Lynn Blattmann

Arbeit für Alle


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auf das Sittertal beschränkt geblieben.

      Weil unser Modell jedoch stark auf einer unternehmerischen Grundhaltung aufbaut, kann es auch leitend sein für die Entwicklung von unternehmerisch geführten Sozialfirmen außerhalb der Schweiz. Marktwirtschaftliche Nischen und gesellschaftspolitische Spielräume gibt es auch anderswo. Diese zu finden und zu erschließen ist jedoch eine Aufgabe, die einen langen Atem und viel sozialunternehmerische Energie erfordert. Mit diesem Buch möchten wir zeigen, dass sich das Engagement lohnt!

      Eine solche Geschichte funktioniert nur, wenn es gelingt, auch in schwierigen Zeiten immer wieder alle ins Boot zu holen und immer wieder neue Lösungen zu finden, mit denen die Beteiligten leben können. So gesehen ist das St. Galler Modell ein »Willensmodell«, ähnlich wie die Schweiz eine Willensnation ist, die ihren Erfolg der kleinräumigen und hartnäckigen Lösungsfindungskompetenz aller Beteiligten verdankt.

       Lynn Blattmann und Daniela Merz

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      Unter Arbeitsintegration versteht man einen ganzen Strauß von Methoden, die angewendet werden, um jemanden, der keine Arbeit hat, wieder in Arbeit zu bringen. Klassischerweise wird Arbeitsintegration als Voraussetzung für eine gelungene gesellschaftliche Integration betrachtet. Wer seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, hat optimale Voraussetzungen, sich zu einem nützlichen und finanziell unabhängigen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln. Mittels Arbeitsintegrationsmaßnahmen wird versucht, das Individuum an die Anforderungen des Arbeitsmarktes (wieder) anzupassen. Darum gehören Qualifikations- und Trainingsmaßnahmen zu den klassischen Instrumenten der Arbeitsintegration.

      Um persönlichen Integrationsproblemen entgegenzuwirken, wird mit agogischen oder Coachingmethoden gearbeitet; diese versagen jedoch alle angesichts einer Sockelarbeitslosigkeit. Irgendwann gelingt es nicht mehr, alle potenziellen Arbeitnehmenden an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen; besonders in einem Hochlohnland wie der Schweiz zeigen sich die Grenzen rasch.

      Um sogenannt arbeitsmarktferne Personen integrieren zu können, müssen die Arbeitsplätze an die Fähigkeiten und die Bedürfnisse dieser Zielgruppe angepasst werden. Dieser Ansatz setzt dann nicht agogisch bei den Menschen an, sondern beim System, also beim Arbeitsmarkt. Denn wenn es für eine wachsende Gruppe von Menschen im Ersten Arbeitsmarkt keine Perspektiven mehr gibt, muss man im Zweiten Arbeitsmarkt reelle Perspektiven schaffen. Genau dies haben wir mit der Idee der unternehmerisch geführten Sozialfirmen getan.

      Der Unterschied und seine Folgen

      Wir werden oft gefragt, was eine Sozialfirma genau ist und ob es eine Definition für solche Unternehmen gebe. Eine unternehmerisch geführte Sozialfirma ist keine Firma, die ein bisschen sozial ist, sie ist auch kein gut gemanagtes Beschäftigungsprogramm; sie ist ein wertegetriebenes Unternehmen. Sie trägt die Bezeichnung »Firma«, weil sie betriebswirtschaftlich organisiert ist und weil sie ihre Betriebskosten zu einem möglichst großen Teil aus Kundenaufträgen erwirtschaftet und so in möglichst geringem Ausmaß von Staatsgeldern abhängig sein will; der Wortteil »Sozial« verweist auf ihren Zweck. Dieser besteht darin, Arbeitsplätze zu schaffen für Menschen ohne Arbeit. Er verweist aber auch auf den Stellenwert der Werte im Unternehmen: Respekt, Ehrlichkeit und Vertrauen bilden die wichtigsten Pfeiler, auf denen unternehmerisch geführte Sozialfirmen aufgebaut sind. Diese Werte bilden das Kapital und das Rückgrat dieser Organisationsform, und sie prägen das Handeln und die Haltung auf allen Ebenen. Die unternehmerische Führung dient dazu, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

