Matthias Klingenberg

Ein kleines Leben


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den an­son­s­ten fast museal anmutenden Gesamteindruck.

      Alexejs Ehrgeiz zielt darauf ab, exakt die Stelle auszu­machen, von der aus mein Großvater sein Foto von der Michailowskaja gemacht hat. Mir ist das eigentlich gar nicht so wichtig, vielmehr möchte ich die Atmosphäre des Ortes mit so viel allgemeiner und persönlicher Geschichte in mich aufsau­gen, herumschlendern und einfach nur ein paar Bilder vom heutigen Leben in Schytomyr machen. Egal, ich spiele mit und wir stehen über mein Tablet gebeugt, das einzige Foto von Karl analysierend am Straßenrand: Passanten halten inne, drehen sich zu uns um, tuscheln und gehen Einkaufstüten schleppend weiter. Die Mittagshitze brennt Ende Mai 2014 unerbittlich auf uns nieder.

      „Etwas weiter hierüber. Nein, nein! Das kann nicht sein, die Fenster auf dem Bild haben Rundbögen und diese hier sind ganz gerade. Aber guck mal der Balkon da oben, hat der nicht exakt diese verschlungenen Geländerverzierungen? Ja, genau! Hier! Genau hier muss er gestanden haben!“

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      Jetzt ist auch Alexej – vor allem nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich den richtigen Ort ohne ihn nie gefunden hätte – total entspannt und glücklich. Wir gehen noch bis zum Ende der Michailowskaja und schlendern dann – Elena und ich mit einem Stakanshik-Vanilleeis – zurück zum Auto.

      In mir tut sich eine seltsame Leere auf. Jetzt war ich also dort, wo mein Großvater vor 73 Jahren ein Foto von sowje­tischen Kriegsgefangenen geschossen hatte. Ich stand (wahr­schein­lich!) genau auf dem Flecken Erde, wo er damals gestanden hatte. Ich habe eigentlich bekommen, was ich wollte: Ich habe die abstrakte Wirklichkeit einer Fotografie, die ich in der Hinterlassenschaft meines Opas fand, mit der konkreten Gegenwart des abgebildeten Ortes in der Jetztzeit verbunden. Aber was soll das? Was bringt mir das?

      Erneut habe ich große Zweifel am von mir verfolgten Ansatz: Habe ich nicht genug eigene Probleme? In meiner Zeit? In meinem Leben? Dass ich mich jetzt auch noch mit dem Leben meines Großvaters und seiner Generation beschäftige? Ich sitze schweigend und in mich gekehrt auf der Rücksitzbank von Alexejs Toyota, während wir den Straßen­bahn­­schienen folgend unseren Weg aus Schytomyr heraus suchen. Wir sind schon fast hinter der Stadtgrenze, fahren durch datschenartig angelegte Vorstadtsiedlungen mit kleinen liebevoll gepflegten Obstgärten, als ich links von uns einen Davidstern und somit den Eingang zum jüdischen Friedhof von Schytomyr vorbeirauschen sehe. Muss ich nicht Alexej bitten anzuhalten? Sollte der Besuch des jüdischen Friedhofs hier in einer Stadt, wo die deutschen Invasoren fast alle Juden umgebracht haben, nicht Pflichtprogramm sein?! Ich fühle mich unwohl, in meinem Kopf führt das politisch korrekte Verantwortungs­bewusstsein einen unerbittlichen Kampf gegen die nostalgi­sierende Trägheit eines heißen Tages im Mai. Denn kann ich auf der anderen Seite jetzt Alexej überhaupt bitten, noch einmal zu halten? Er hat ja schließlich auch Familie und will beizeiten daheim sein. Und muss ich Alexej und Elena jetzt eigentlich noch weiter mit unseren deutschen Traumata beläs­tigen? Außerdem, vielleicht ist Alexej ja auch Antisemit, die soll es ja viel geben hier! Während ich mich quäle, verschwindet der Friedhof schon im Rückspiegel von Alexejs Wagen. Ich habe mich um den jüdischen Friedhof in Schytomyr herumgedrückt.

      Die beiden weiteren Programmpunkte sind Alexejs Idee: Der Besuch von Himmlers Bunker und ein deutscher Soldaten­friedhof. Beide gehörten zu Hitlers Wolfschanzen­anlage, der Bau begann im Herbst 1941, also nachdem Karl hier war. Wir verlassen Schytomyr in Richtung Winnyzja, das hinter Berditschew weiter südlich von Schytomyr liegt. Mehr­mals müssen wir nachfragen, wo sich die Bunkeranlage des SS-Anführers und Holocaust-Verantwortlichen Himmler befindet, Hinweisschilder gibt es nicht. Wir biegen in einen Mischwald aus dunklen hohen Tannen und Birken ab, den sogenannten Hege­wald, wie die deutschen Besatzer das Gebiet nannten. Man hat uns gerade in einer kleinen Siedlung auf dem Weg hierher erzählt, dass der Bunker auf einem ehemaligen sowje­tischen Flugplatz stehe: „Etwa hundert Meter hinter dem kleinen Birkenwäldchen müssen Sie rechts scharf auf einen unbefestigten Feldweg abbiegen, dann sehen Sie schon die Anlage“, sagt ein Halbstarker im schwarzen Unterhemd und mit Goldkettchen, der seinen aufgemotzten Lada Samara mit Heckspoiler wäscht.

