Susanna Fassbind

Zeit für dich - Zeit für mich


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der Staat einfach ausgestaltet sein und auch so arbeiten soll, ist mir bis heute ein Anliegen. Sicher ein Idealzustand, aber doch anzustreben. Um einen schlanken Staat zu formen, braucht es die gegenseitige Hilfe aller für alltägliche Bedürfnisse: Jeder trägt zum Wohl gemäß seinen Fähigkeiten bei.

      Der Philosoph, Mathematiker, Astronom, Musiker und Lehrer Pythagoras (570–510 v. Chr.)16 begeistert mich durch seine Wissensvielfalt in vielen Disziplinen, die er zu einer ganzheitlichen Sicht verwob. Seine Lehrjahre verbrachte er vermutlich in den damaligen Hochkulturen Vorderasiens und Ägyptens. Für die Lehrtätigkeit an seiner Schule im griechischen Süditalien war er berühmt und berüchtigt, weil sie wohl eher eine streng lebende Glaubensgemeinschaft war. Er scheute sich nicht, für seine Überzeugungen und empirischen Erkenntnisse einzustehen. Besonders angetan bin ich nach wie vor von der großartigen Idee der Freundschaft zwischen allem und jedem: Freundschaft der Menschen untereinander, mit den Göttern, mit der Natur.

      Im »reiferen« und mit anderen Inhalten gefüllten Lebensabschnitt fand ich Gefallen an zwei Theoretikern und Empirikern, die soziale Vernetzungen als tragfähiges Gesellschaftsmodell untersuchen und befürworten. Der Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu (1930–2002)17 inspiriert mich, weil er die vier Kapitalien des Menschen als interaktive einzusetzende Ressourcen ortete: ökonomisches, soziales, kulturelles und korporales Kapital. Alle vier Kapitalien sind eng miteinander vernetzt und in steter Interaktion. So lassen sich durch Anhebung des sozialen Kapitals, also z.B. mit Nachbarschaftshilfe und Freundschaften, das kulturelle Kapital und das Körperkapital steigern und das ökonomische reduzieren. Mir sind diese Erkenntnisse im heutigen Umfeld von mangelnden ökonomischen und sozialen Ressourcen wichtig; sie erweisen sich gerade bei der Altersvorsorge immer mehr als stimmig und für neue Modelle richtungweisend.

      Worüber Soziologen und Ökonomen in den jüngsten Jahrzehnten vor allem empirisch forschen, ist das Rechtsmodell der Allmende. Als Korporationsbürgerin der Stadt Luzern war ich schon als Jugendliche mit dieser Organisationsform vertraut, auch etwas frustriert, weil damals nur Männer den »Bürgernutzen«18 bekamen. Zusätzlich und definitiv dafür eingenommen haben mich die Forschungen und der Nobelpreis von Elinor Ostrom (1933–2012).19 Ihre Forschungen zu Umweltökonomie und Selbstorganisation haben »Commons«,20 also Allmenden, ein eindrückliches Gewicht gegeben. Sich selbst organisierende Allmenden – eine besondere Rechtsform – gibt es in der Schweiz seit Jahrhunderten für die nachhaltige Bewirtschaftung vor allem von Land- und Vieh-Ressourcen; sie haben überlebt und sind erfolgreich. Ostrom sieht sie vor allem bei knappen Ressourcen als ideale Form der Kooperation. Sie erachtet Allmenden gegenüber staatlichen Stellen oder Privatfirmen meist als überlegen. Die lange Tradition dieser sich selbst organisierenden Rechtsform wird nun durch viele Neugründungen von Genossenschaften und wissenschaftlichen Untersuchungen dazu wieder neu belebt, auf weitere Inhalte und Handlungsfelder als Land und Vieh ausgedehnt und beweist ihre hohe Effizienz zur Steigerung von Selbstverantwortung und Solidarität.

      Inspirierendes Modell Genossenschaft oder Allmende | Diese Designprinzipien für Commons-Institutionen hat Elinor Ostrom bereits 1990 in ihrem Hauptwerk »Governing the Commons (Die Verfassung der Allmende)« veröffentlicht. In ihrer Nobelpreisrede 2009 stellte sie eine gemeinsam mit Michael Cox, Gwen Arnold und Sergio Villamayor-Tomás präzisierte Fassung vor, die hier stichpunktartig wiedergegeben wird.21

      1 Grenzen | Es existieren klare und lokal akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und nicht Nutzungsberechtigten. Es existieren klare Grenzen zwischen einem spezifischen Gemeinressourcensystem und einem größeren sozio-ökologischen System.

      2 Kongruenz | Die Regeln für die Aneignung und Reproduktion einer Ressource entsprechen den örtlichen und den kulturellen Bedingungen. Aneignungs- und Bereitstellungsregeln sind aufeinander abgestimmt; die Verteilung der Kosten unter den Nutzern ist proportional zur Verteilung des Nutzens.

      3 Gemeinschaftliche Entscheidungen | Die meisten Personen, die von einem Ressourcensystem betroffen sind, können an Entscheidungen zur Bestimmung und Änderung der Nutzungsregeln teilnehmen (auch wenn viele diese Möglichkeit nicht wahrnehmen).

