Thomas Matiszik

Totkehlchen


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niemals zur Rechenschaft gezogen?

      Als Alexej Sobukov Monate später die Wohnungsklingel der Familie Baldauf betätigte, hatte Martina Baldauf Frühschicht.

      9

      Freds Albtraum riss Guddi aus ihren Träumen. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie nicht mehr so tief und fest schlafen können. Die Ärzte hatten ihr gestern noch mal Mut gemacht, ihr den Eingriff sehr präzise erklärt. Es konnte eigentlich nichts schiefgehen. Im Vergleich zu den beiden ersten OPs, bei denen die Ärzte gebetsmühlenartig auf das hohe Risiko hingewiesen hatten, schien es jetzt fast so, als wollte das gesamte Ärzteteam jegliches Restrisiko allein durch positive Gedanken von vornherein ausschließen. ‚Vielleicht hilft das ja tatsächlich‘, dachte Guddi, als sie sich ins Bett legte und nach kurzer Zeit eingeschlafen war, obwohl Fred sie noch länger mit Fragen zu seinem Zwillingsbruder löcherte. Fred hatte, im Unterschied zu Leo, keine körperlichen Schäden davongetragen. Allerdings war er seit den schrecklichen Stunden in der Gewalt der Entführer trotzdem ein anderer Mensch geworden und benötigte die Hilfe eines Psychotherapeuten. Er kam weder mit der Tatsache klar, dass sein Bruder plötzlich nicht mehr mit ihm herumtollen konnte, noch schaffte er es, die schrecklichen Bilder jener Stunden in der Lagerhalle aus dem Kopf zu bekommen. Den Moment, als sich der letzte Schuss löste und seinen Bruder traf. Die Sekunden, als das Leben aus Leo wich. Die panischen Schreie seines Vaters, der mit ansehen musste, wie ein völlig entfesselter Kurt Heppner seinen Sohn zum Krüppel machte.

      Aber auch Fred hatte mitbekommen, dass die Ärzte, die sich um Leo kümmerten, diesmal sehr viel optimistischer waren als bei den vorangegangenen Operationen. Er wünschte sich nichts mehr, als endlich wieder mit Leo im Garten Fußball zu spielen oder mit dem Mountainbike loszuradeln, bis ihnen die Zunge vor Durst und Erschöpfung fast bis zum Boden hing. Aber natürlich musste er auch jedes Mal, wenn er seinen Bruder im Krankenhaus besuchte – und das war beinahe täglich – der Realität ins Auge blicken. Und diese war leider grausam. Leo Faltermeyer lag in einem Spezialbett und konnte an einem guten Tag lediglich seinen Kopf und die Finger seiner rechten Hand bewegen. Dieser Anblick machte Fred jedes Mal fertig. Sobald sie das Krankenhaus verlassen hatten, weinte er hemmungslos in den Armen seiner Mutter und wollte für den Rest des Tages von allen nur noch in Ruhe gelassen werden.

      ‚Morgen wird alles gut‘, hatte er sich vor dem Zubettgehen geschworen.

      Jetzt saß er, schweißgebadet und mit weit aufgerissenen Augen, neben seiner Mutter im Bett und gab einen lang gezogenen, pfeifenden Ton von sich. Guddi fasste Freds Arm. Dabei merkte sie, dass ihr Sohn offenbar noch immer schlief. Er nahm sie jedenfalls nicht wahr, sondern starrte vor sich hin und ließ den pfeifenden Ton zu einem dunklen Stöhnen anschwellen. Jetzt nahm Guddi Fred in die Arme und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. Es war nichts mit Zusammenhang, ihr fiel aufgrund der eigenen, bleiernen Müdigkeit nichts wirklich Sinnvolles ein.

      „Mami“, begann Fred schließlich leise, „ich habe geträumt, dass Leo wieder laufen kann!“ Guddi musste sich zusammenreißen. Sie hatte mit solch einer Reaktion ihres Sohnes rechnen müssen. Das alles war, wie der Therapeut mehrfach betont hatte, ein entscheidender Schritt zur Verarbeitung seiner außergewöhnlichen persönlichen Situation. Jetzt aber zog es ihr doch den Boden unter den Füßen weg. Sie kämpfte mit den Tränen, wollte für Fred aber Stärke zeigen. Ob das so richtig war, wusste sie nicht. Sie tat es eher intuitiv.

      „Das ist doch toll, Fred. Und ich bin mir sicher, dass, wenn wir beide ganz fest daran glauben, dein Traum auch in Erfüllung geht!“

      Fred schluchzte nun laut und bekam den folgenden Satz nur schwer über die Lippen.

      „Es waren Maschinenbeine, Mama. Leo hatte Maschinenbeine!“

      Guddi wollte losschreien, wusste aber, dass nichts anderes die Situation besser beruhigen würde als eine zärtliche Umarmung. Sie hielt Fred ganz fest und wiegte ihn hin und her, so lange, bis er sich tatsächlich beruhigt hatte und wieder eingeschlafen war. Maschinenbeine. Mit diesem Bild im Kopf war es ihr unmöglich, noch einmal Schlaf zu finden. Gudrun Faltermeyer war eine überaus starke Frau, die nun allerdings vor ihrer bislang härtesten Prüfung stand.

