der Dachstuhl und ein kleinerer Nebenturm ist halb in sich zusammengefallen. Erklärung liefert der beigefügte Text: Der Zweite Weltkrieg habe der Marienkirche schwer zugesetzt, ein Feuer habe im Jahr 1941 die Ikone der Heiligen Jungfrau Maria und die Gebäude der Klosteranlage zerstört. Ich antworte Konstantin und bedanke mich herzlich für die übersandten Materialien. Gleichzeitig drücke ich mein Bedauern aus, dass dieses wichtige Kloster – immerhin laut Text die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt – von meinen Vorfahren zerstört wurde.
Zwei Tage später schreibt Konstantin zurück: „Lieber Matthias, ich möchte zusätzlich sagen, dass das Kloster wegen eines Feuers zerstört wurde, das sich vor Kriegsbeginn ereignet hat. Diese Information habe ich im Internet gefunden. Aber egal, trotzdem sehr bedauerlich ...“
Erst einmal bin ich natürlich erleichtert, als ich Konstantins E-Mail lese, dann aber kommen Zweifel in mir auf und ich überlege, ob ich nicht noch einmal recherchieren soll, was es wirklich mit dem Brand auf sich hatte. Ich google mich also durch ukrainisch- und russischsprachige Webseiten und lese Seite über Seite, finde aber keine weiteren Informationen zum Feuer: Nichts, was die Aussage des Textes bestätigen würde, noch irgendetwas, was sie widerlegen oder Kontantins These bestätigen könnte.
Es soll wohl so sein: Ich werde Konstantin glauben müssen. Aber das Gefühl, er könnte das nur geschrieben haben, um mich zu beruhigen, lässt mich nicht mehr los.
#das dorf
liegt eingebettet in die feldmark
entökologisierte agrarwüste, zuckerrübensteppe,
weizenmonotonie
roter backstein, klinker, fachwerk
schlaglochdurchsetzt die straßen!
„unser-dorf-soll-schöner-werden“-sünden
leerstand und abwanderung
tiefergelegte schwanzverlängerungen
die halbstarken stehen an der bushaltestelle
büchsenbier wird entsichert und entleert
vor dem jugendklub: mofas, fuchsschwänze und chopperlenker
ein fleischereifachgeschäft geschlossen, die farbe blättert
auf den asphalt
der schießverein, die feuerwehr und heldengedenken
in grauem granit
fahnenappell und ‚wir hatten einen kameraden‘
an der schule eine gasse, hier wohnte meine erste
dahinter, kaum 100 meter weiter, meine oma
ihr kiosk – betrunkene am tresen, kümmerling mit pils
ich stehle süßigkeiten, ein-pfennig-salinos, aus den runden haribo-plastikboxen
die plastikgießkannen des friedhofs sind frühlingsfroh grün
hier liegt in einem urnengrab anna und nicht weit
der rest der bagage
sind wir nun wirklich alle tot?
neubauviertel, kataloghäuser, carports vermoosen
jahreswagen, vereinzelt ein sonnensammler auf dem dach
neubausiedlungen, häusliche gewalt
kleines bürgertum, abwärts geht der ruf
sinnlosigkeit in ästhetik vereint
ja, es sind wirklich alle tot.
im kleinen wäldchen hat doch tatsächlich jemand den ältesten Baum angezündet // 500 Jahre? // dreimal musste die feuerwehr anrücken // langeweile macht aggression.
G.
Gadenstedt/Bargfeld
„Als erstes sieht man eine öde Gegend
Bis zum Horizont ein wirres Licht
Irgendwo in einer weiten Welt gelegen
Und alles ist umringt vom Nichts“
(Kid Kopphausen: Schritt für Schritt)
Tiflis, 18. Januar. Heute vor 100 Jahren wurde Arno Schmidt geboren. Schmidt suchte die Abgeschiedenheit, die Isolation von der Realwelt und fand sie dann im kleinen 150-Seelendorf Bargfeld in der Lüneburger Heide. Als er das kleine Holzhaus am Rande des Dorfes bezog, zäunte er das Grundstück erst einmal ein, fertigte Skizzen für ein hölzernes Eingangstor an, gab es in Auftrag und stellte es auf. Eine Klingel installierte er nicht. Später bepflanzte er den Zaun, um sich vor den Blicken Fremder zu schützen. „Ein guter Schriftsteller darf weder haben Freund noch Vaterland noch Religion“, sagt Schmidt in einem Interview. Bargfeld liegt genau 60 Kilometer nördlich vom Dorf, in dem der Friseursalon meines Großvaters steht. In einem Film zum Anlass des 100. Geburtstages des Schriftstellers wird die Suche Arno Schmidts nach Abgeschiedenheit und einem eigenen Refugium als Auswuchs seines Charakters und eines Werks, das seinen Erschaffer Stück für Stück auffraß, dargestellt. Ich behaupte aber, dass es hier ein weiteres Moment gibt, das als Erklärung herhalten kann.
