um von einem der dortigen Manager einen Vorschuss einzufordern, den er sogleich mit den einfachen Track-Angestellten in der Kneipe gegenüber verprasste, die dann auch mit ins Speakeasy durften, womit die Arbeit im Track-Büro bisweilen zum Erliegen kam. Und zwei, drei Tage später kreuzte Keith wieder in Tara auf, genervt von den vielen Leuten in seinem Gefolge und von all jenen, die in der Schnapsfalle vom letzten Mal hängen geblieben waren; die beiden Piloten vom Flughafen Heathrow zum Beispiel, die sich schon häuslich eingerichtet hatten. Dougal klatschte energisch in die Hände und rief laut und streng, ‚Leute, die Party ist vorbei!‘ Wobei der eine oder andere vielleicht noch einen Schubs benötigte, um Fahrt aufzunehmen. Keith kroch derweil in sein Bett, griff sich aus dem bauchigen Glas auf dem Nachttisch eine Handvoll bunter Kapseln und schlief erschöpft ein, sofern er nicht Aufputschmittel erwischt hatte oder einen Erstickungsanfall bekam. Daraufhin konnte es durchaus geschehen, dass er sogar ein, zwei Tage lang Joans Gin-Frühstück verweigerte, mit Kim literweise Tee trank und sich von ihr aus einem Buch vorlesen ließ, bis ... nun ja, bis der Teufelskreis von vorn begann.
Kim ahnte natürlich, dass ihr Mann mit anderen Frauen schlief. Schließlich hatte er eigens dafür in der Nähe einige absurde Immobilien gekauft – Hippo Hall zum Beispiel, das kleiner, aber ähnlich futuristisch wie Tara House war. Keith wollte Hippo Hall für zwanzigtausend Pfund an Steve Ellis abstoßen, nachdem Kim das Liebesnest entdeckt hatte. Ellis stellte jedoch fest, dass Hippo Hall überhaupt nicht auf Keiths Namen eingetragen war. Er hatte monatelang in einem Haus gewohnt, das keinem gehörte, ohne je dafür etwas zu bezahlen. Keith hatte die langweilige bürokratische Kaufabwicklung schlichtweg vergessen.
Oder das „Haus der vier Rundtürme“ an der Chertsey Road, dessen Grundstück einen eigenen Themse-Anlegeplatz besaß: Keith wollte es für Dougal und als geheimes Refugium für seine wechselnden Gespielinnen einrichten; aber Kim kam dahinter und vermietete es an eigene Freunde. So lange sie von Keiths Untreue nichts zu hören oder zu sehen brauchte, machte ihr das nicht mehr viel aus. Erst als Keith begann, seine Eroberungen mit nach Tara zu bringen und als Dougals Freundinnen zu deklarieren, die er in dessen leerstehendem Zimmer mehr oder weniger heimlich nachts besuchte, so dass Kim seine Unterwäsche am nächsten Morgen aufklauben musste – erst da wehrte sie sich, jedoch mit geringem Erfolg: „Das war sehr, sehr schmerzhaft; aber ich konnte nichts dagegen tun“, meint sie.
Keiner setzte Keith eine Grenze – warum? Chris Stamp erklärt es so: „Er begann sehr intensiv an die Figur zu glauben, die er erschaffen hatte. Er wollte nichts anderes, er wollte unbedingt dieser Mythos wirklich sein, den er in der Öffentlichkeit mit so großem Erfolg darstellte.“
Niemand aus der Umgebung der Who hatte ein Interesse daran, die erfolgreichste PR-Maschine in der Rockmusik zu stoppen. Keith wurde im ersten Halbjahr 1972 mindestens ebenso häufig interviewt wie Pete. Zu Keith gingen die Journalisten allerdings lieber, schon weil sie dort genug zu trinken bekamen. In Tara ließ es sich auch als Medienprofi herrlich leben und schreiben, bei freier Kost und Logis. „Ich war oft bei ihm zu Gast, wie Richard Green und Roy Carr vom New Musical Express“, erzählt Chris Charlesworth, der damals für den Melody Maker aktiv war. „Ich kann mich an einige Nächte erinnern, in denen ich in Tara hängen geblieben war. Keith hatte einen unfassbaren Glauben an The Who. Für ihn waren sie die beste Band der Welt. Jeder, der ihm zustimmte, war sein Freund, aber wehe, man war anderer Meinung! Dann konnte er bisweilen recht ungemütlich werden.“
Erstaunlich ist, dass sich keiner seiner Bandkollegen je freiwillig – sprich: ohne geschäftlichen Anlass – in Tara blicken ließ. Auch John nicht, der freilich inzwischen einen triftigen Grund dafür ins Feld führen konnte: Als letzter Who-Musiker war er am 23. Januar Vater geworden: Sein Sohn hieß Christopher Alexander und wurde Chris genannt. John hatte außerdem ehrgeizige Pläne. Er war nach wie vor unzufrieden mit seiner Rolle als zweiter Songwriter neben Pete und tüftelte in seinem Heimstudio – für Fans, die in London die relevanten Gebäude abklappern wollen, hier die Adresse: 28 Corringway, Ealing – an einem zweiten Soloalbum, das Whistle Rymes heißen sollte. Aufgenommen wurde die Platte im Frühjahr 1972; einer der Gastmusiker war Peter Frampton.
