Christoph Geisselhart

The Who - Maximum Rock II


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diesem letzten Satz liegt wohl mehr Weisheit, als Keith sich damals bewusst machte. Sein internes Sündenregister wuchs und wuchs – und es war absehbar, dass das naturgegebene Kapital bald nicht mehr ausreichen würde, um für alles aufzukommen, was er sich und seinem Körper jeden Tag antat.

      Die Tour zog weiter, von Stadt zu Stadt, von einem riesigen Event zum nächsten Footballstadion. Petes idealistische Lifehouse-Vision erschien in diesen Dimensionen geradezu lächerlich. The Who traten während ihrer kurzen Herbstreise vor nahezu einer Dreiviertelmillion Menschen auf. Wo war der schwärmerische Ansatz geblieben, aus dem Lifehouse geboren war? Hatte Pete nicht glasklar formuliert, dass die Gigantomanie von Rockshows tödlich wirke und umgedreht werden­ müsse? Zurück in die Nähe des Publikums, mitten hinein ins wahre pul­sierende Herz des Rock’n’Roll?

      Stattdessen: In Alabama hatten sie sechzehntausendfünfhundert Zuschauer, in Miami kamen dreißigtausend Fans, in Memphis zwölftausend, in Houston ebenso­ viele, in Phoenix dreizehntausend … Pete konnte angesichts dieser ­Realität­ eigentlich keine Zweifel mehr haben, dass The Who genau das Gegenteil dessen taten, was er mit Lifehouse hatte erreichen wollen. Sie steckten tief im Sumpf des Materialismus, und Pete hatte offenbar resigniert. Und so ging es weiter: In San Diego kamen fünfzehntausend Zuschauer, was auf Einnahmen von achtundsiebzig­tausend Dollar hinauslief. In Los Angeles waren es achtzehntausend, die hundertzehntausend Dollar einbrachten. In Long Beach: dreizehntausend Besucher, achtundsiebzigtausend Dollar …

      Am Anfang der Tour im November 1971 hatte Pete noch das weltgrößte Meher-Baba-Zentrum in Myrtle Beach, South Carolina, besucht. Ein Vertrauter des ­verstorbenen Meisters leitete das Zentrum. Wild entschlossen und voller­ Zuversicht, den Anfechtungen des Tourneealltags mit innerer Läuterung begegnen zu können, führte Pete ein längeres Gespräch mit dem aufrechten Mann. Stolz antwortete Pete auf die Frage, wie er es denn mit Drogen halte, dass er seit seinem Rückflug aus Monterey keine Pillen mehr genommen habe – und zündete sich eine Zigarette an. Erst auf erneute Nachfrage wurde ihm bewusst, dass die ­­vielen Joints und Drinks, die er sich jeden Tag großzügig genehmigte, ebenfalls in die Kategorie Drogen fielen – und so wurde er auch im Meher-Baba-Zentrum­ schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen geholt. Er war längst nicht so weit, wie er das gern von sich behauptet hätte. „Pete hielt seine Vorsätze auf Tournee immer ein paar Tage durch“, erzählt sein Tourmanager. „Aber sobald er seine Frau und seine Kinder eine gewisse Zeit nicht mehr gesehen hatte, rutschte er ab wie alle ­anderen.“

      Doch im Gegensatz zu Roger, John und Keith litt Pete darunter. Er stellte an sich ebenso hohe Ansprüche wie an die ganze Welt, und die eigene Schwäche zu erfahren, ist für einen Weltverbesserer stets die härteste und heilsamste Erkenntnis, zu der er gelangen kann. Immerhin war Pete im Herbst 1971 gerade erst sechsundzwanzig Jahre alt, hatte aber schon so viel Ungewöhnliches erlebt, wie es sich die allermeisten Menschen in ihrem ganzen Leben nicht vorstellen können. Es erscheint deshalb verständlich und verzeihlich, dass er als sensibler und aufrichtig­ bemühter Musiker unter dem Druck, den er sich größtenteils selbst auferlegte,­ nicht wie ein Asket agierte.

      Er war nun einmal zuvörderst Pete Townshend von der besten Rockband der Welt – wenn der nicht „Sex & Drugs & Rock & Roll“ erlebte, wer denn dann? Meher Baba hatte es leicht, zum Heiligen zu werden, er hatte schließlich nie eine E-Gitarre in der Hand gehalten oder sich mit Cynthia, der Phallus­gipsgießerin, auseinandersetzen ­müssen. Gleichwohl kam Pete mit seinen Schwächen nicht klar, er kämpfte dagegen an – und machte es sich dadurch schwerer als nötig.

      Schließlich verbündete er sich auf der Tournee mit Keith, den anscheinend nichts bekümmerte. Ob er pleite war, oder ob ihm die Frau davonlief – er zog einfach los und warf sinnlos Geld zum Fenster raus. So kauften sich die beiden in Texas tatsächlich Luftkissenboote mit höllisch lautem Propellerantrieb, wie man sie in Sumpflandschaften wie den Everglades benutzte, wobei das in Petes Fall immerhin noch halbwegs einen Sinn machte, da er an der Themse wohnte. Keith freilich besaß nicht einmal ein Schwimmbad.