Was verbindet Karl Krüger und Arno Schmidt? Der eine Schriftsteller, der andere Friseurmeister. Beide sind im Jahr 1914 geboren. Beide waren dreißig, als sich der Krieg dem Ende zuneigte und verloren war. Sie sind Zeitgenossen. Beide haben überlebt. Beide haben Erfahrungen gemacht, die zu verarbeiten sie wahrscheinlich nicht in der Lage waren. Beide waren Kriegsteilnehmer, die ins zivile Leben zurückkehrten und es noch einmal (oder jetzt endlich) wissen wollten, sich hineinstürzten mit Elan und Energie in das neue Leben. Der eine übernahm nur Monate nach der Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft den Friseursalon seines verstorbenen Schwiegervaters, der andere schrieb die Erzählung „Leviathan“ in Ermangelung von normalem Papier auf Telegrammformularen der US-amerikanischen Besatzungstruppen. Beide wussten, dass es höchste Zeit war, die verlorene Kriegszeit aufzuholen, allerhöchste Zeit, noch einmal neu anzufangen. Am 1. Dezember 1946 bezeichnete sich Schmidt erstmals als „Freier Schriftsteller“. Man spürt den Aufbruchsgeist der Zeit. Karl Krüger machte am 21. Oktober desselben Jahres seine Meisterprüfung. Es begann eine Zeit hektischer Produktivität. Schmidts Leben war in erster Linie von Arbeit erfüllt, es war sein Sinn schlechthin. „Sei es noch so unzeitgemäß und unpopulär; aber ich weiß, als einzige Panacee, gegen Alles, immer nur ‚Die Arbeit‘ zu nennen; und was speziell das anbelangt, ist unser ganzes Volk, an der Spitze natürlich die Jugend, mit nichten überarbeitet, vielmehr typisch unterarbeitet: ich kann das Geschwafel von der ‚40= Stunden=Woche‘ einfach nicht mehr hören: meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt.“ Das galt so auch für Karl. Eine Flucht in die Arbeit, wo alle anderen Werte durch das erlebte Grauen für immer vernichtet waren? „Nicht sprechen, sondern produzieren“ lautete die Devise. Arbeit verarbeitet. Schmidt wünschte sich eine Insel, seine Insel, das Wasser als trennendes Element zwischen ihm und der Welt, dem Draußen, distanzschaffend und sicherheitsgebend. Die Insel ein Ich-Biotop, wo niemand einem mehr reinredet, keiner Befehle gibt, ein eigenes Reich: „Vorgesetzte, Chefs, Direktoren, Präsidenten, Generale, Minister, Kanzler. Ein anständiger Mensch schämt sich, Vorgesetzter zu sein“, schreibt Schmidt im Leben eines Fauns (1953 erschienen). Die ‚Insel‘ meines Großvaters hieß „Salon Karl Krüger“, gelegen an der Landwehr 193. Dort war er sein eigener Chef und seine Frau Toni seinem Masterplan zu 150 Prozent verpflichtet: Ähnlich dem, was man über die Beziehung Schmidts zu seiner Ehefrau weiß: 1937 schreibt er in einem Brief über seine Beziehung zu Alice: „Eine ganz ideale vertikale Liebe (meine Spezialität! Leider!).“ Er verbietet ihr, trotz erheblichen Geldmangels (!), weiter in der Fabrik zu arbeiten. Alice ist Zeit seines Lebens dem Genie, ihrem Mann, abhängig ergeben. Drei Jahre nach Schmidt stirbt Alice vereinsamt in Bargfeld.
Mir geht es, wenn ich dies hier niederschreibe, nicht darum, irgendetwas zu vergleichen, was nichts miteinander