      4 Monitoring der Nutzer und der Ressource | Es muss eine ausreichende Kontrolle über Ressourcen geben, um Regelverstößen vorbeugen zu können. Personen, die mit der Überwachung der Ressource und deren Aneignung betraut sind, müssen selbst Nutzer oder den Nutzern rechenschaftspflichtig sein.

      5 Abgestufte Sanktionen | Verhängte Sanktionen sollen in einem vernünftigen Verhältnis zum verursachenden Problem stehen. Die Bestrafung von Regelverletzungen beginnt auf niedrigem Niveau und verschärft sich, wenn Nutzer eine Regel mehrfach verletzen.

      6 Konfliktlösungsmechanismen | Konfliktlösungsmechanismen müssen schnell, günstig und direkt sein. Es gibt lokale Räume für die Lösung von Konflikten zwischen Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden (z.B. Mediation).

      7 Anerkennung | Es ist ein Mindestmaß staatlicher Anerkennung des Rechts der Nutzer erforderlich, ihre eigenen Regeln zu bestimmen.

      8 Eingebettete Institutionen (für große Ressourcensysteme) | Wenn eine Gemeinressource eng mit einem großen Ressourcensystem verbunden ist, sind Governance-Strukturen auf mehreren Ebenen miteinander »verschachtelt«.

      Zum Verständnis von Commons und den Herausforderungen im Umfeld von Politik und Wirtschaft sind Ausschnitte aus zwei Büchern der Heinrich Böll-Stiftung (Hg.) zitiert:

      »Eine neue Weltsicht«22 | »Commoning ist ein radikales Konzept, weil es auf den Aktiven, wissender Teilnahme und Teilgabe von Menschen basiert, die ihr Leben selber gestalten wollen. Dabei geht es nicht einfach nur darum, gemeinsame Ressourcen zu teilen (das wäre auch per Algorithmus zu organisieren), sondern um die aktive Zusammenarbeit mit anderen. Es geht darum, gemeinsame Ziele zu verfolgen und Probleme zu lösen.« »… Dass Commons zeitlos sind, also zugleich so alt und modern wie das Musizieren, verweist auf eine Schlussfolgerung, die vermutlich viel Gegenwind ernten wird; Commons stellen zahlreiche Prämissen unserer modernen Zivilisation grundlegend infrage. Hier sei Etienne Le Roy zitiert, der in seinem Beitrag ›Wie ich dreißig Jahre zu Commons forsche, ohne es zu wissen‹, folgende These wagt: Sobald man anfängt, Commons ernst zu nehmen, ›gerät das Ideenfundament, auf dem die moderne westliche Zivilisation ruht, außer Balance, und das fundiert Geglaubte stürzt in sich zusammen: Staat, Recht, Markt, Nation, Arbeit, Verträge, Schulden, Schenken, juristische Personen, Privateigentum und Institutionen wie Verwandtschaft, Ehe- und Erbrecht werden plötzlich hinterfragt.« … »Commons fordern uns auf, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten und grundsätzlich anzuerkennen, dass ein Ich aus Beziehungen hervorgeht und nur in ihnen und aus ihnen heraus existieren kann.« … »Angesichts der gegenwärtigen Übermacht von den abstrakt gedachten Entitäten Markt und Staat (die längst nicht so alt und dauerhaft sind, wie gemeinhin vermutet), könnte man versucht sein, jedes einzelne Commons als unbedeutendes Staubkorn abzutun. Doch indem das Handeln in Commons, das Commoning, uns mit dem tieferen Kreislauf lebender Systeme verbindet und mit anderen vernetzt, entfalten sie eine unaufhaltsame Kraft, die systemische Veränderung hervorzubringen vermag.«

      Eine commons-sensitive Architektur von Recht und Politik23 | »Commons sind sehr verschieden, und sie wissen nicht unbedingt im Voraus, wie ein gemeinsames Ziel vereinbart und verfolgt werden kann. Die einzige verallgemeinerbare Aussage ist daher, dass wir überall (Frei-)Räume für den intensiven und konstruktiven Dialog und für das Ausprobieren von Regeln und Vereinbarungen brauchen.

      Die Belastbarkeit der Commons hängt auch davon ab, dass Institutionen und Gesetze diese Vereinbarungen nicht unterlaufen. Wir brauchen Gesetze, Institutionen und eine Politik, die Allmendeprinzipien aktiv unterstützt und deren Torpedierung sanktioniert, so wie sie derzeit das Marktprinzip unterstützt und dessen Übertretung sanktioniert. Commoners müssen ihre Interessen deutlich machen und dazu beitragen, dass Commons-Prinzipien im Mittelpunkt politischer und rechtlicher Innovation stehen. So konstituiert sich beides neu: Bürgerschaft und Governance.

      Seitdem die Dysfunktionalitäten des Staates in der Unfähigkeit, die Finanzkrise strukturell zu lösen oder der ökologischen Zerstörung wirksam zu begegnen, deutlich wurden, hat der Staat ein vermehrtes Interesse daran, dass die Menschen Aufgaben