späten 1990er-Jahre. Der zentrale Platz von Irpin ist quadratisch. In seiner Mitte das unvermeidbare Kriegsmahnmal, an der Stirnseite das Rathaus, ein schlichter dreistöckiger Bau, dem nach Ende der Sowjetunion eine klassizistische Fassade vorgesetzt wurde. An einer anderen Seite das Heimatmuseum, das Konstantin mir zeigen will, welches aber – und das finde ich gar nicht so schlecht – heute geschlossen ist. Wir fahren also weiter über schlaglöchrige Straßen und kommen schließlich vor einem ummauerten Parkgelände mit Wächterhäuschen und rostigem Metalldrehkreuz zum Stehen. Hier befand sich und befindet sich das Haus der Schriftsteller: Auf einem etwa einem Hektar großen Areal stehen villenartige kleine Häuser locker in das satte Grün der verwahrlosten Parkanlage eingebettet und harren ihrem wohl nicht allzu fernen Kollaps. Auf mich übt dieses postsowjetische Verwilderungsszenario – zumindest auf den ersten Blick – eine stark romantische Anziehungskraft aus: Eine nicht zu bändigende saftig grüne Natur umfängt, umschlingt die Bauten einer zu Ende gegangenen Epoche und wird sie wohl letztendlich – und das finde ich in diesem Augenblick ebenfalls gar nicht so schlecht – verschlingen.
Konstantin erzählt mir, dass das Gelände vor dem Krieg ziemlich genau so ausgesehen hätte. Es sei damals ein Sanatorium gewesen. Die Deutschen hätten 1941 die Häuser und das Gelände als Basis für die Eroberung der Kiewer Innenstadt genutzt. Mein Opa sei mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit hier (wir betreten ein sehr altes Häuschen in Fachwerkbauweise mit zwei spitzen Türmchen) in diesem Zimmer gewesen, selbst die Betten dort hinten in der Ecke hätten damals dort schon so gestanden. Die drei Metallgitterbetten, das will ich Konstantin gern zugestehen, sehen wirklich so aus, als seien sie mindestens siebzig Jahre alt. Von der Veranda mit hölzernem Geländer, von dem die braune Farbe in großen Stücken abblättert, ergibt sich ein malerischer Blick auf die Niederungen des Irpin. Warum erfüllt es Konstantin so sehr mit Freude und Genugtuung, mir das alles hier zu zeigen? Was fühlt er hier mit mir? Welche Gedanken mögen ihm durch den Kopf gehen? Ich traue mich nicht ihn zu fragen.
Wir gehen weiter auf ein augenscheinlich neueres Gebäude zu: In einem dunklen Saal mit schweren purpurfarbenen Vorhängen steht der Geruch des Verfalls. Aufgereiht dort außerdem neun Plexiglasboxen mit dem Wappen der Ukraine. Am morgigen Sonntag sind im Land Präsidentschaftswahlen. Etwa einen Monat zuvor hatten Kiewer Bürgerinnen und Bürger den zentralen Platz der Stadt, den Maidan, in Besitz genommen, um für die Unterzeichnung eines Abkommens mit der Europäischen Union zu demonstrieren. Über hundert von ihnen bezahlten dieses Engagement mit dem Tod. Den Eingangsbereich des Wahllokals ziert ein mannshoher, fast quadratischer Spiegel mit Goldrahmen. Ich schieße ein Bild von uns vieren im Spiegel.
Die Fahrt geht ohne Konstantin, der in Irpin geblieben ist, weiter über die Trasse nach Schytomyr. Eine Landschaft wie in Nordniedersachsen: platt, fruchtbar, wenig bewaldet. Die Einfahrt nach Schytomyr markiert eine nach oben zulaufende Beton-Stele, die mit dunkelbraunen Fliesen beklebt als Untergrund für die sieben weißen Lettern des Stadtnamens Житомир herhalten muss. Rechts daneben eine Jahreszahl: 884. Umso jünger und ahistorischer die Orte aussehen, umso zwanghafter der Versuch ihre Gründung möglichst weit zurückzudatieren, denke ich, während ich meine Instamatic für ein weiteres Foto präpariere.
Die Straße ist sehr gut ausgebaut. Bevor wir in das Stadtzentrum abbiegen, hält Alexej an einer Raststätte mit dem Namen „Petrograd“. Das heutige Sankt Petersburg hieß von 1914 bis 1924 so. Es war der Versuch, den europäisch klingenden Namen Petersburg in eine russisch anmutende Bezeichnung abzuändern. Nach 1924 taufte man die Stadt dann in Leningrad um, erst 1991 bekam sie wieder ihren ursprünglichen Namen zurück. Was sagt uns also der Name des Restaurants über seinen Besitzer? Ist er aus Russland hierhergekommen? Gehört er der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe an? Ist der Name ein absichtlicher Affront den ukrainisch sprechenden Bevölkerungsteilen und ihrer vermeintlichen Westorientierung gegenüber? Diese und andere Fragen gehen mir durch den Kopf, als wir unter einem Holzverandadach Platz nehmen und uns eine des Russischen nicht im Ansatz mächtige Kellnerin bedient. Vielleicht bin ich durch die gesamtpolitische Lage und das gerade beendete Seminar zur Geschichtsaufarbeitung auch einfach nur extrem politisiert: Wahrscheinlich hat es absolut keine weitergehende Bewandtnis mit „Petrograd“.
