Monat für die Betreuung und Pflege im Heim. Bei vielen reichte das monatlich verfügbare Einkommen trotz Ergänzungsleistungen und Hilflosenentschädigung nicht aus. Diese Frage ist auch mit der neuen eidgenössischen Pflegefinanzierung3 nicht gelöst. Im Gegenteil, sie wird auf den Steuerzahler abgeschoben. Die meisten Menschen wollen nicht ins Heim. Diesen Wunsch, möglichst selbstbestimmt leben zu können, wollte ich ernst nehmen, und mit KISS sah ich eine Möglichkeit, darauf hinzuwirken.
Ein Kollege aus Salzburg hat einmal gesagt: »Die Zeitgutschriften sind nur ein Vehikel. Das Miteinander der Menschen, die Freude, wenn es einmal läuft, wenn sich die Leute gegenseitig unterstützen, ist das Entscheidende. Dann zählen die Minuten nicht mehr.« In meinem Dorf engagiere ich mich auf unterschiedliche Weise, um eine tragfähige Nachbarschaftshilfe zu etablieren. So habe ich mich für die Schaffung eines Begegnungsortes eingesetzt. Die Menschen müssen sich begegnen können, damit sie sich kennenlernen und miteinander ins Gespräch kommen. Zusätzlich habe ich mich für den freiwilligen Begleitdienst für Sterbende gemeldet. Wenn ich handfest mittun kann, kommt bei mir Freude und Energie auf. Als nächster Schritt steht Seniorenkochen mit Alleinstehenden an. Wenn sich das weiterentwickelt, werde ich die Gründung einer Genossenschaft ins Auge fassen.
Seit Juni 2014 bin ich Leiterin der ortsansässigen Pro Senectute, organisiere Anlässe im Zentrum »Kafimühli«. Auf diese Weise bereite ich das Gärtchen vor, in dem hoffentlich bald viele verschiedene Pflänzchen zu sprießen beginnen, sodass wir in absehbarer Zeit in unserem Dorf eine blühende Nachbarschaftshilfe haben werden.
Heidi Lehner | Seit mich Susanna Fassbind und Ingrid Spiess im Frühling 2011 bei der Sunflower Foundation besucht hatten, um sich über das japanische Fureai-Kippu-System zu informieren, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mich am Aufbau der Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften zu beteiligen. Im August 2011 stellte ich dann Susanna drei Fragen:
Kannst du dir vorstellen, dass Menschen sich gegenseitig die Sicherheit geben, dass sie in Zukunft Hilfe bekommen?
Vertraust du darauf, dass die Menschen dazu bereit sind, sich gegenseitig zu helfen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass »ihre Organisation« sich den wandelnden Bedürfnissen immer wieder anpasst?
Hältst du es für möglich, Menschen zu motivieren, diese Vision zu teilen und an der Umsetzung mitzuwirken?
Susanna Fassbind antwortete nach Rücksprache mit Edith Stocker und Ingrid Spiess mit einem dreifachen Ja, und damit war klar: Da mache ich mit.
Im bewussten Verzicht auf eine Besicherung4 der Zeitgutschriften durch Gewährleistungskredite oder hinterlegte Geldsummen sehe ich eine große Chance. Denn wenn Menschen erkennen, dass es weder die Franken auf ihrem Konto noch die aufgeschriebenen Stunden sind, die ihnen Halt und Sicherheit geben, sondern Menschen in ihrem Umfeld, auf die sie sich verlassen können, dann entsteht etwas anderes, als wenn sie sich auf das Äuffnen ihres Bankkontos konzentrieren müssen.
Selbstverständlich ist es praktisch und unkompliziert, jemanden zu bezahlen. Wenn wir Geld haben, ist es nicht einmal notwendig, dass wir die Person kennen, die uns zu Hause hilft. Sie kommt, macht die Wäsche und geht wieder. Mit der Überweisung ihres Stundenlohns sind wir ihr nichts schuldig, und wenn sie ihre Arbeit nicht gut gemacht hat, verlangen wir Nachbesserung oder rufen jemand anderen. Geld hat aber auch die unangenehme Eigenschaft, dass es knapp ist, vor allem da, wo keine ausreichende Rendite zu erzielen ist. In der Pflege und Betreuung von kranken oder älteren Menschen und von Kindern ist »Zeit haben dürfen« entscheidend. Sobald wir aber die Zeit bezahlen müssen, wird sie zu einem Kostenfaktor – mit unerwünschten Nebenwirkungen: Dann behandeln wir Zeit wie Geld und haben zu wenig davon.
