte sich dabei, zu lächeln, als die Zeugin leise vor sich hin summte: „He came into my life, when darkness was surrounding me. He brought me back to life, the day he left will never be forgotten … never be forgotten!“ ,Was zum Teufel‘ – diese drei Worte standen Kruschek auf die Stirn geschrieben. „Jetzt ist sie völlig durchgeknallt“, bemerkte er, doch Guddi hielt den Zeigefinger an ihre Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. „We were children of the night, building bridges of love and hate, we were children of the night, building castles full of fate“. Gerade als Kruschek wieder ansetzen wollte, frohlockte Guddi: „Das sind Textzeilen aus Children of the night, eine der ersten Singles von Joe Sanderson. Das war nicht ihr erfolgreichster Song, aber eigentlich der einzige, den die Musikpresse unisono und über den grünen Klee hinweg lobte. Viele ahnten damals schon, dass der Song nicht aus Joes Feder stammen konnte … na ja, und wenige Monate später kam heraus, dass Joe einen alten, unveröffentlichten Song von Crusade zu ihrem eigenen gemacht hatte. Ein bisschen daran herumproduziert, ein paar Zeilen umgeschrieben und zack: Fertig war der nächste Hit. Joe Sanderson war wohl kurz nach dem Selbstmord von Daniel LaBoitte noch mal in dessen Penthouse in der Kensington High Street in London gewesen und hatte dort eine ganze Reihe unbekannter Songs und Songfragmente gefunden und an sich genommen. Tja, das war der Moment, als Joe Sanderson ihren guten Ruf als Künstlerin vollends zerstörte und von der Musikpresse fortan nur noch verrissen wurde. Die Fans aber …“

      „Die Fans liebten sie, nicht wahr?“ Na bitte, wer sagt’s denn? Stefanie Mellinger taute weiter auf. Kruschek hatte mittlerweile mehr Fragezeichen über dem Kopf als Haare auf demselben, aber Guddi setzte ihren Weg zum Innern des Fankerns unbeirrt fort. „Genauso war es, Frau Mellinger. Oder darf ich Stefanie zu Ihnen sagen?“ Guddi reichte der Zeugin die Hand. „Mein Name ist Gudrun Faltermeyer, aber alle, die mich kennen, nennen mich Guddi. Das dürfen Sie natürlich auch. Wissen Sie, auch ich bin ein großer Fan von Joe Sanderson. Ich möchte genau wie Sie herausfinden, wer Joe Sanderson umgebracht hat. Und Sie sind im Moment der einzige Mensch, der uns dabei helfen kann. Sie haben den Täter gesehen, richtig? Richtig?“

      Stille. Stefanie Mellingers Geist schien abermals den Raum verlassen zu haben. Ihr Körper begann hin- und herzuwiegen, der Blick war wieder starr und ausdruckslos geworden. Guddi stand verzweifelt auf, atmete tief durch und gab Kruschek mittels einer eindeutigen Geste zu verstehen, dass sie mal zur Toilette musste. Als Guddi im Türrahmen des Pförtnerbüros stand und die Tür dabei war, hinter ihr zuzufallen, durchbrach ein hoher markerschütternder Schrei die Stille. Guddi kehrte auf dem Absatz um und ins Büro des Pförtners zurück, wo Kruschek über der Zeugin stand, die auf dem Boden lag und wie besessen um sich trat. Der Schrei hatte den gesamten Korridor der Backstage-Area durchflutet, und kurze Zeit später standen mehrere Mitarbeiter der Halle vor dem Pförtnerbüro und wollten wissen, was die zwei Polizisten mit der Zeugin anstellten. Die beiden Beamten, die Guddi zu ihrer Sicherheit auf dem Flur platziert hatte, schafften es mit letzter Kraft, die neugierigen Gaffer zurückzuschicken. „Kruschek, was ist passiert? Was haben Sie mit ihr gemacht?“ „Ich? Gar nichts. Aber als Sie gerade das Büro verließen, sagte die Dame hier so etwas wie ‚Heil dem Erlöser‘ und fing dann an zu schreien, als ziehe man ihr die Fingernägel einzeln heraus. Wenn Sie mich fragen, gehört die Dame in die Klapse.“ „Hat sie das wirklich so gesagt? Sind Sie da ganz sicher? Was zum Geier soll das bedeuten? Oder haben wir es hier mit einer fanatischen Spinnerin zu tun?“

