Thomas Matiszik

Totkehlchen


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      Totkehlchen

      Modrichs dritter Fall

      Thomas Matiszik

      1. Auflage März 2019

      © 2019 OCM GmbH, Dortmund

      Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM Verlag, Dortmund

      Verlag: OCM Verlag, Dortmund, www.ocm-verlag.de

      ISBN 978-3-942672-71-9

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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      PROLOG

      Aljosha fror und war sehr müde. Bereits seit knapp zwei Stunden kauerte er in einem Erdloch, das sein Vater in kurzer Zeit nahezu geräuschlos ausgehoben hatte. Dies war umso erstaunlicher, als der Boden in der schneebedeckten Taiga doch gefroren war und der Klappspaten, mit dem Dimitri Sobukov das Loch gegraben hatte, kein besonders stabiles Modell. Aljoshas Vater besaß wahre Bärenkräfte. Niemand, so glaubte jedenfalls Aljosha, könnte es mit Papa aufnehmen. Auch wenn er eigentlich nichts über ihn wusste, die Bewunderung für Papa war grenzenlos. Jetzt aber war ihm so kalt, dass er nicht länger warten wollte. Er wusste noch nicht einmal worauf.

      „Papa“, flehte Aljosha, „bitte lass uns zur Hütte zurückgehen. Mir ist so kalt!“

      Im nächsten Augenblick fühlte Aljosha die kräftige Hand seines Vaters auf seinem Mund. Mit der anderen Hand bedeutete er ihm zu schweigen. Das Rauschen des Windes in den Nadelbäumen war verstummt. Langsam, wie in Zeitlupe, trottete eine Elchkuh mit ihrem Kalb aus dem Waldstück. Dimitri Sobukov küsste Aljosha voller Freude mehrfach auf die Stirn und wies ihn an, mucksmäuschenstill zu sein.

      „Du darfst dich jetzt nicht vom Fleck rühren, mein kleiner Alexej. Schau einfach zu, was Papa macht und merke es dir für die Zukunft“, flüsterte er.

      Dimitri zielte mit seinem Jagdgewehr auf die Elchkuh und traf diese mitten ins Herz. Leblos sank sie zu Boden, während das Kalb starr vor Schreck in die Richtung des Schusses schaute. Für einen kurzen Moment kreuzte sich sein Blick mit dem Aljoshas. Panik erfasste das Kalb. Als ob es ahnte, dass der nächste Schuss ihm gelten würde. Aljosha stiegen Tränen in die Augen, als sein Vater abermals abdrückte. Die Kugel traf das Elchkalb am Hinterlauf. Es schrie laut auf, Dimitri jedoch brach in heftige Flüche aus. Sein eigener Sohn hatte ihn gestoßen, um das Tier zu schützen. Dimitris Blick war nun hasserfüllt. Er zog Aljosha an der Kapuze seines Parkas aus dem Erdloch und schleifte ihn bis zu der Stelle, an der das Elchkalb auf dem Boden kauerte und sich vor Schmerzen wand. Verzweifelt versuchte es, von der Stelle zu kommen, um seinen Peinigern zu entfliehen. Ohne Skrupel trat Dimitri Sobukov mit seinem schweren Stiefel auf den verletzten Hinterlauf und ließ das arme Tier aufheulen.

      „Papa, bitte! Hör auf damit! Du tust ihm doch weh!“

      Aljoshas Gedanken überschlugen sich. So hatte er seinen Vater noch nie erlebt. Natürlich war ihm klar, dass man ihn in Ruhe lassen musste, wenn er nach längerer Zeit mal wieder nach Hause kam. Aber das, was er jetzt vor sich sah, war die Fratze eines herzlosen und gefühlskalten Menschen, der ein hilfloses Tier quälte, ohne mit der Wimper zu zucken. Und sein eigener Sohn hatte es auch noch gewagt, ihn daran zu hindern, sein grausames Werk zu beenden.

      „Papa, bitte tu das nicht. Es reicht doch. Du hast die Mutter getötet, warum muss das Kalb auch noch sterben?“

      Dimitri sah seinen Sohn mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Verachtung an. Diesen Blick sollte Aljosha sein Leben lang nicht mehr vergessen. Dann zog ihn sein Vater an den Haaren zu sich und drückte ihm das Jagdgewehr in die Hand. Aljosha zitterte und wehrte sich gegen die Umklammerung seines Vaters. Ein schneller Fausthieb in die Rippen raubte ihm in Sekundenbruchteilen die Luft. Er röchelte, während sein Vater sich hinter ihn stellte und das Gewehr in Aljoshas Händen positionierte, sodass der Lauf direkt auf das Kalb gerichtet war.