Wenn Menschen ihre Zeit mit anderen teilen, entstehen Beziehungen. Das geschieht spontan und immer wieder. Es ist aber längst nicht mehr selbstverständlich, dass man sich in einem Quartier oder Mehrfamilienhaus kennt und gegenseitig hilft, wenn Not am Mann oder an der Frau ist. Deshalb gilt es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Leuten einfacher machen, sich zu finden und aufeinander einzulassen. Es braucht erfahrene Ansprechpersonen mit Fingerspitzengefühl, die die Leute zusammenbringen und da sind, wenn Fragen oder Schwierigkeiten auftauchen. Das gehört für mich zwingend zu KISS. Und es gehört für mich zu KISS, dass die Genossenschaftsmitglieder eigenverantwortlich das tun, was sie gerne tun oder als sinnvoll erachten, und sich dabei gegenseitig wertschätzen. Mit dem Aufschreiben der Zeit wird diese Wertschätzung sichtbar gemacht. Entscheidend ist jedoch das, was die Menschen miteinander erleben. Das trägt sie durch den Alltag und motiviert zum Weitermachen.
Susanna Fassbind | Mein ganzes Leben war ich davon überzeugt, dass meine Freiheit dort aufhört, wo die des Mitmenschen beginnt und dass diese Überzeugung in einer Demokratie aktiv gelebt werden sollte. Diese Haltung erfordert zunächst Selbsterkenntnis und führt letztlich zu Selbstverantwortung. Nur als selbstverantwortliches Mitglied eines Staates kann ich diesen aktiv mitgestalten, und nur wenn ich mich nicht »dem Geld ausliefere«, kann ich meine Selbstverantwortung wahrnehmen und herausfinden, was der wahre Wert im Leben ist. Für mich spiegelt KISS den Kern meiner Werte: Meiner inneren Stimme folgen, meine Potenziale erkennen und nutzen, Freundschaften pflegen und dem Gemeinwesen dienen. Dafür habe ich mich seit 40 Jahren auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Positionen engagiert.
2008 bekam ich einen neuen Nachbarn, der verantwortlich war für die Demenzabteilung eines Pflegezentrums und mir ab und zu schilderte, was er dort erlebte. Um ihm für sein Verständnis in einer Sache zu danken, bot ich ihm als Ausgleich ein Zeitguthaben an. Daraufhin bat er mich, den Berufsverband Fachperson Betreuung zu beraten. Ich bot ihm drei Abende an, an denen ich mich mit den Zentralschweizer Vorstandsmitgliedern treffen würde. Ingrid Spiess, Schweizer Geschäftsleiterin, und die damalige Präsidentin kamen aus Interesse zum zweiten Abend. Nach diesem Anlass begann ich die Beratung des Berufsverbandes, gab zweimonatlich die Fachzeitschrift »3-fach« heraus und organisierte Tagungen. Für mich war wichtig, in den fast drei Jahren, in denen ich die Zeitschrift verantwortete, das Thema intensiv zu recherchieren und viele Betreuungsmodelle zu studieren. Die damals verfassten Artikel zu Mehrgenerationenhaus, neuen Betreuungsstrukturen, geistiger Fitness: Sie sind immer noch aktuell, gottlob oder leider.
Während vieler Jahre bereitete ich den Boden für meine jetzige »soziale Aufgabe« vor. Zudem war ich ein Leben lang selbständig und verfüge über keine Rente im herkömmlichen Sinn. Weil ich stets viel unbezahlte Freiwilligenarbeit geleistet habe, bekomme ich auch nicht die volle AHV (Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung).5 Ich weiß folglich aus eigener Erfahrung, dass wir für ein würdevolles Alter für alle neue Geldund Finanzierungsmodelle benötigen.
KISS habe ich von Anfang an als großes Gesundheitsprojekt gesehen, als evolutionäres Programm für einen gesellschaftlichen Wertewandel, der Schritt um Schritt mit der Bevölkerung gestaltet werden kann. Eine fixe Vorstellung, was KISS alles beinhalten soll, hatte und habe ich nicht. Ein solch visionäres Konzept kann nur mit empathischen und engagierten Menschen, die KISS Tag für Tag leben, umgesetzt werden.
Inspirationen, Ressourcen und Potenziale
Ideen und Visionen entstehen nicht aus dem Nichts: persönliche Erfahrungen, lange reifende Erkenntnisse und – nicht zu unterschätzen – Zeiten der Muße sind Geburtshelferinnen. So erging es auch uns Gründerfrauen von KISS.
Nicht erst mit den neueren, erhellenden Erkenntnissen der Hirnforschung hinterfrage ich, wo meine Inspirationen für die verschiedensten beruflichen und persönlichen Neuausrichtungen ihren Anfang nahmen. Wie ist es möglich, dass unglaublich viele Ideen zu einem Projekt verschmelzen, mit einiger Überlegung gebündelt zur Tat motivieren und dann die Kraft zum Durchhalten geben? Was mir stets hilft, meine Ideen und Gedanken zu klären, ist ein Blick in die Geschichte (als ehemalige Geschichtsstudentin!) und in meine Herkunft – in meine eigene und die von historischen Persönlichkeiten, in mich faszinierende Mythen des Altertums wie in den Zeitgeist6 einer Epoche. Für mich steckt eine tiefe Wahrheit im Ausspruch: »Zukunft braucht Herkunft.«7
Allgemeine Überlegungen zu Visionen und Pionierleistungen sind sicher hilfreich. Letztlich entstehen neue Modelle durch ein lebenslanges in sich Hineinhören.