zur zweischneidigen Wahrheit über den Menschen, dass jeder Mensch einerseits eine unantastbare Würde besitzt, dass also jeder einen unanfechtbaren Anspruch auf die gleichen Grundrechte hat; dass aber andererseits der Mensch auch fehlerhaft ist, und stark dazu neigt, Macht zu missbrauchen. Wegen dieses Hangs zur Korruption, muss es Gewaltenteilung sowie die strikte Eingrenzung der Staatsgewalten geben, um einer Machtkonzentration vorzubeugen, die im Endeffekt zur Tyrannei führen würde. Diese Kernwahrheiten bilden die unverzichtbare Basis jeder nachhaltigen Demokratie. Heute werden aber genau diese Kernwahrheiten abgelehnt. Die Freiheit wird verzerrt – umdefiniert als das Recht eines jeden, die echte, überindividuelle, man kann auch sagen: universelle Wahrheit außer Betracht zu lassen und für sich selbst zu entscheiden, was seine eigene Wahrheit ist.
Unsere gesellschaftliche Realität, die Wahrheit, die uns leiten sollte, zerfällt in Scherben. Und die postmoderne, wahrheitsaufbrechende „Toleranz“ führt zum genauen Gegenteil: die Unterdrückung der Andersdenkenden, die sich nicht von der postmodernen Elite vorschreiben lassen wollen, wie sie zu denken haben. Schon seit ein paar Jahrzehnten überschwemmt uns diese Absurdität in der Form von Identity Politics und der politischen Korrektheit, durchgesetzt durch eine postmoderne intellektuelle Elite und einen demokratisch nicht legitimierten Bürokratiestaat. Hillary Clinton machte es unbeabsichtigt klar in ihrer Abrechnung mit der „Hälfte der Trump-Wähler“, ungefähr 30 Millionen Amerikanern: Es wird immer mehr zum Normalfall, dass Menschen, die die neu behaupteten Wahrheiten der politischen Korrektheit nicht linientreu nachplappern, als xenophob, rassistisch, homophob, islamophob, rechtsextrem oder was auch immer diffamiert werden. Die Grenzen werden durch verleumderischen sozialen Druck gezogen, außerhalb derer man nicht denken darf. So werden unter dem Deckmantel einer neuen sozialen Gerechtigkeit „für alle“ die reine Unfreiheit und die dreisteste Ungerechtigkeit durchgedrückt. Das gilt für den ganzen transatlantischen Raum, für Europa sowie für Amerika.
In Europa kommt der Zwang hinzu, dem amorphen Traum von irgendeinem letztendlichen Weltfrieden durch eine übernationale Überwindung der Nationalstaaten nach EU-Vorbild anzuhängen, und sei es, dass man die EU-Gläubigkeit durch Stillschweigen über sich ergehen lässt. Tut man das nicht, wird man als erstarrter Nationalist mit rechtsextremistischen Anklängen abgestempelt.
Aber der Schleier wird gelüftet. Immer mehr Menschen spüren, dass ein ungerechter Überfall gegen ihre Freiheit im Gange ist. Und darum ging es bei der Wahl Donald Trumps, dem Kandidaten, der besser als alle anderen die Notwendigkeit verstanden hat, die politische Korrektheit auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen und den Bürokratiestaat wieder unter Kontrolle zu bringen. Um es spitz zu sagen: Es ging bei der Präsidentenwahl nicht um Twitter, noch um ungewöhnliche Haarschnitte, noch um irgendeine andere Nebensächlichkeit dieser Art, die die Aufmerksamkeit der selbst ernannten Bewahrer des politisch und gesellschaftlich guten Tons so dominiert haben. Es ging um die Wiederherstellung der Freiheit und der Gerechtigkeit nach amerikanischer Art.
Die Europäer könnten sehr viel Gewinn aus einer Analyse dieser amerikanischen Vorgänge schlagen. Denn auf dem Mutterkontinent der USA, in Europa, wächst eine ähnliche Sehnsucht nach der Wiedererlangung der Freiheit und Gerechtigkeit, gegen die utopischen Träumereien einer friedvollen Weltordnung nach EU-Vorbild, in der eine globale Elite über die Köpfe der Wähler hinaus regiert.
Was kann man in Europa – und Amerika – von Donald Trump lernen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich im Rest dieses Buches zuerst das Gefühl der Entfremdung in den USA und dessen Ursachen schildern. Dann möchte ich zur postmodernen EU übergehen, um die vergleichbaren Herausforderungen in Europa aufzudecken. Nach einem Diskurs über Trumps Projekt zur Wiederherstellung einer robusten Demokratie in Amerika anhand der Beispiele von brennenden politischen Streitfragen, will ich ein paar Thesen darüber aufstellen, an welchen Punkten dieser Versuch der Wiederbehauptung der Demokratie auch für Europa relevant sein könnte.
