Christoph Geisselhart

The Who - Maximum Rock II


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dem ersten Song konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und bin auf die Bühne gerannt. Pete ist erschrocken und hat mich weggestoßen, und ich bin bei den Hell’s Angels gelandet, die damals Ordner waren.“

      Zum Konzert selbst sagt Werni, was wohl auch die meisten Besucher der Tournee 1972 so empfunden haben: „Alles war super, klasse, aber dass Songs wie ‚I Can See For Miles‘ und andere Klassiker fehlten, wenn sie schon mal in die Schweiz kamen, fand ich etwas enttäuschend. The Who hatten bessere Sachen im Repertoire, als sie damals spielten. Die Resonanz war deswegen auch gespalten.“

      Für Alex wurde es in jedem Fall ein großer Tag. Als einziger durfte er nach dem Konzert backstage und mit der Band in den Katakomben der Mehrzweckhalle feiern. Mit Pete versöhnte er sich auch wieder: „Nach dem Konzert habe ich auf ihn gewartet“, erzählt er. „Ich fragte ihn, wie er das nur machen konnte, mich als seinen größten Fan so zu verstoßen. Er hat mich in den Arm genommen und sich entschuldigt.“

      „Alex wurde von The Who eingeladen, mit ihnen Zeit zu verbringen, und er fuhr mit Pete und Keith zusammen in einer Mercedeslimousine ins Hotel und begleitete sie am nächsten Tag auch wieder zum Flugplatz“, beschreibt Werni den aufregendsten Tag im Leben eines Who-Fans. Eines ist ihm noch besonders im Gedächtnis geblieben: „Was kauft ein Rockstar, wenn er in Zürich ist? Nun, Roger kaufte Tee, Tee, Tee; einen ganzen ­Koffer voll hat er mitgenommen.“

      Und dann waren sie wieder weg. Die Tour ging weiter. The Who reisten nach Paris, wo sie vor fast einer halben Million Zuschauern spielten, auf einem ­Wohltätigkeits-Open-Air-Konzert, das die Kommunistische Partei Frankreichs organisiert hatte. Werni und Alex blieben in der Schweiz; sie kauften jetzt „Join Together“-Singles. Die aktuelle Who-Scheibe tat sich wieder schwer, in die ­Schweizer Hitlisten zu kommen; aber es gab ja zwei unverbrüchliche Fans, die wussten, wie man es machte.

      Mitte September kehrten The Who nach London zurück. Mit nur sechzehn Konzerten war 1972 das stillste Jahr in der Geschichte der Gruppe seit 1963. Die Arbeit an einem neuen Album sollte, da waren sich alle einig, so bald wie möglich beginnen, und so beschlossen sie, ihren Traum vom eigenen Studio zu verwirklichen. The Who kauften für fünfzehntausend Pfund eine große leerstehende­ Lagerhalle in Battersea, Südwest-London, und gaben den Umbau des heruntergekommenen Gebäudes in Auftrag. Eines der modernsten Tonstudios der Welt sollte hier entstehen, mit ausreichender Lagerkapazität für dreißig ­Tonnen Who-Equipment. Hier für Who-Touristen die Adresse: 115 Thessaly Road, Battersea. In den meisten Publikationen wird das Gebäude übrigens als leerstehende Kirche bezeichnet; man sollte zwar nicht alles glauben, was geschrieben wird, aber möglich ist in Bezug auf The Who natürlich alles ...

      Pete kehrte unterdessen glücklich zu seiner Familie zurück. In seiner freien Zeit überarbeitete er Eric Claptons Studiobänder und freute sich, dass sich Who Came First gut verkaufte: In den US-Charts erreichte das Album sogar Platz 69, was überraschend war, wenn man bedenkt, dass die meisten Songs bestenfalls in Demoqualität aufgenommen wurden.

      Doch die Platte war authentisch und zeigte selbst Who-Fans eine bislang wenig bekannte Seite des Komponisten Townshend, der damit – sicher nicht ganz ungewollt – bewies, dass seine Songs auch in einem anderen, tiefer schürfenden ­Kontext­ bestehen konnten. Who Came First gilt vorrangig als Tributealbum zu Ehren seines Meisters Meher Baba, auch wenn Pete mit ­seiner­ spirituellen Mission eigene­ künsterische Ziele verband. Das macht zum ­Beispiel der Vergleich mit den beiden­ darauf enthaltenen Who-Songs „Pure And Easy“ und „Let’s See Action“ deutlich – letzterer trägt auf Petes Album den Titel ­„Nothing Is Everything“ nach einem Lehrbuch von Meher Baba, The Everything and the Nothing. Pete kompensierte hier die fehlenden Aspekte von Who’s Next, und das wirkte sich ganz bestimmt heilsam für ihn aus.