      Es wird viel darüber geschrieben, dass Sozialfirmen eigentlich hybride Organisationen sind, weil ihre soziale Komponente ebenso wichtig ist wie ihre betriebswirtschaftliche Ausrichtung. Es ist jedoch nicht korrekt, die beiden Triebkräfte nebeneinanderzustellen. Unternehmerisch geführte Sozialfirmen sind betriebswirtschaftlich organisiert, um ihrem sozialen Zweck gerecht werden zu können, die Betriebswirtschaftlichkeit ist das Mittel, das Soziale der Zweck. Dies bedeutet, dass Sozialfirmen nicht in erster Linie in Bezug auf ihr Führungspersonal sozial sind; ihr Management muss hohen Ansprüchen genügen und den Grundwerten der Organisation auch im Alltag gerecht werden können. Es obliegt der Führungscrew, Respekt, Ehrlichkeit und Vertrauen im Alltag mit greifbaren Inhalten zu füllen. Sie müssen den Boden schaffen, um das Vertrauen der zugewiesenen Arbeitnehmenden zu gewinnen. Sie müssen den vormals langzeitarbeitslosen Menschen den Respekt entgegenbringen, den sie brauchen, um wieder einsteigen und die Qualitätsarbeit leisten zu können, die vom Kunden verlangt wird. Sie müssen den Boden schaffen, um das Vertrauen der zugewiesenen Arbeitnehmenden zu gewinnen. In einer herkömmlichen Firma können auch führungsschwache, distanzierte und charakterlich wenig integre Kaderangestellte ein Unternehmen wirtschaftlich voranbringen, in einer unternehmerisch geführten Sozialfirma gefährden solche Chefs den Betrieb.

      Die Bedeutung der Werte

      Viele vergessen, dass vormals oft lange Zeit arbeitslose und vom Sozialamt abhängige Menschen nicht mit Geld motiviert oder durch Druck angetrieben werden können. Wer in eine Sozialfirma zugewiesen wird, hat trotz seiner Tätigkeit am Ende des Monats finanziell kaum mehr in der Tasche als jemand, der nur Sozialhilfe bezieht. Die Differenz zwischen einem in eine Sozialfirma zugewiesenen Arbeitnehmenden und jemandem, der nicht arbeitet, beträgt heute inzwischen im besten Fall noch CHF 200/Monat. Dies bedeutet zwar nicht, dass jemand in einer unternehmerisch geführten Sozialfirma pro Monat nur CHF 200 verdient, wie einige Schlaumeier meinen, aber es ist so, dass nach der Verrechnung mit der Sozialhilfe durch das Sozialamt Ende des Monats vom Lohn für die meisten nur CHF 100–200 netto mehr im Geldbeutel bleiben. In einer Sozialfirma kann darum auch schlecht mit Entlassung gedroht werden: Wer durch das Sozialamt unterstützt wird, hat Stellenverluste erlebt und befindet sich bereits auf der niedrigsten sozialen Stufe. Explizite Entlassungsdrohungen sind in der Arbeitswelt auch nicht an der Tagesordnung, aber unterschwellig hat die Angst vor einem Stellenverlust in der Wirtschaft eine ungleich stärkere Wirkung als in einer Sozialfirma.

      Eine Sozialfirma wird untergehen, wenn es nicht gelingt, die Belegschaft mit anderen Mitteln als mit Druck oder höheren Löhnen zur Arbeit zu motivieren. Und das ist richtig so. Aber wie sehen diese anderen Mittel denn genau aus? Werte wie Respekt, Ehrlichkeit oder Vertrauen spielen ja auch in normalen Firmen eine Rolle. Inwiefern sind sie für Sozialfirmen existenziell, und was bedeuten sie wirklich im Alltag?

      Eine unternehmerisch geführte Sozialfirma lebt von Kundenaufträgen. Aus dem Ertrag dieser Dienstleistungen müssen die Betriebskosten und die Lohnkosten für die fest angestellten Mitarbeiter2 bezahlt werden. Gelingt es nicht, genügend Aufträge an Land zu ziehen, muss beim Kaderpersonal oder bei den Betriebskosten gespart werden und nicht bei den zugewiesenen Arbeitnehmenden, denn deren Löhne sind staatlich refinanziert oder laufen über die Sozialhilfe. Dies ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium zu einem Beschäftigungsprogramm, das auch einige Kundenaufträge ausführt. Wenn die Betriebs- und Infrastrukturkosten in großem Maße staatlich subventioniert werden, kann dieser betriebswirtschaftliche Mechanismus nicht spielen. Es ist ein Merkmal einer unternehmerischen Sozialfirma, dass die existenzielle Abhängigkeit von Kundenaufträgen gegeben sein muss. Decken Kundenaufträge nur einen Bruchteil der Betriebskosten, ist der unternehmerische Ansporn zu gering, um Wirkung entfalten zu können.

      Trifft ein großer Auftrag eines Kunden ein, der in knappem Terminrahmen enorm viel Einsatz verlangt, darf dieser Druck nicht an die Belegschaft weitergegeben werden. In solchen Momenten ist es entscheidend, so viel Motivation zu generieren, dass die Belegschaft freiwillig mehr arbeitet. Druck würde unweigerlich dazu führen, dass die Arbeitnehmenden zu Hause bleiben und der Auftrag nicht ausgeführt werden könnte. In diesem Fall würde der Kunde nicht zahlen und sich nach einem anderen Auftragnehmer umsehen. Diese Gefahr ist in einer Sozialfirma aus den oben genannten Gründen sehr viel größer als in einer Erstarbeitsmarktfirma.

      Das Kader einer Sozialfirma muss eine unternehmerische Haltung einnehmen und Werte wie Vertrauen und Ehrlichkeit aktiv vorleben. Am Anfang stehen die persönliche Begegnung und der respektvolle Kontakt zwischen dem Führungspersonal