      Beim dritten Versuch scheinen wir richtig zu sein: Umgeben von dichtem Wald und selbstgezimmerten Holzbaracken steht auf einer Lichtung ein ehemals imposantes Verwaltungs­ge­bäude (vielleicht aus Flugplatzzeiten oder doch ein Nazibau?). Es bildet den Mittelpunkt eines kleinen Platzes. Nur einen Bunker können wir nirgends ausmachen. Ein etwa fünfzig Jahre alter Mann mit Dreitagebart in weinrotem Trainings­anzug streicht die Metalltür einer Baracke mit roter Rost­schutz­farbe. Immer wieder tunkt er den stark haarenden Pinsel in die abgeschnittene Plastikflasche, in der er die Farbe aufbewahrt. Ein Mann um die zwanzig, ich nehme an sein Sohn, steht neben ihm und will seine paar Brocken Englisch zur Anwen­dung bringen: „Hello! Where are you from?“ „I am from Germany!“ „Ah, Germany, interesting.“ Alexej fragt, ob das hier der richtige Ort sei, und wenn ja, wo denn nun der berühmte Bunker – er fragt nach dem ставка гиммлера, also dem Hauptquartier Himmlers – zu finden sei. Der Anstreicher hebt seinen Arm, dabei tropft die Farbe auf den staubigen Boden und seine Jacke, und zeigt zu einigen unscheinbaren Baracken hinüber. „Dort!“ Jetzt entdecken wir einen etwa 4 Meter hohen und vielleicht 5 Meter breiten moosüber­wachsenen Betonquader, rundherum haben sich lokale Bau­herren die stabile Außenwand zunutze gemacht und den Bunker in ihre Improvisationen aus Holz, Wellblech und Ab­bruchmaterialien eingebaut, sodass er fast komplett unsicht­­bar geworden ist. Eine sympathische Art, die ‚unkaputtbaren‘, an­geb­lich meterdicken Betonmauern zu entmaterialisieren. Auf der hinteren Seite befindet sich eine ca. ein Meter über dem Boden gelegene türkisfarbene Luke mit Verschlussrad – ähnlich den Luken, wie ich sie aus U-Boot-Filmen kenne. Nun erfahren wir vom Mann im Trainingsanzug, dass auch das Verwal­tungsgebäude in der Mitte der Lichtung Teil des deutschen Quartiers war. Als wir versuchen, das Gelände weiter zu erkunden – hinter dem Bunker steht noch ein großes Gebäude mit Spitzdach – werden wir von einer ganzen Horde halb wilder Hunde mit verfilztem Fell verjagt. „Sind die Hunde gefährlich?“, frage ich den Pinselnden. „Keine Ah­nung“, tönt es lapidar von der anderen Seite des Platzes.

      Der Erkenntnisgewinn dieses Trips zu Himmlers Bunker hält sich für mich stark in Grenzen. Auf dem Rückweg, kurz vor der Überquerung des Flusses Huiva biegen wir links ab und stehen vor einem etwa einen halben Hektar großen, mit kniehohen Mauern eingefassten Friedhof. Neun mannshohe Stelen aus Granitstein sind beidseitig eng an eng mit den Namen von Toten deutscher Herkunft beschriftet: Es müssen mehrere tausend Namen sein, so meine vorsichtige Schätzung. Etwas abseits machen zwei junge Frauen Rast unter einem Baum; ein Rasenmäher steht neben ihnen, Gartengeräte lehnen am Baum, beide lächeln, sie unterhalten sich angeregt und essen Wareniki aus einer mitgebrachten Plastiktüte, eine späte Mittagspause wohl.

      Wir bleiben nicht lange. Mir ist unbehaglich inmitten dieses Massengrabes. Nicht weil mich die Anwesenheit tausender Toter bzw. ihrer wenigen Überreste schockiert, sondern weil ich das beklemmende Gefühl, das mich hier befällt, nicht loswerde: Tausende, zumeist junge Männer, gestorben für ein verbrecherisches Regime. Tausende junge deutsche Männer, die trotz ihres Alters schon so viel Unheil angerichtet haben. Ich schäme mich für meine Herkunft, hier auf dem akkurat gepflegten deutschen Friedhof im ukrainischen Schytomyr.

      Wir fahren schweigend über die gut ausgebaute Trasse zurück in die Stadt der Helden. Ich verabschiede mich von Elena und Alexej, lasse Pawel die besten Genesungswünsche ausrichten und nehme ein Taxi zum Boryspil Flughafen.

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      Einige Tage später finde ich eine E-Mail von Konstantin aus Irpin in meinem Postfach. Ich hatte ihm die Bilder meines Großvaters – zumindest die, die meiner Ansicht nach vom ‚Russlandfeldzug‘ stammen könnten – zugesandt und ihn ge­be­ten, doch einmal zu schauen, ob er irgendetwas wieder­erkennt. Tatsächlich erkennt Konstantin ein abgebildetes Kloster in Berditschew wieder, es handele sich um einen Kloster­­komplex des Unbeschuhten Karmeliterordens. Im Anhang schickt er mir ein Worddokument mit Fotografien des Klosters aus verschiedenen Jahrzehnten des letzten Jahr­hunderts und einen russischsprachigen Text zur Kloster­geschichte.