      Das Coverfoto war übrigens ein genialer Einfall von Rogers Cousin Graham Hughes: „Der Titel Who Came First erinnerte mich an die uralte Frage, wer zuerst da war: Das Huhn oder das Ei? Wir hängten Pete über rohen Eiern an einer Winde auf, so dass seine Schuhe knapp außerhalb der Reichweite der Eier waren. Dann schossen wir das Foto, während er versuchte, die Eier zu zertrampeln.“

      Auch John freute sich auf sein Soloalbum, das Anfang November erschien; aber im Gegensatz zu seinem Debüt und zu Petes Album erhielt Whistle Rhymes weniger gute Kritiken und verkaufte sich schlechter. John antwortete darauf umgehend­ mit der Produktion seines nächsten Werks, Rigor Mortis Sets In, und erwog, damit auf Tour zu gehen. Wie Keith fühlte sich John am wohlsten, wenn er auf der Bühne stand und mit einer Band unterwegs war. Daheim in Ealing bestimmten Alison und Söhnchen Christopher das Geschehen. Also vermisste John schon nach kurzer Zeit daheim die Musik und das aufregende Tourleben.

      Roger verschwand in Burwash und renovierte. Sein Scheunenstudio war inzwischen fertig eingerichtet. Keith Altham brachte Roger mit dem Sänger Adam Faith und dessen Schützling Leo Sayer zusammen, einem jungen Singer-Songwriter. Die beiden wohnten in der Nähe, und bald verband sie mit dem Who-Sänger eine enge Freundschaft. In Rogers Studio wurde Sayers Debütalbum aufgenommen.

      Vor allem aber erlebte Roger zum dritten Mal Vaterfreuden. Seine Tochter Rosie Lea kam am 3. Oktober zur Welt – als erstes Mädchen nach den zwei ­Söhnen, die Roger schon aus der Ehe mit Jacqueline und aus seiner flüchtigen Affäre mit einer Schwedin hatte. Die Ehe mit Heather war für Roger „ein Glücksfall, ihm hätte nichts besseres passieren können“, meint Altham, zu dem Roger ein freundschaftliches Verhältnis pflegte. „Sie ist eine Frau mit ungeheuer viel Niveau, gesundem Menschenverstand und einer wundervoll objektiven Einstellung in Bezug auf Rogers Job.“

      Keith konnte von einer so stabilen und gesunden Beziehung nur träumen. „Wann immer ich nach Tara House kam“, erzählt Chris Stamp, „war ich ­schockiert,­ wie schlimm es um Keith und Kim stand. Dass es überhaupt so weit kommen konnte! Sie waren einmal ein Traumpaar gewesen.“

      Das Hauptproblem war nach Einschätzung der meisten Beobachter Keiths Trunksucht. Mit dem Ende der Europatournee war er wieder in ein tiefes Loch gefallen. Schlichte Hingabe an seinen Beruf, wie Pete und John ihm das auch abseits der Bühne vorlebten, war in Keiths Leben undenkbar. Musik schien Keith immer mehr Mittel zum Zweck als echte Leidenschaft. Er hatte ja nicht einmal ein Drumkit in Tara stehen; nichts erinnerte ihn nach einer Tournee oder nach einem Studiotag daran, dass er ein begnadeter Musiker war. Er trank und wollte ein Star sein, egal in welcher Disziplin, nur der größte und beliebteste von allen, und darüber zerstörte er sich selbst und alle Beziehungen, die echte Nähe voraussetzten.

      Im Herbst 1972 kam es bei Keith erstmals zu schweren gesundheitlichen ­Störungen. Ohne die regelmäßigen zwei Stunden harter Bühnenarbeit am Schlagzeug, wobei er seinen übermäßigen Alkohol- und Pillenkonsum regelrecht ausschwitzte, nahm der arbeitslose Drummer rasch an Gewicht zu und verfiel körper­lich. Keiths Biografie spiegelt im Grunde die typischen Stadien eines ­Alkoholikers wider, wie sie der Amerikaner Elvin Morton Jellinek nach einem bis heute gültigen­ System definiert hat.

      Während Keith zu Beginn seiner Karriere bei den Beachcombers geradezu als Abstinenzler galt, markiert spätestens der Wechsel zu den Who im Frühjahr 1964 den Beginn von Phase eins, in der Alkoholkonsum sozial motiviert ist und Erleichterung verschafft, weil in der fröhlichen Gesellschaft anderer Trinker übergroße innere Spannungen abgebaut werden. Die Befriedigung wird nicht dem Alkohol, sondern der Geselligkeit zugeschrieben. Daraufhin sucht der Alkoho­liker Situationen, bei denen möglichst viel getrunken wird.

      Auf der nächsten Stufe, der sogenannten Vorläuferphase zur wirklichen ­Ab­hängigkeit,­ konsumiert der Alkoholiker bereits regelmäßig große Mengen, ohne dass er Anzeichen eines Rauschs zeigt. Oft kann er sich nicht mehr erinnern, was er getan oder gesagt hat. Diese Symptome beschrieb Kim schon kurz vor ihrer Hochzeit, nebst depressiven Anfällen.

      Die kritische Phase beginnt, wenn der Betroffene die Kontrolle über sich verliert.­ Er kann nach dem ersten Schluck Alkohol nicht mehr aufhören zu trinken, bis er zu betrunken für weiteren Konsum ist. Er verhält sich sehr auffällig, kompensiert sein schrumpfendes Selbstwertgefühl mit vorgetäuschter und übertriebener Selbstsicherheit, verstrickt sich in Lügen oder in selbstmitleidigen Erklärungen, beschuldigt grundlos andere, stellt seltsame Regeln für seinen Alkoholkonsum auf, gibt zeitweise Abstinenz