Lynn Blattmann

Arbeit für Alle


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persönlich durchgeführt werden. Der Betriebsleiter oder die Betriebsleiterin hat in allererster Linie die Aufgabe, als Person greifbar, auch angreifbar zu werden. Respekt erfordert Nähe: Die Kaderleute müssen dem Personal unvoreingenommen gegenübertreten können. Es geht dabei um das Wissen- und Verstehenwollen der Lebenssituation der vormals langzeitarbeitslosen Menschen. Dazu muss die Führungscrew einer Sozialfirma einen Schritt aus ihrer so anderen Lebensrealität hinausmachen und offen auf die Belegschaft zugehen. Sie müssen sich mit ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen und bereit sein, den zugewiesenen Arbeitnehmenden zu vertrauen. Dies heißt nicht, dass sie alles akzeptieren müssen, aber es bedeutet, dass sie in erster Linie ehrlich mit sich selbst sind. Wir alle haben schon schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, wir alle haben Vorurteile. Es geht darum, diese wahrzunehmen und im Alltag mit den zugewiesenen Arbeitnehmenden zu überwinden. Nur so gelingt es, Respekt zu zeigen und diesen auch erfahrbar zu machen. Und: Respekt kann ebenso wenig delegiert werden wie Vertrauen oder Ehrlichkeit. Wie bei vielen gelebten Werten hat die Praxis der Führung auch in diesem Fall eine reziproke Wirkung. Ohne dass darüber gesprochen werden muss, bewirkt der gelebte Respekt eines Vorgesetzten, dass dieser auch auf der anderen Seite evoziert wird.

      Noch stärker tritt dieser Effekt beim Vertrauen hervor. Das Vertrauen in Langzeitarbeitslose ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, besonders klar zeigt sich dies gegenüber Menschen, die von der Sozialhilfe leben müssen. Die partnerschaftliche Haltung vieler Mitarbeiter in Sozialämtern ist einer misstrauischen Kontrolle gewichen. Zeitungsberichte über einzelne Personen, die das System missbrauchten, haben bei den Kommunen zu viel mehr Kontrolle geführt. Es ist nicht nur so, dass die Eingänge größerer Sozialämter mittlerweile durch Personenkontrollen gesichert werden, auch das Vertrauen zwischen Sozialberatenden und Klienten hat sich mit negativen Folgen für beide Seiten spürbar abgeschwächt. In einer Sozialfirma besteht die Chance für einen Neuanfang, denn wir können dieses Klima des Misstrauens verändern und in unseren Betrieben wieder Vertrauen ermöglichen.

      Der Aufbau beginnt beispielsweise damit, dass wir unseren zugewiesenen Arbeitnehmenden prinzipiell dasselbe Vertrauen entgegenbringen wie es in »normalen« Firmen üblich ist: In den Dock-Betrieben schließen wir unsere Büros tagsüber nicht ab, auch wenn sich Wertsachen oder Handys darin befinden. Und wir geben an sie so viel Verantwortung ab, wie nur möglich: Wer in der Lage und willens ist, in einem Brockenhaus die Kasse zu führen, soll dies tun. Wer Auto fahren kann und die Ladesicherheitsinstruktion bekommen hat, kann im Auftrag der Firma auch unsere Kundenaufträge transportieren. Wer regelmäßig früh in den Betrieb kommt, um vor Arbeitsbeginn noch in Ruhe eine oder zwei Tassen Kaffee zu trinken, bekommt einen Schlüssel und kann seinen Kollegen aufschließen. So selbstverständlich diese Dinge klingen, in vielen Beschäftigungsprogrammen und auch in einigen herkömmlichen Firmen wird der Belegschaft weniger Vertrauen entgegengebracht.

      Vertrauen ist also kein Lippenbekenntnis, sondern es erfordert ein kompromissloses aufeinander Zugehen; dies wirkt wie ein Zweikomponentenleim, der aus einsamen Langzeitarbeitslosen und wenigen Kaderleuten eine Gemeinschaft formt, die für die Firma einsteht: eine Belegschaft, die im Bedarfsfall freiwillig mehr arbeitet und auch einmal eine Abend- oder eine Samstagsschicht einlegt, damit die Kundenaufträge rechtzeitig fertig werden. Gelebte Menschlichkeit schafft Kontakt zu den Zugewiesenen, sie spüren, dass sie gebraucht werden und einen Teil eines größeren Ganzen sind. Die meisten nehmen dieses Angebot sehr gerne an.

      Ein weiteres entscheidendes Merkmal ist die verhältnismäßig geringe Anzahl von Chefs. In einem Betrieb der Dock Gruppe AG arbeiten meist etwa 150 Personen aus der Sozialhilfe, die von drei Kadermitgliedern geführt werden. Dieses Verhältnis hat sehr viel mit Vertrauen zu tun. Wir haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass das Vertrauen in die Fähigkeiten der Belegschaft abnimmt, wenn mehr Führungspersonal da ist. Der Grund für die verhältnismäßig dünne Kaderpersonaldecke liegt zwar eher im unternehmerischen Aspekt der Sozialfirma, denn dadurch fallen für die Öffentliche Hand geringere Kosten an. Ein ganz wichtiger Nebeneffekt dieses Umstands ist jedoch die damit verbundene größere Notwendigkeit, dem Personal genügend Vertrauen zu schenken, und Vertrauen lässt Menschen wachsen.