Mein durchgehendes Plädoyer ist, für eine Rückkehr zur strikten Eingrenzung des Staates zu plädieren, für das demokratisch rechenschaftspflichtige Regieren auf der Basis eines konservativen Menschenbildes. Kurz und bündig möchte ich in diesem Buch für eine Rückkehr zu einer politischen Führung eintreten, die mit den Menschen, mit der Wählerschaft, und deren common sense verbunden ist.
Dieses Buch versucht, einem europäischen Publikum zu vermitteln, dass Trump kein Zufall, kein Unfall und keine Absurdität der Weltgeschichte ist. Er ist demokratisch legitimierter Präsident der größten Demokratie und eine Figur, die uns im Westen wieder auf unsere eigentlichen demokratischen Werte besinnen lässt. Gerade weil Donald Trump die Selbstverständlichkeiten von vielen von uns – Amerikanern wie Europäern – so sehr erschüttert, haben wir in der ehrlichen Auseinandersetzung mit seinen Thesen eine Chance zur Selbstfindung und zu neuer Stärke.
Editorische Notiz
Die Behandlung der Themen Postmoderne, Menschenrechte und Global Governance auf den Seiten 33-50 sind zum Teil an zwei frühere Werke des Autors angelehnt, und enthalten Auszüge und Zitate aus diesen Werken: Todd Huizinga: The New Totalitarian Temptation: Global Governance and the Crisis of Democracy in Europe. New York: Encounter Books, 2016; und Todd Huizinga: Christlicher Glaube und Politik in der Postmoderne, S. 147-159, in: Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.): Christentum und politische Liberalität: Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Berliner Bibliothek Religion - Kultur - Wissenschaft Band 3, Frankfurt am Main: Peter Lang Edition, 2017.
Die Entfremdung in den USA
Das Unbehagen: rechts wie links
Um das Projekt Donald Trumps zu verstehen, muss man den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Wahl 2016 im Auge behalten, nämlich die Entfremdung in den USA, die nicht mehr zu übersehen ist, zwischen dem „Mann auf der Straße“ und einer scheinbar hoffnungslos abgehobenen Elite. Diese Entfremdung drückte sich aus, um nur ein Beispiel zu nennen, in dem, was die beiden Kandidaten, Donald Trump und Hillary Clinton, im Laufe ihrer Wahlkampagnen über Flint sagten, einer Stadt im Bundesstaat Michigan, in dem ich zu Hause bin. Viele werden sich wahrscheinlich an die Trinkwasserkrise von Flint erinnern. Sie lieferte im Jahr 2016 eine Zeit lang auf dem ganzen Globus Stoff für die Berichterstattung aus den USA. Das Trinkwasser in Flint war verfault und verunreinigt. Man konnte es nicht trinken. Es war ein Skandal.
Flint wurde zu einem Leitthema für die Wahl im vergangenen November. Die Wahl fand statt in einer Zeit, in der viele im ganzen Land sich genauso vorkamen wie viele der Einwohner von Flint – verlassen, allein und vergessen. Um es vielleicht vorsichtiger auszudrücken, fühlten und fühlen sich viele Menschen von der regierenden Klasse unbeachtet – unterbewertet, unberücksichtigt und ignoriert. Donald Trump sagte dazu sehr passend: „Früher wurden Autos in Flint hergestellt, und man konnte das Wasser in Mexiko nicht trinken. Jetzt werden Autos in Mexiko hergestellt, und man kann das Wasser in Flint nicht trinken.“ Hillary Clinton sagte hingegen etwas ganz anderes: „Ich bin empört über das, was in Flint geschieht, und ich finde, jeder einzelne Amerikaner sollte auch empört sein.“
Beide Zitate drückten etwas aus, dem die meisten Amerikaner sicherlich erst einmal zustimmen würden. Bei näherem Hinsehen benannten die Kandidaten aber radikal verschiedene Dinge. Hillary Clinton bezog sich ganz klar auf „Identity Politics“, eine Politik, die auf der Betonung der Identität und der Rechte marginalisierter Gruppen basiert. Sie verwies wiederholt darauf, dass die Mehrheit der Flint-Einwohner Afroamerikaner sind und behauptete, indirekt aber unmissverständlich, dass die Wurzel der Trinkwasserkrise rassistisch begründet war. Ein Hauptthema ihrer Kampagne war das Eintreten für mehr Gerechtigkeit für Gruppen, die sie für marginalisiert hielt: Frauen, LGBT-Menschen (Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle) und Einwanderer nichteuropäischer Abstammung sowie andere Minderheiten.
Auf der anderen Seite konzentrierte sich Donald Trump auf die verlorene Größe Amerikas. Seine Aussage bezog sich auf die Entscheidung der Ford Motor Company (einen Entschluss, den Ford inzwischen teilweise zurückgenommen hat) innerhalb der kommenden Jahre die gesamte Kleinwagenherstellung nach Mexiko zu verlagern. Trumps Kampagne