K. Ebel

Moderne Berg- und Höhenmedizin


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(Ernährung, medizinische Versorgung, Sozialstruktur usw.) leben, sind praktisch nicht zu finden. Der Vergleich der verschiedenen Hochlandvölker wird zusätzlich massiv durch die unterschiedlich ausgeprägte Anpassung an die Höhe erschwert, denn derartige genetische Vorgänge werden unmittelbar dadurch beeinflusst, wie lange das jeweilige Volk in der Höhe lebt. Per definitionem bezeichnet man als Hochlandvölker diejenigen Populationen, die dauerhaft und über bereits mindestens mehrere Generationen in Höhen über 3000 m leben.

      Man geht heute davon aus, dass von den drei am besten untersuchten Hochlandvölkern – Tibeter, Andenbewohner und Äthiopier (Abb. 2.25) – die Tibeter am längsten, nämlich etwa 50 000–100 000 Jahre, in der Höhe leben. So wurden beispielsweise in der Nähe von Lhasa steinzeitliche Funde gemacht. Die frühesten menschlichen Funde, deren Alter gesichert werden konnte, fanden sich in den Anden aus der Zeit vor etwa 20 000 Jahren bei Ayacucho (Peru, 2900 m). Ein 9500 Jahre altes Skelett wurde bei Lauricocha (Peru, 4200 m) gefunden, andere Funde aus dieser Gegend stammen sogar aus 6271 m, wobei es allerdings als gesichert angesehen wird, dass diese Höhe nie dauerhaft besiedelt war. Einige Fundorte, deren Alter noch nicht abschließend gesichert werden konnte, weisen darauf hin, dass die Besiedelung der Hochregionen der Anden eventuell bereits vor 30 000 Jahren begonnen hat.

      Abb. 2.25: Geografische Verbreitung der Hochlandvölker der Erde

      Bekanntlich stammt der Mensch aus Ostafrika und seine ersten Spuren hier sind mindestens 3 Millionen Jahre alt, nach anderen Quellen bis zu 6 Millionen Jahre (abhängig davon, welches Wesen man als ersten Menschen definiert). Das darf jedoch nicht zu dem Schluss verleiten, dass die Bewohner des Äthiopischen Hochlandes diejenigen sind, die am längsten in der Höhe leben und sich somit besonders gut adaptiert haben müssten. Die beiden Hauptgruppen der zahlreichen äthiopischen Völker, die die Hochebenen bewohnen, nämlich die Amharas und die Tigraeaner, sind erst etwa 1000 v Chr. aus dem südlichen arabischen Raum – einem Tiefland – eingewandert.

      Hinweis. Viele westliche Touristen wissen nicht, dass im Himalaya inzwischen die meisten Träger keine Hochlandbewohner (Sherpas) sind. Diese Träger müssen sich genauso akklimatisieren wie die Touristen und haben aufgrund der Arbeits- und Lebensumstände manchmal sogar ein höheres Risiko für Höhenkrankheiten als die Touristen! Als Reisender sollte man darauf achten, dass die ausgewählte Agentur Mitglied der International Porter Protection Group (IPPG, www.ippg.net) ist und deren Richtlinien befolgt.

      2.10.2 Schwangerschaft und kindliche Entwicklung

      Alle Untersuchungen weisen darauf hin, dass sozioökonomische Faktoren für die meisten beobachteten Veränderungen wesentlich wichtiger sind als die Höhe und dass zwischen den drei genannten Volksgruppen spezifische Unterschiede beachtet werden müssen. Auch ist die primäre Datenlage oft durch einen Bias beeinflusst: So finden sich immer wieder Berichte über die angeblich besonders hohe Lebenserwartung der Hochlandvölker. Dies sollte mit großer Skepsis gesehen werden, denn einerseits fehlt in praktisch allen Fällen eine ausreichende Dokumentation des Geburtsdatums und andererseits bedeutet bei diesen Völkern im Gegensatz zu Europa ein hohes Alter ein hohes Sozialprestige. Somit sind die meisten Angaben, die die befragten Personen geben, deutlich zu hoch.

      In Peru ist das Verhältnis neugeborener Mädchen zu Jungen in den Hochlagen deutlich größer als im Tal. In Nepal ist dies dagegen umgekehrt. Hier wird die Relation zwischen den Geschlechtern durch eine höhere Mortalität der Jungen und ein höheres Todesrisiko der Männer durch Unfälle ausgeglichen. Bereits den spanischen Eroberern fiel auf, dass die Fertilität sowohl ihrer Frauen – in Spanien alles Tieflandbewohnerinnen – als auch mitgebrachter Haustiere in einigen Städten Südamerikas deutlich reduziert war. So galt Jauja, die frühere Hauptstadt von Peru, unter den Conquistadores als „sterile Stadt“. Die Ursache liegt aller Wahrscheinlichkeit nach in einer massiv größeren Rate an Frühaborten innerhalb der ersten beiden Schwangerschaftswochen. Besonders gut dokumentiert und im Original erhalten sind die Berichte von La Calancha (1639) und Cobo (1653). Bereits hier wurde die Beobachtung gemacht, dass die Höhenanpassung der Ureinwohner von Vorteil war, denn während fast alle spanischen Kinder innerhalb weniger Wochen nach der Geburt starben (vermutlich an der subakuten Höhenkrankheit), überlebte ein deutlich größerer Anteil der Mischlingskinder und fast alle Kinder der Ureinwohner. Auch wurde die Beobachtung gemacht, dass die spanischen Kinder meist überleben, wenn die Schwangeren zur Geburt das Tiefland aufsuchen und dort bleiben, bis das Kind etwa ein Jahr alt ist. Diese Methode wird übrigens auch heute noch von den Frauen der Han-Chinesen, die in das Tibetische Hochland umgesiedelt worden sind, angewendet.