      9

      „Da hat aber einer den Mund besonders voll genommen, was?“ Der Arzt, der Peer untersuchte, war nicht älter als Ende zwanzig, hatte den Namen irgendeiner Olivia auf seinen Unterarm tätowiert und roch aus dem Mund nach Salmiak. Während sich Modrich noch fragte, warum Dr. Jens Oemmler das gesagt hatte und wieso es ihm immer noch eimerweise aus dem Mund tropfte, hatte der Doc sich hinter ihm aufgebaut und seine Daumen auf die Kauflächen seines Unterkiefers gelegt. Dann ging alles sehr schnell: ein kurzer Ruck, ein trockenes Knacken, ein stechender Schmerz, der sich Gott sei Dank in Luft auflöste, bevor er unerträglich wurde. Dr. Oemmler stellte sich nun vor Peer und richtete den Kiefer zurecht, bis alles ineinander passte. „So, jetzt müsste es wieder stimmen. Versuchen Sie bitte mal, den Mund zu schließen.“ Unter gewaltiger Kraftanstrengung schaffte es Modrich, den Mund nicht nur zu schließen, sondern auch geschlossen zu halten. Keine Sabbereien mehr, es tat zwar noch höllisch weh, aber Peer hatte das Gefühl, dass sich das geben würde, je öfter er wieder normale Kaubewegungen machen würde. „Sie hatten wirklich großes Glück“, betonte Dr. Oemmler, „es hat nicht viel gefehlt und Ihr Kiefer wäre gebrochen gewesen. Dann hätten Sie mit mehreren Wochen Rekonvaleszenz rechnen müssen. Er war aber nur ausgerenkt. Passiert immer dann, wenn man häufig gähnt und den Mund dabei zu weit aufsperrt. Oder haben Sie heute in einen besonders großen Apfel gebissen?“ Modrich traute sich immer noch nicht zu sprechen. Die Blöße, wie ein willenloser Greis sabbernd vor sich hinzubrabbeln, wollte er sich nicht noch mal geben. Und so zuckte er vielsagend nichtssagend mit den Schultern, gab dem Arzt die Hand und verließ den Behandlungsraum. „Warten Sie“, rief Oemmler ihm hinterher, „nehmen Sie die hier. Sie werden sicherlich noch ein paar Tage Probleme beim Essen oder bei der Zahnpflege haben. Und falls Sie an Sex denken: Überspringen Sie die Knutscherei. Zungenküsse sind in Ihrer Verfassung besonders schmerzhaft!“ Er zwinkerte Peer zu. Modrich warf einen Blick auf die Verpackung und musste schmunzeln: Wenn der wüsste, wie viele Brüder und Schwestern von den kleinen Ibu-800ern bei ihm zu Hause im Badezimmerschrank als Notration lagen.

      Den letzten Meulengracht’schen Hangover hatte Peer, nachdem sie Karl Ressler zur Strecke gebracht hatten. Er war mit Guddi und Meike Ressler aufs Übelste versackt. Danach ging es ihm drei Tage hundsmiserabel und er schwor sich, sein Leben umzukrempeln: kein Alkohol, keine Zigaretten mehr. Er stellte seine Ernährung um. Fleisch aß er nur noch sonntags, den Rest der Woche nahm er vegane Kost zu sich. Seine Fitness war besser als zu Jugendzeiten, Peer sah vitaler aus denn je, was ihn für die Krone der Schöpfung umso begehrenswerter machte. Aber auch in diesem Punkt hatte Peer Modrich eine Wandlung vollzogen. Waren es früher noch viel zu junge One-Night-Stands, die er zu Balladen von Bon Jovi oder Bryan Adams in die Kiste bekam, so hielt er es heute sagenhafte drei Monate mit ein und derselben Frau aus. Zuletzt war es eine Architektin aus Lünen, die er auf einem Konzert von Element Of Crime kennengelernt hatte. Sie hatten fast eine Woche über Gott und die Welt geredet, bis sie zum ersten Mal Sex hatten. Schnell stellte sich heraus, dass Melanie, so hieß die Architektin, seit fünf Jahren auf dem Trockenen gesessen hatte und mit Peer in kürzester Zeit alles nachholen wollte. Knappe drei Monate später beendete Peer Modrich zum allerersten Mal in seinem Leben eine Beziehung, weil er körperlich am Ende war. Mehr Sex ging nicht. Beim besten Willen. Sie kam schneller als ein Düsenjet, aber irgendwann braucht selbst der größte Don Juan eine kreative Pause. Melanie aber wollte eine Pause nicht akzeptieren und ließ sich immer neue Experimente einfallen. Zuletzt hatte sie zwei ihrer besten Freundinnen als Zückerchen mitgebracht. Am Morgen danach zeigte Peers Waage nur noch 68 Kilo an. Da wurde ihm klar, dass es Zeit war, diese Tortur zu beenden, auch wenn sein omnipotentes Alter Ego ihn einen Schwächling und Versager schimpfte. Es ging einfach nicht mehr. Melanie versuchte alles, um Peer von seinem Entschluss abzubringen. Noch Wochen nach der letzten Nacht mit ihr schickte sie ihm Päckchen mit Reizwäsche, Dildos und Massageölen. Zuletzt waren es getragene Strings, die Melanie Peer in ihrer Hochphase nur zu gerne um den Kopf gewickelt hatte. Und als er dachte, er hätte alles überstanden, lauerte Melanie ihm an seiner Laufstrecke