wie es andererseits von einer grundsätzlichen Vorbehaltlichkeit geprägt sein sollte. Es gibt keinen theologischen Satz, der nicht auch in missbräuchlicher Weise benutzt werden kann – auch nicht das «Soli Deo gloria»65 –, und so gilt es, immer auf den Zusammenhang und das Gefälle zu achten, damit am Ende nicht ein vielleicht systematisch stimmiges, tatsächlich aber lebloses und darin gottloses theologisches Konstrukt an die Stelle eines pünktlichen Denkens im Dienst eines lebendigen Zeugnisses tritt. Es geht um die theologische Entsprechung zu der die Welt verändernden Dynamik des Wortes Gottes. In diesem Sinne bestand Barths freies Reformiertsein in dieser Gleichzeitigkeit von klarer Entschiedenheit und prinzipieller Vorläufigkeit, die ihn immer wieder vor allem auf die Bitte um den Heiligen Geist geführt hat.
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Oepke Noordmans (1871–1956): Reformierte Identität als Leben im Kraftfeld des Geistes
Akke van der Kooi
1. Einleitung
In der Einleitung dieses Buches haben die Herausgeber das Problem skizziert, dass heutzutage viele Menschen aus reformiertem Hause überhaupt nicht mehr wissen, warum sie reformiert sind bzw. was es eigentlich bedeutet, reformiert zu sein. Das ist in meinem Land, den Niederlanden, kaum anders, auch wenn sich die Dinge in konservativeren Kreisen der reformierten Familie (der «Refos,» im Volksmund) etwas nuancierter darstellen. In vielen protestantischen Kirchen nehmen Fragen zur Sinngebung oft den Platz des Interesses an Reformationsgeschichte und Kirchenlehre ein. Sehr verschiedene Entwicklungen haben zur Unsicherheit vieler Menschen beigetragen, was sie sich unter dem Wort «reformiert» vorzustellen haben. Ich kann nur einige davon erwähnen. Es kann in diesem dritten Millennium einerseits die Entfremdung von der eigenen Tradition durch Säkularisierung, Kirchenaustritte und die Begegnung mit anderen Religionen und Kulturen konstatiert werden. Andererseits gibt es die Aufarbeitung der grossen Ereignisse von Krieg und Gewalt des vorigen Jahrhunderts, die ihren Einfluss auf das Denken über Gott und Glaube gehabt haben. Weiter sind viele Leute unsicher, was «reformiert sein» bedeutet, da dieser Terminus oft mit Kirchlichkeit oder Dogmatismus assoziiert wird. Zudem gibt es die neue Medienkultur, die die traditionelle Tradierungsform des Evangeliums als Wortverkündigung, die ja |48| in der reformierten Theologie und Kirche zentral ist, zu einer überwundenen Gestalt zu machen scheint. Auch existieren Vorurteile, die «reformiert sein» mit patriarchaler und autoritärer Gewalt verbinden, um nur einige Punkte zu nennen. Es ist darum sinnvoll, in unserem Jahrhundert der Frage nachzugehen, welche Akzente reformierte Theologinnen und Theologen des 20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit formuliert haben, und zu sehen, wo die Vitalität ihres Denkens in unseren heutigen Diskussionen relevant gemacht werden kann.
Der Zukunftscharakter reformierter Identität
Marco Hofheinz und Matthias Zeindler weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass die Reformierten bei der Identitätsfrage im Nachteil zu sein scheinen, verglichen mit ihren Brüdern und Schwestern in den lutherischen Kirchen, die nur ins Konkordienbuch zu blicken brauchen, oder mit Geschwistern der katholischen Kirchen, die einfach auf die Stimme des Vatikans hören können. Die Reformierten haben zwar in ihrer Konfession auch eigene «Wegweiser», wie den Heidelberger Katechismus oder die Westminster Confession, aber diese Bekenntnisse definieren nicht weltweit für alle reformierten Kirchen, wie man das Reformiertsein zu verstehen habe. Dennoch müssen die Reformierten hier nicht verzweifeln. In einem Artikel zum Thema «Was heisst reformierte Konfession?» schreibt Eberhard Busch, emeritierter Professor für systematische Theologie in Göttingen, über die Reformierten: «Diese Verlegenheit gehört zu ihrer Konfession und unterscheidet sie von anderen Konfessionen.»1 Dieser Satz scheint mir ein schöner Auftakt für meine Aufgabe zu sein, im Kontext unseres Themas etwas über den niederländischen reformierten Theologen Oepke Noordmans (1871–1956) beizutragen. Denn wenn etwas für diesen Theologen charakteristisch ist, dann seine Betonung des semper |49| reformanda, das die ecclesia reformata zu kennzeichnen hat. Semper reformanda, nicht als