Thomas Matiszik

Totkehlchen


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Aber was, wenn dies nie passieren würde? Was würde es mit ihr machen, wenn die OP schiefgehen sollte? Im Moment galt es, diesen furchtbaren Gedanken zu verdrängen und Leo das Gefühl zu geben, dass seine Mutter wirklich daran glaubte, dass alles gut werden würde. Die Ärzte mussten diesmal einfach recht behalten und durften keinen Fehler machen.

      4

      Peer Modrich war auf den Hund gekommen. Ein drei Jahre alter Tosa Inu hatte das Herz des Kommissars im Sturm erobert. Shao, wie Modrich ihn getauft hatte, war einer der wenigen Hunde, die einigermaßen unbeschadet die brutalen Hundekämpfe überstanden hatten, die über Monate hinweg in Dortmund und Umgebung stattgefunden und eine bedeutende Rolle in Modrichs letztem Fall gespielt hatten. Sein Fell sah zwar immer noch so aus wie das eines riesigen Teddybären, mit dem zu intensiv geschmust worden war, aber das würde sich geben, wie der Tierarzt beteuert hatte. Schlimmer waren die seelischen Wunden, die Shao durch die zahlreichen Kämpfe mit seinen Artgenossen davongetragen hatte. Das Aufeinandertreffen mit anderen Hunden geriet in den meisten Fällen immer noch außer Kontrolle. Und das, obwohl Modrich mit Shao seit geraumer Zeit regelmäßig eine Hundeschule besuchte, die auf den Umgang mit traumatisierten Hunden spezialisiert war. Jakob Schlüter, der Hundetrainer, galt als eine Art Hundeflüsterer, dem man sogar eine eigene TV-Show angeboten hatte. Aber auch Schlüter konnte nicht zaubern.

      „Das, was ihr Hund erlebt hat“, erklärte er Peer nach der ersten Trainingsstunde, „hat so tiefe Narben auf seiner Seele hinterlassen, dass wir mindestens ein Jahr brauchen werden, um ihn zu einem souveränen Hund zu machen, frei von jeglichen Ängsten oder Aggressionen.“

      Modrich nickte nachdenklich. Ob es wirklich eine so gute Idee war, sich einen Hund ins Leben zu holen? Noch dazu ein solches Kaliber? Shao wog sechzig Kilogramm und hatte eine Schulterhöhe von knapp achtzig Zentimetern. Die Frage, wer mit wem Gassi ging, war, wenn man Modrich und Shao beobachtete, bisweilen nur schwer zu beantworten.

      „Und bedenken Sie bitte außerdem“, fuhr Schlüter fort, „der Tosa wurde für diese abscheulichen Hundekämpfe gezüchtet. Seine DNA ist quasi auf Krawall gebürstet. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, sehe ich für ihn keine friedliche Zukunft mit Ihnen.“

      Der Hundeflüsterer hatte leider recht. Die Dame bei der zuständigen Behörde in Dortmund hatte es sofort mit der Angst zu tun bekommen, als sie Shao sah.

      „Was um Himmels willen ist das?“, hatte sie gestammelt, „ein Hund oder ein Bär?“

      Shao legte den Kopf in den Schoß der Dame und eroberte damit ihr Herz. Jedoch verlangten die Vorschriften einen zeitnahen Sachkundenachweis. Und als Peer den jährlichen Hundesteuerbetrag sah, wurde ihm klar, dass Shao nicht nur ein stressiges, sondern auch ein teures Vergnügen sein würde.

      Modrich nahm den Dummy und schleuderte ihn mit aller Kraft in die Botanik. Shao schaute ihn fragend an und schüttelte sich. „Apportieren willst du also auch nicht“, bemerkte Peer, nahm Shaos riesigen Kopf in beide Hände und streichelte ihn liebevoll. Er schaute auf seine Armbanduhr und beschloss, den Heimweg anzutreten.

      Modrich hatte sein Auto unweit des Hixterwaldes, seines bevorzugten Gassireviers, geparkt. Mittlerweile schaffte es Shao sogar, ohne Peers Zutun in den Kofferraum zu springen. Offenbar hatte man Shao, als er noch als Kampfhund ‚tätig‘ war, regelmäßig in viel zu enge Transportboxen gezwängt. Aus diesem Grund hatte er sich noch vor wenigen Tagen mit allen Kräften gesträubt, sich in den Kofferraum von Modrichs Dienst-Passat zu bewegen. Schließlich blieb Modrich keine andere Wahl. Er hob Shao kurzerhand hoch und wuchtete ihn in den Kofferraum. Wobei das mit dem Wuchten eine echte Gefahr für Peers Bandscheiben darstellte. Umso glücklicher war er, als der Tipp des Hundeflüsterers, Shao mit einem kurzen, aber kräftigen Leinenruck in den Kofferraum zu befördern, vor knapp einer Woche Früchte trug und Shao tatsächlich zum ersten Mal freiwillig und ohne Theater in den Kofferraum gehüpft war.