      Auf der Bühne machten die beiden gemeinsam inzwischen fast so viel Blödsinn wie die Marx Brothers. In Phoenix nahm das Who-Konzert sogar ganz offen die Züge einer Slapstickdarbietung an. Kernpunkt war das gesetzliche Verbot, ein gewisses „F“-Wort in der Öffentlichkeit auszusprechen.

      „Das kostet uns jedes Mal fünftausend Dollar“, erläuterte Pete dem Auditorium. „Das entspricht zweieinhalb Luftkissenbooten oder dreieinviertel Schneefahrzeugen. Beziehungsweise drei Les-Paul-Gitarren des Baujahrs 1947. Oder drei Hotelzimmer. Das ist unfair. Ich an eurer Stelle würde sofort raus­gehen, irgendwohin, und dreimal, so laut es geht, ‚Ffff …‘ schreien!“

      Keith unterhielt das Publikum unterdessen mit zirkusreifen Purzelbäumen und Überschlägen und sagte „Won’t Get F-f-f-f-fooled Again“ an: „Hier ist ein Song, den Pete geschrieben hat und auf dem wir ein Tonband benutzen, weil wir damit das Geld für den Organisten sparen. Und wir benutzen einen Synthesizer. Nur wir wissen, wie man mit so einem Ding umgeht. Wenn wir also irgendwelche anderen­ Typen mit auf die Bühne gebracht hätten, hätten die sich hier bloß f-f-f-f-f-erdammt lächerlich gemacht.“

      „Keith liebte Amerika“, sagt Wiggy Wolff. Und wir können uns gut vorstellen, warum: wegen Los Angeles. Und weil Weihnachten nahte.

      Das Konzert im Forum von Los Angeles, dessen achtzehntausend Tickets in achtzig Minuten ausverkauft waren, stellte alle bisherigen Verkaufsrekorde, einschließlich jene der Beatles und der Rolling Stones, in den Schatten. Und eigentlich wurden­ in den achtzig Minuten sogar einunddreißigtausend Tickets verkauft, da das Konzert in Long Beach ebenfalls mit im Angebot war und gleichermaßen ausverkauft wurde.

      Nach dem Auftritt in Los Angeles veranstaltete MCA, die Mutterfirma von Decca, im Riot House eine Party. Jedem Who-Mitglied sollten insgesamt acht Silberne, Goldene­ und Platin-Schallplatten überreicht werden, wobei Meaty Beaty Big And ­Bouncy,­ das bereits stramm auf die Top Zwanzig zumarschierte, noch gar nicht zählte. Unter den Gästen waren unter anderem Mick und Bianca Jagger. Vor dieser illustren Gesellschaft veranstalteten Pete und Keith ein unglaubliches Chaos. Pete grabschte nach den glänzenden Scheiben und kreischte: „Die gehören alle mir!“

      Und Keith schmiss sich über ihn, versuchte ebenfalls nach dem Edelmetall zu greifen – und die exklusiven, hinter Glas gerahmten Memorabilien zersplitterten unter dem vereinten Gewicht der beiden verrückten Rockmusiker. Keith unternahm noch den Versuch, jene Goldenen Schallplatten, die heil geblieben waren, auf den Köpfen der Gäste zu zerteppern, konnte aber von seinem extra nach Kalifornien eingeflogenen Betreuer Dougal Butler rechtzeitig abgefangen werden.

      Keith war in absoluter Hochstimmung, denn unter den Gästen war auch Miss Pamela, das Supergroupie aus Zappas Film. Sie erzählt von der Begegnung am 9. Dezember 1971 in ihrer Autobiografie:

      „The Who kamen in die Stadt, und Keith Moon krachte mit der Wucht eines Knallfroschs in mein Leben und forderte uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Ich ging zum Konzert und zum Fest, und er folgte mir nach Hause und ­stolperte boshaft grinsend aus seinem Samtanzug von Granny’s in mein Bett. Ich hatte eine sexuelle Begegnung nicht beabsichtigt, aber ich war scharf auf einen ‚Tommy‘ und darüber hinaus total high von Crème de Menthe und einem ­Sortiment farbenfroher Kapseln.“

      So war Miss Pamela schließlich doch noch wortbrüchig geworden. Erstens gegenüber Don Johnson, mit dem sie gerade eine Beziehung eingegangen war; zweitens in Bezug auf ihre heiligen Maxime, nie mit einem verheirateten Rockstar zu ­schlafen.­ Keith befand sich immer noch im Stand der Ehe, als die beiden zuein­ander fanden, auch wenn er das dem Groupie mit der seltsam bigotten Moral nicht unbedingt auf die Nase band.

      „Ich verwandelte mich bei Mr. Moon in mehrere Menschen“, erzählt Miss Pamela von der lebhaften Nacht, „unter anderem in eine reiche alte Lady, die einem prächtigen jungen Steward nachstellt; in eine Nutte, die einen jungfräulichen Knaben aus Connecticut vernascht, und in ein Schulmädchen, das von einem Priester vergewaltigt wird. Puuh! Irgendwann im Verlauf des mitternächtlichen Wahnsinns kramte Keith eine scheußliche Geschichte aus seiner­ Vergangenheit hervor, die ihn für alle Ewigkeit seelisch verkrüppelt habe. Wie es scheint, hat er eines Nachts im Vollrausch seinen Rolly Royce“ – es