      Ob die Fertilität der an die Hochregionen angepassten Völker tatsächlich geringer ist, ist trotz aufwändiger Studien nach wie vor unklar. So interpretieren auch Hoff und Abelson ihre Daten mit großer Vorsicht. Sie konnten in Peru zeigen, dass die Fertilität mit zunehmender Höhe linear abnimmt, aber auch sie sagen fairerweise, dass sie die möglicherweise beeinflussenden soziökonomischen Faktoren nicht vollständig unter Kontrolle hatten.

      Ähnlich verhält es sich mit Studien zur Abortrate. Im Vergleich zum weltweiten Mittel von etwa 15 % liegt diese sowohl in den Anden (< 1 %) als auch in Äthiopien (9,1 %) deutlich niedriger. Allerdings kann dies durchaus eine Folge der bereits erwähnten höheren Rate an Frühaborten sein, die als solche nicht registriert wurden. Dies könnte auch mit Angaben von Hultgren korrespondieren, der allerdings zutreffend anmerkt, dass es sicherlich sehr schwierig ist, die allgemeine Versorgung der Schwangeren und die medizinische Infrastruktur als wesentlich ursächliche Faktoren abzugrenzen. Die medizinische Betreuung kann auch in folgendem Zusammenhang eine relevante Ursache für die Abortrate sein: Angerio berichtet von einer leicht erhöhten Inzidenz der Präeklampsie (Hypertonie) und bringt dies mit einer erhöhten Endothelinfreisetzung in Zusammenhang. Die Verminderung der Prostaglandine könnte ebenfalls eine mögliche Erklärung sein.

      Das kindliche Wachstum ist bei Hochlandvölkern bereits intrauterin verzögert. Verschiedene Mechanismen führen hier jedoch dazu, dass die Sauerstoffversorgung des Föten optimiert wird. So ist das Plazentagewicht zwar nicht größer als im Tal, aber die Zahl der Villi und Kapillaren ist deutlich erhöht, was die Gasaustauschfläche vergrößert. Die Vili weisen außerdem eine dünnere Diffusionsbarriere auf. Die relativ kleinere Körpergröße der Föten verschiebt das Plazenta-Fötus-Verhältnis zugunsten der Plazenta. Alle diese Faktoren wirken hinsichtlich der Versorgungslage des Föten zusammen und sind vermutlich Resultat einer genetischen Adaptation. Die Folge ist naheliegenderweise ein vermindertes Geburtsgewicht. Von Cerro de Pasco (4300 m) wird ein mittleres Geburtsgewicht von 2,8 kg im Vergleich zu Lima (beide Peru) von 3,5 kg berichtet. Es wird diskutiert, ob diese Verringerung mit einer trotz erhöhter Uterusdurchblutung verminderten Umbilikalarteriendurchblutung zusammen hängt. So konnte an Tibeterinnen gezeigt werden, dass das Geburtsgewicht nicht mit der Sauerstoffsättigung, wohl aber mit dem Blutstrom der Umbilikalarterie in Zusammenhang steht. Dagegen spielt die fetale Seite offensichtlich keine wesentliche Rolle. Hier ist beispielsweise trotz höherer Blutviskosität durch höheren Hämatokrit und somit verlängerter Kreislaufzeit die Sauerstoffversorgung uneingeschränkt.

      Auch die weitere kindliche Entwicklung verläuft langsamer, sei es das erste Sitzen oder Gehen, sei es Wachstum oder Menarche. Die Kinder von Quetchua-Indianern in Peru liegen bezüglich der Körpergröße etwa 2 Jahre hinter gleichaltrigen Kindern aus dem Tiefland, allerdings ist ihre Wachstumsphase deutlich länger und die endgültige Körpergröße wird erst mit 22 Jahren erreicht. Im Tien Shan (s. Abb. 2.25) beträgt der Unterschied etwa ein Jahr. Interessanterweise können derartige Unterschiede in Äthiopien nicht nachgewiesen werden. Gleiche Zeitunterschiede finden sich auch für die Menarche – allerdings wiederum nicht in Äthiopien. Derzeit geht man davon aus, dass die Höhe zwar ein unabhängiger Faktor für die fetale und kindliche Entwicklung ist, dass sozioökonomische Faktoren, insbesondere die Ernährung, aber wesentlich maßgeblicher sind und beobachtete Unterschiede durch die Verlängerung der Wachstumsperiode ansonsten weitgehend ausgeglichen werden.

      2.10.3 Physiologische Veränderungen

      Abhängig von der Art der Veränderung dauern diese Mechanismen Jahre bis hin zu vielen Generationen