      „Und jetzt bringst du es zu Ende, mein Sohn. Drück ab, kleiner Alexej!“

      Aljosha schloss die Augen und setzte zu einem markerschütternden Schrei an, als er spürte, dass sein Zeigefinger den Abzug betätigte. Die Wälder begannen wieder zu rauschen, als sich der Schnee blutrot färbte.

      DER

       LETZTE

       TAG

      „Kommissar Modrich? Hallo? Wachen Sie auf, bitte! Sie kommen wieder. Ich kann sie hören. Bitte, ich habe solche Angst!“

      Wer rief ihn da? Und wo war er überhaupt? Peer Modrich röchelte und versuchte sich zu bewegen. Vergeblich. Seine Beine versagten den Dienst. Schlimmer noch, er spürte sie nicht.

      „Warten Sie, ich helfe Ihnen!“

      Peer kannte die Stimme. Oder doch nicht? Was war nur los mit ihm? Abermals versuchte er, seine Position zu verändern. Er bekam eine Hand zu greifen und zog sich an ihr hoch. Im nächsten Moment hätte er am liebsten laut geschrien. Es war seine Hand, die durch die plötzliche, ruckartige Bewegung höllisch schmerzte und sich anfühlte, als sei ein Bulldozer über sie hinweggerollt. Dennoch keimte in ihm so etwas wie Hoffnung auf. Doch dann merkte er, wie der Hand des anderen die Kraft auszugehen schien. Statt sich an ihr hochzuziehen, zog Peer die Hand – und dessen Besitzer – zu sich zu Boden. Jemand begann zu weinen. Ein Kind. Modrich schauderte. Um ihn herum war es stockfinster, der pochende Schmerz in seiner Hand, die Taubheit in seinen Beinen und das Weinen des Kindes neben ihm machten Peer endgültig klar, dass er sich in einer ziemlich prekären Lage befand. Das Schlimmste allerdings war, dass er sich nicht im Entferntesten erinnern konnte, wie er in diese Situation geraten war.

      „Der Junge muss verschwinden, so oder so. Was machen wir mit dem Bullen?“

      Es war ein Flüstern, das Peer wahrnahm, dennoch deutlich genug, um zu verstehen, dass man etwas mit ihm und dem Kind, das immer noch neben ihm kauerte, vorhatte. Hastig tastete er seine Jacke ab und suchte etwas, womit er das Kind und sich vor dem drohenden Unheil beschützen konnte. Fehlanzeige. Keine Dienstwaffe, keine Handschellen, auch sein Handy hatte man ihm offenbar abgenommen. Unvermittelt legte sich das Kind auf Peer und flüsterte ihm flehend ins Ohr:

      „Halten Sie mich fest, bitte. So fest wie Sie können. Ich gehe mit denen nicht mit. Die bringen mich sicher irgendwohin, wo ich nicht sein möchte. Wo niemand sein möchte. Bitte, Herr Modrich! Helfen Sie mir!“

      Das Zittern des Kindes übertrug sich auf Peer, der spürte, dass er nichts würde ausrichten können, wenn die Personen, die in wenigen Sekunden bei ihnen sein würden, tatsächlich versuchten, ihm das Kind zu entreißen.

      „Der Bulle ist für uns keine Gefahr mehr und sowieso schon halb tot. Wir lassen ihn einfach hier liegen. Den Rest erledigen die Ratten. Hol jetzt den Jungen, ich warte draußen auf dich! Und solltest du es später wieder nicht hinbekommen, erledige ich ihn.“

      1

      Langsam ruckelte der Touristenbus über die nur notdürftig asphaltierten, schmalen Wege des Nationalparks. Sechs Jahre hatten die Vulkanausbrüche, die Lanzarote zu einer faszinierenden Touristenattraktion haben werden lassen, im 18. Jahrhundert gedauert. Timanfaya, der über fünfzig Quadratkilometer große Nationalpark der Kanareninsel, gehörte seit jeher zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchers. Gregor Frobisch blickte aus dem Fenster des Busses und rieb sich die Augen. Es war unangenehm heiß und trocken, fast hatte