Wir nehmen vier Portionen ukrainische Deruny (Kartoffelpuffer) mit Smetana und Kompott. Alexej verschlingt zwei Portionen und schwitzt am ganzen Körper. Er ist etwas genervt, so scheint mir, dass er heute seinen Samstag opfern soll, um diesen Deutschen durch die Gegend zu kutschieren. Aber seinem erkrankten Freund – besser Kameraden – Pawel konnte er diesen Gefallen nicht abschlagen, und ich habe mich in all den Jahren im Osten daran gewöhnt, die Angebote der Einheimischen schamlos anzunehmen.
Der viel zu süße Kompott, eine zweifelhafte Spezialität der Gegend, hergestellt aus eingeweichten Trockenfrüchten, geht mir kaum über die Lippen. Ich fürchte den hohen Zucker- und Puringehalt und mache mir schon wieder Sorgen um meine Gesundheit, während Alexej schwitzend den zehnten Kartoffelpuffer in seinen Mund schiebt und nun wieder bester Laune zu sein scheint.
Schytomyr hat heute etwa 300.000 Einwohner. In der Zeit, als mein Großvater hier war, brachten SS-Einsatzkommandos fast alle Juden in Stadt und Umgebung um. Karl hinterließ in seinem Fotoalbum nur ein Bild, das sich eindeutig Schytomyr zuschreiben lässt. Noch in der Raststätte fragt Alexej den Wirt, ob er wisse, wo dieses Foto aufgenommen worden sein könnte. Der Wirt, ein bierbäuchiger Mittvierziger mit Stoppelbart, erkennt die zweigeschossigen weißen Gebäude sofort: „Das muss die Uliza Michailowskaja sein.“
Von der autobahnähnlichen Trasse biegen wir auf einen großen Prospekt, eine Aufmarschstraße und fragen uns bis zur besagten Michailowskaja durch. Karls Bild zeigt einen Straßenzug mit zwei weiß gekalkten Bürgerhäusern. Straßenbahnschienen durchziehen die Bildkomposition, ein schwerer Militär-LKW mit großem Mercedes-Benz-Stern auf dem Kühler fährt von links in das Bild hinein. Er ist beladen mit deutschen Wehrmachtsangehörigen, die sich erschöpft auf der Pritsche des Wagens niedergefläzt haben. Etwa zwanzig sowjetische Kriegsgefangene, unschwer an ihren Uniformen erkennbar, laufen neben dem LKW die Straßen herunter. Von einem Balkon eines der Bürgerhäuser schaut ein Soldat – ich kann nicht erkennen, wessen Uniform er trägt – auf das Geschehen herunter. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sein Blick scheint mir leer, starr und abwesend zu sein. Ein zweiter sitzt hinter ihm auf einem Stuhl, die Balustrade des Balkons verdeckt ihn fast vollständig. Im Abstand von ein paar Metern stehen junge Bäume am Straßenrand. Eisengitter sollen ihren Stamm vor Beschädigungen schützen. Der ganze Straßenzug macht einen recht neu errichteten oder immerhin frisch renovierten Eindruck. Der Fotograf, mit hoher Wahrscheinlichkeit mein Großvater, hat diese Szene vom gegenüberliegenden Bürgersteig aufgenommen.
Einer der in der Kolonne marschierenden Soldaten bückt sich und scheint etwas vom ungeteerten Boden aufzuheben. Nein, jetzt fällt mir auf, dass seine Kameraden Essgeschirre in den Händen halten, ihm scheint das an einem Metallhenkel zu tragende Gefäß aus der Hand gerutscht zu sein, der Inhalt – war es eine Suppe oder einfach nur Wasser? – ergießt sich auf die Straße. Der Soldat versucht, dieses Malheur mit einer bückenden Bewegung noch verhindern zu wollen. Einige seiner Kameraden haben ihre Blicke in seine Richtung gelenkt und beobachten schweigend das Schauspiel. Was mag dieses Missgeschick für den völlig ausgemergelten Soldaten bedeutet haben? Haben die Kameraden ihm später etwas von ihren Rationen abgegeben? Wohin ging diese Kolonne überhaupt? In die geordnete Kriegsgefangenschaft oder in den sicheren Tod? Die Berichte über die Behandlung von sowjetischen Kriegsgefangenen durch deutsche Wehrmachts- und andere Naziverbände lassen nichts Gutes ahnen.
Mit Elena und Alexej gehe ich dieselbe Straße hinunter, auf der schon Karl damals gestanden und fotografiert hatte. Sie hat sich in all den Jahren, immerhin 73 an der Zahl, kaum verändert. Nur zwei Häuser mussten der sowjetischen Nachkriegsbauwut (oder den Bomben des Weltkrieges?) weichen. Die Bäume, den Blättern nach zu urteilen sind es Linden, überragen mittlerweile die Bürgerhäuser und spenden an heißen Tagen wie heute einen angenehmen Schatten, der zum Promenieren einlädt. Handyshops, Cafés, Restaurants, Papierwaren und andere