      Die Fahrt zu seiner Wohnung in Dortmund-Aplerbeck dauerte keine zehn Minuten. Wenig, aber doch ausreichend Zeit, um sich Gedanken zu machen, wie er seinem neuen Chef gegenübertreten sollte. Das Ende Kurt Heppners als Polizeichef war sehr abrupt gekommen und hatte bei Peer, vor allem aber bei Guddi, tiefe Spuren hinterlassen. Während Guddi dem Polizeidienst vermutlich noch längere Zeit fernbleiben würde, hatte Peer sich immer und immer wieder gefragt, warum ihm nicht aufgefallen war, dass Kurt Heppner große persönliche Probleme hatte. Peer schaute in den Rückspiegel und sah in das Gesicht seines Hundes.

      „Du hast es gut, Shao“, begann er, „musst dir jetzt keine Sorgen mehr machen.“ Shao bellte einmal kurz. „Hieß das ‚Ich weiß, Herrchen’?“ Modrich holte tief Luft und setzte seinen Dialog mit dem Tosa fort: „Weißt du, Shao, wenn wir Menschen nur halb so sorgfältig auf unsere Artgenossen achten würden wie auf unsere Haustiere, wäre diese Welt eine bessere!“

      Shao machte Platz.

      „Okay, ich verstehe, jetzt wird es dir zu philosophisch, was?“ Peer trommelte rhythmisch auf das Lenkrad, während im Radio Rosanna lief.

      „Ich liebe diesen Song“, murmelte er, „aber wem erzähl ich das eigentlich alles? Modrich, es wird Zeit, wieder zurück in die Spur zu finden. Und am besten fängst du gleich damit an, wenn du deinem neuen Chef gegenübertrittst.“

      5

      Alexej Sobukov war abgemagert bis auf die Knochen. Bei einer doch eher stattlichen Körpergröße von knapp 1,90 Metern wog er nur noch fünfundsechzig Kilo. Seit fast drei Monaten verspürte er einfach keinen Appetit mehr und aß nur noch das Allernötigste. Manchmal gingen Tage ins Land, an denen Sobukov sich ausschließlich von Wasser, Säften und Kraftbrühe ernährte. Zu seiner permanenten Appetitlosigkeit gesellte sich ein extrem unangenehmes Völlegefühl, das er selbst dann empfand, wenn er nichts zu sich genommen hatte. Alexej vermutete ein Magengeschwür – im besten Fall. Wenn er Pech hatte, konnte es auch Krebs sein. Aber was hieß schon Pech? Vielleicht war das alles ja auch die gerechte Strafe für das, was Alexej Sobukov seit Jahren war: Ein eiskalter Killer ohne Gewissen und Moral, den niemand mehr Aljosha nennen durfte. Der seinem Vater nicht nur in nichts nachstand, sondern ihn in puncto Skrupellosigkeit noch übertraf. Bei Weitem sogar.

      Der Dortmunder Zoo war um diese Uhrzeit, kurz vor 21 Uhr, eine Oase der Ruhe. Keine umhertollenden und quengelnden Kinder, keine lauten Schreie aus dem Affenhaus waren zu vernehmen. Nur ganz vereinzelt hörte man ein herzhaftes und lang gezogenes Raubtiergähnen oder das Flügelschlagen eines riesigen Geiers aus dem Gehege im Eingangsbereich des Zoos.

      Alexej stand im Schutze der Dämmerung und wartete auf sein nächstes Opfer.

      Daniel Lehmeier war seit fast zwei Jahren Direktor des Dortmunder Zoos. Mit 39 Jahren war er eigentlich zu jung für den Job, wie seine Kritiker anfänglich gefeixt hatten. Lehmeier hatte es allerdings bald geschafft, diese Kritiker verstummen zu lassen und sein Vorhaben, alle Tiere im Zoo nahezu artgerecht zu halten, in die Tat umgesetzt. Dafür war er weite Wege gegangen, hatte so lange Gelder von privaten und öffentlichen Sponsoren eingesammelt, bis er sein Bild vom idealen Zoo so umsetzen konnte, wie er es sich schon seit Jahren erträumt hatte. Der Zoo war unter Lehmeiers Leitung nicht nur für die Tiere zu einem angenehmeren Ort geworden, sondern auch für die Besucher, die besonders an den Wochenenden und in den Ferien in großen Scharen nach Dortmund strömten, um sich das neue Raubtiergehege, das Affenhaus oder die Pinguininsel anzuschauen. Lehmeier war ein Macher, ein Menschenfänger par excellence. Ihm gehörte zweifellos die Zukunft. Eine große lokale Tageszeitung hatte ihn unlängst sogar als Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt ins Gespräch gebracht. Dass er noch kein Mitglied einer großen Partei war, schien dabei eher ein Vorteil zu sein.

      Daniel Lehmeier schloss die Tür seines Büros hinter sich zu, blickte hinauf zum Sternenhimmel und streckte sich. Er atmete dreimal tief ein und wieder aus, beugte seinen Oberkörper und ließ dann seine Arme locker baumeln. Es war ein langer, aber guter Tag gewesen. Er hatte diesem Typen am Telefon die Leviten gelesen, hatte ihm deutlich gemacht, dass der Deal mit dem seltenen Nashorn endgültig geplatzt war.

      „Die Papiere sind gefälscht, Mann. Das arme Tier sieht auf den Fotos aus, als habe man es monatelang gefoltert und nicht gefüttert!“