      Zentral ist auch der dritte Punkt, die Ehrlichkeit. Dazu gehört unabdingbar eine Fehlerkultur, die alle umfasst. Auch Kaderangestellte sind nicht fehlerlos, sie sollen nur besser mit Fehlern umgehen und aus ihren lernen können als andere. Wir haben in der Dock Gruppe bereits zu Beginn viele Nachbearbeitungsaufträge für Automobilzulieferfirmen ausgeführt. Die Qualitätsanforderungen waren hoch, und wir konnten die geforderte Nullfehlerquote oft nur mit Dreifachkontrollen erreichen. Es war für uns existenziell zu wissen, ob wir wirklich die fähigsten Leute in der Kontrolle eingesetzt hatten oder ob unsere besten Leute tatsächlich nüchtern waren, wenn sie ihre Kontrollaufgabe ausführten. Wir waren und sind also von der Ehrlichkeit unserer Arbeitnehmenden unmittelbar abhängig. Wer am Abend vorher einen Absturz hatte, kann und soll dies seinem Chef sagen und er oder sie wird für diesen Tag an einem weniger verantwortungsvollen Arbeitsplatz eingesetzt, ohne dass dies Folgen hätte für die Zukunft. Auch wenn ein Kollege seine Beobachtung über die Arbeitsqualität eines anderen dem Chef mitteilt, hat dies für den Betroffenen keine anderen Folgen als einen vorübergehenden Aufgabenwechsel. Dieser selbstverständliche Umgang mit eigenen und fremden Schwächen ist für Sozialfirmen wichtig und qualitätsrelevant.

      In vielen herkömmlichen Firmen ist der Umgang mit sinkender oder instabiler Leistungsfähigkeit tabubelastet. Man verschweigt und verschleiert Leistungsprobleme aus Angst vor einem beruflichen Abstieg, was schon manchen Betrieb in arge Schwierigkeiten gebracht hat. In einer unternehmerisch geführten Sozialfirma muss mit dieser Problematik anders umgegangen werden. Und zwar bis ins Kader hinein. Wenn ein Kadermitarbeiter die Anforderungen für seine Aufgaben nicht mehr erfüllt, soll auch er oder sie zurückgestuft werden. Dies muss in einem Klima der Ehrlichkeit und der Offenheit geschehen, was befreiend auf das ganze Team wirkt. Die Erfahrung zu machen, dass eine Leistungsschwankung oder ein Leistungsabfall nicht zu einer Kündigung führt, sondern im schlimmsten Fall zu einer Rückstufung in eine weniger verantwortungsvolle Aufgabe, die bei einer Verbesserung der Situation auch wieder rückgängig gemacht wird, ist für viele Menschen eine stärkende Erfahrung.

      Die klare Werteorientierung einer unternehmerisch geführten Sozialfirma ist nicht nur für die Unternehmensführung und den Unternehmenserfolg entscheidend, sie hat auch eine starke Wirkung auf die Belegschaft. Um dies verständlich zu machen, müssen wir uns vor Augen führen, in welcher Lebenssituation sich unsere Zugewiesenen befinden.

      Wer sich bei der Sozialhilfe anmeldet, hat in der Regel bereits eine zweijährige Phase der Arbeitslosigkeit hinter sich. In dieser Zeit gab es meist unzählige fruchtlose Bewerbungsversuche, die im besten Fall mehr oder weniger freundliche Absagen zur Folge hatten. Die Mehrheit der Sozialhilfebeziehenden lebt allein, oft ohne nennenswerte Außenkontakte. Viele kämpfen mit Einsamkeit und dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Nicht wenige greifen in dieser Situation zur Flasche, andere ziehen sich zurück, einige tun beides.

      Wird jemand in dieser Lebenssituation durch das Sozialamt im Dock angemeldet, löst dies bei den Betroffenen nicht immer Freude aus. Zu groß ist die Angst vor erneutem Versagen, und oft bestehen starke Schamgefühle, sich anderen Menschen in diesem Zustand zu zeigen und zuzumuten. Auch wenn viele einfach nur froh sind, wieder arbeiten zu können, wird anderen mit der Anmeldung bewusst, dass sie kaum Alternativen haben, darum kommen einige ziemlich unwillig zum Vorstellungsgespräch. Nach so vielen Enttäuschungen sind die Hoffnungen gegenüber Dock oft sehr bescheiden. Wird diese Person beim Vorstellungsgespräch von einem Chef persönlich begrüßt, der alles erklärt und am Schluss mit ihr noch durch den Betrieb geht, steigt oft schon eine Ahnung davon auf, dass die Arbeit in dieser Sozialfirma mehr sein kann als eine pflichtschuldige Gegenleistung für wirtschaftliche Sozialhilfe. Wenn schließlich beim Arbeitsantritt deutlich wird, dass die Aufgabe bewältigbar ist und dass ein offenes, ehrliches Klima herrscht, beginnt bei vielen das oft verschüttete Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere wieder zu wachsen. Dank der reichlich vorhandenen und vielfältigen Kundenaufträge stellt sich auch rasch die Erfahrung ein, gebraucht zu werden, und damit wächst das Gefühl der Zugehörigkeit zum Betrieb.

      Die Wertefokussiertheit von Sozialfirmen dient also nicht nur dem Zweck einer hehren Firmenphilosophie, sie wirkt auch direkt auf die Integrationskraft des Unternehmens.