      10

      Dass die Tiere im Dortmunder Zoo an diesem Morgen unruhiger waren als sonst, hatte weniger mit den zahlreichen seltsamen Gestalten in Uniformen und weißen Ganzkörperoveralls zu tun, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass der Zoo seit dem Fund der Leiche Daniel Lehmeiers gesperrt worden war und die Tierpfleger ihren Schützlingen kein Futter bringen konnten.

      Modrich und Frobisch hatten von den Kollegen der Spurensicherung ebenfalls Overalls in Empfang genommen und umgehend übergezogen, während Thea Brammenkemper in einigem Abstand vor dem Gehege der Giraffen stand und nervös an einer Filterzigarette zog.

      Doktor Klaus Gahmen, Chef der Spurensicherung, beugte sich gerade über den abgetrennten Kopf des Opfers, während Modrich und Frobisch sich entsetzt dem Rest der Leiche näherten. „Moin Peer“, sagte Gahmen, als er den Kommissar erblickte.

      „Hi Klaus“, erwiderte Modrich. Als er Gahmens fragenden Blick in Richtung Frobisch bemerkte, fuhr er fort.

      „Stimmt ja. Du warst vorhin gar nicht dabei. Darf ich dir Gregor Frobisch, unseren neuen Polizeichef vorstellen? Herr Frobisch löst Kurt ab, der … Na ja, du weißt das ja alles.“

      „Es ist mir nicht entgangen“, nickte Gahmen und reichte Frobisch seine Hand.

      „Auf gute Zusammenarbeit. Oh, ich hoffe, Sie finden es nicht unhöflich, dass ich den Handschuh nicht abstreife. Keine Sorge, ich habe die Leiche bislang nicht berührt.“

      Frobisch schienen Gahmens Worte nicht sonderlich zu interessieren. Stattdessen gab er ihm nur flüchtig die Hand, um sich sogleich zum Kopf der Leiche herunterzubeugen.

      „Da scheint jemand sehr wütend auf den Zoodirektor gewesen zu sein“, nuschelte Frobisch. Gahmen sah zu Modrich hinüber, der ratlos mit den Schultern zuckte. „Wut war sicher im Spiel“, bestätigte Gahmen, „darüber hinaus aber auch noch Kraft, Technik und eine gewisse Präzision.“

      Modrich war froh, dass Klaus Gahmen wieder zurück im Team war. Er schätzte den Chef der Spurensicherung für seine schnellen und präzisen Analysen. Gahmen war fast zwei Jahre wegen eines schweren Herzinfarktes dienstunfähig geschrieben und konnte nie vollwertig ersetzt werden. Nun, nach einem lebensrettenden, fast sechsstündigen operativen Eingriff, war er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte und lieferte den Ermittlern bisweilen entscheidende Hinweise auf den Tathergang und ein mögliches Motiv. Mit Guddi konnte Modrich vorerst nicht rechnen, deshalb war es umso wichtiger, dass er Gahmen wieder an seiner Seite wusste. ‚Mal sehen, was der Neue so draufhat‘, dachte Peer und blickte zu Frobisch, der immer noch den Kopf des Opfers inspizierte.

      „Chef, was ist denn so interessant an dem Kopf?“, fragte Modrich. „Oder hoffen Sie, dass er noch eine Aussage macht?“

      Frobisch ignorierte Modrichs Anmerkung und beugte sich noch ein wenig tiefer herunter. Gahmen sah Peer abermals irritiert an und wollte gerade etwas sagen, als Frobisch herumschnellte und die beiden triumphierend anlächelte. „Der Täter ist offenbar Raucher. Sehen Sie hier.“

      Gahmen und Modrich hockten sich nun neben Frobisch und begutachteten den Kopf. Auf der linken Wange war eine Brandwunde zu sehen, die die Größe eines Centstückes hatte. „Offenbar war auch eine Menge Hass und Verachtung im Spiel“, ergänzte Frobisch. Gahmen nickte. „Das sieht in der Tat aus, als hätte der Täter nach der Enthauptung in Ruhe zu Ende geraucht und den Glimmstängel im Gesicht seines Opfers ausgedrückt.“

      Modrich erhob sich und resümierte. „Dann müssen wir ja nur noch die Kippe finden und die DNA analysieren. Und schwupps, haben wir den Täter.“

      Gahmen wiegelte ab. „Gut möglich, Peer. Aber so leicht wird das dann eventuell doch nicht. Die Tat scheint nicht von einem Amateur begangen worden zu sein. Ein Hieb mit einer solchen Präzision kann nur von jemandem ausgeführt werden, der Erfahrung im Umgang mit Schwertern oder ähnlichen Waffen hat. Der Täter wusste exakt, wie er sein Werkzeug zu führen hatte. Die eigentliche Tat hat vermutlich