Hang zur immerwährenden Erneuerung an sich, sondern – wie auch ursprünglich beabsichtigt – als permanente Rückbesinnung auf das Wort Gottes: Jede historische Gestalt hat sich fortwährend am Evangelium zu prüfen. Dies gilt sowohl für die Gestalt der christlichen Lebensform an sich als auch für die Kirche und die Theologie. Ich erläutere kurz, was Noordmans damit meint. Zur Lebensform: Das semper reformanda bringt laut Noordmans auch eine gewisse Entspannung mit sich, denn wer man als Reformierter ist, liegt in Wahrheit in der Zukunft. Mit Paulus geprochen: «Nicht dass ich es schon erlangt hätte oder schon vollendet wäre! Ich jage ihm aber nach, und vielleicht ergreife ich es auch, da auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin.» (Phil 3,12). Identität entsteht in der Glaubensentscheidung, im Akt des Bekennens, sie ist nicht gegeben mit dem Besitz von einigen Bekenntnissen. Ich werde darauf am Schluss meines Beitrages zurückkommen. Zur Kirche: Alle unsere Gemeinschaftsformen sind nach Noordmans noch unterwegs zu ihrem Ursprung, wie das in der Pfingstgeschichte dargestellt ist: zu Praktiken, die vom Heiligen Geist inspiriert sind. Hinsichtlich der Theologie verlangt das semper reformanda laut Noordmans nach einer personalistischen Erkenntnislehre, die ihren Ausgangspunkt nicht bei einem abstrakten Begriff oder Prinzip nimmt, sondern – in der Sprache Noordmans᾿ – bei der «Predigt, die Gott in Jesus der Welt hält», am eindringlichsten auf Golgota.2
Diese Sicht des Reformiertseins im Sinne von Unterwegssein und als eine Beteiligung an einem permanenten Gespräch, in welchem von der eigenen Situation her immer eine Rückbesinnung auf das Christusgeschehen stattfindet, hat – so Eberhard Busch – eine lange Tradition. Sie ist schon in Zwinglis Thesen von 1523, dem ersten reformierten Bekenntnis, präsent. Und im «Berner Synodus» von 1532 wird im selben Geist gesagt: «Würde uns aber etwas von unseren Pfarrern oder anderen vorgebracht, das uns näher zu Christus führt und nach Vermögen zuträglicher ist als die jetzt aufgezeichnete Meinung, das wollen wir gern annehmen und dem heiligen Geist seinen Lauf nicht sperren.»3
Reformierte Identität ist also von Anfang an keine statische, sondern eine dynamische Wirklichkeit, die in der Dynamik des Wirkens des Geistes Christi verwurzelt ist. Sie hat mehr zu tun mit einer Geisteshaltung, einer sogenannten habit of mind, als mit einer fixierten Reihe von Glaubenswahrheiten. Eine Haltung, die geformt wird durch das Wirken des Heiligen Geistes. Dieses Wirken geht, so Noordmans, gleichsam durch uns hindurch – durch das Herz sowie durch Hände und Füsse – |50| zur Welt (VW 2, 425). Reformierte Identität ist nach Noordmans ein pneumatologisches Konzept.
2. Die fünf Punkte der reformierten Geisteshaltung
Die Frage, die uns nun weiter führt, lautet: Wie soll man unter Berücksichtigung der erwähnten Dynamik das Profil Noordmans᾿ als reformiertem Theologen beschreiben? Ich tue dies mit Hilfe der fünf Kennzeichen der reformierten Geisteshaltung, die der amerikanische Theologe Brian Gerrish in einem Buch über die «Zukunft der Reformierten Theologie» vorgestellt hat.4 Diese Kennzeichen lassen sich als Interpretationshilfe für Noordmans᾿ Theologie benutzen. Gerrish argumentiert, dass Calvin in seiner Institutio keine vollständige Liste von reformierten Glaubensartikeln erstellt habe, sondern nur einige erwähnt, die allerdings notwendig seien: «Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil besteht in Gottes Barmherzigkeit.»5 In seinem Kommentar zu 1Kor 3,11 unterstreicht Calvin sogar, dass es nur eine elementare Lehre gebe, die nicht aufgegeben werden darf, nämlich dass wir Christus anhaften, da er das einzige Fundament der Kirche ist.6 Dies ist aber letztlich keine Lehre, sondern eine Geisteshaltung. Sollte man darum nicht sagen können, so fragt Gerrish, dass dies diejenige Geisteshaltung ist, worauf alle christliche Lehre aufbaut?7 Gerrish arbeitet deshalb fünf Kennzeichen einer reformierten Geisteshaltung heraus, zu denen theologische Bildung in Seminarien oder Universitäten befähigen sollte, damit die Pastoren in den Kirchen diese Geisteshaltung wieder in den verschiedenen Aspekten ihrer Arbeit weitervermitteln können. Ich stelle diese Geisteshaltung kurz vor und werde danach anhand ihrer Kennzeichen das Profil Noordmans᾿ skizzieren.