Auch Roger brütete nebenbei Solopläne aus. Während er nach und nach die Gemäuer von Holmhurst Manor instand setzte, und zwar überwiegend mit eigener Arbeitskraft, weil er es hasste, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, kam er auf die Idee, eine alte Scheune als Studio auszubauen. Er nahm die neue Band von Steve Ellis, die sich schlicht Ellis nannte, unter seine Fittiche und produzierte ihr Debütalbum, Riding On The Crest Of A Slump, das im Herbst 1972 erschien. „Geprobt haben wir bei Mitch Mitchell und bei Roger in der Vorhalle“, erzählt Steve Ellis.
The Who sahen einander während der ersten fünf Monate des Jahres 1972 nur einmal, als sie im Februar zu einem Fototermin für das Observer-Magazin zusammengerufen wurden. Sieben Jahre nach dem aufsehenerregenden Observer-Titelblatt (siehe Band eins) stellten sich Keith, John, Roger und Pete abermals vor einem Union Jack in Positur, und der Vergleich dieser beiden Fotos ist höchst interessant. Die aufgesetzte, provokante Leere und blanke Überheblichkeit, mit der The Who 1965 in jugendlicher Eintracht in die Kamera blickten, ist völlig gewichen. Anstelle einer gestylten und properen Teenieband sehen wir nun ein gereiftes, inkongruentes Künstlerkollektiv, in dem jeder seine Individualität zur Schau trägt. „Moon the Loon“ glotzt in bester Monty-Python-Manier debil den Betrachter an und wird von John Entwistle sanft, aber entschlossen davon abgehalten, aus dem Foto herauszuspringen. Der milde John sieht aus wie eine Kreuzung aus Bruder Tuck in einem alten Robin-Hood-Film und Harry Potters Riesenfreund Hagrid. Er scheint nur aus Haaren zu bestehen.
Roger dagegen erinnert eher an einen jungen Schäfer, der mit seinem von frischer Landluft geröteten Gesicht einem Renaissance-Maler Modell steht – ein flauschiger, bauschiger Jüngling aus Fell und Leinen. Obwohl er der Älteste der Gruppe ist, wirkt er am jüngsten, jünger selbst als der flegelhafte Witzbold Keith, dessen Grimasse Gezwungenheit ausstrahlt. Man nimmt es Roger ohne Zweifel ab, wenn er sagt: „Ich glaube, ich wäre gern Bauer geworden, wenn es mit der Musik nicht geklappt hätte.“
Pete, der schon 1965 das Gruppenbild mit seiner zornigen Blasiertheit und dem ausgeprägten Riechorgan dominierte, hat die deutlichste Metamorphose durchgemacht. Sein großes, helles Gesicht leuchtet zwar selbsterfüllt aus dem Kollektiv hervor, aber der Glanz wirkt bleich und überspannt. Man sieht ihm die vielen Stunden in fensterlosen Studios an, die überreizten Empfindungen und selbstquälerischen Gefühle, den fehlenden Schlaf und den Alkohol. Die wasserhellen Augen hinter den geröteten Lidern scheinen ambivalente Dinge gesehen zu haben, Freuden und Genüsse, Trauriges und Fröhliches, freie weite Welten und dunkle Tiefen im inneren Raum.
An Petes siebenundzwanzigstem Geburtstag, dem 19. Mai 1972, traf sich die Band in den Olympic Studios zu Probeaufnahmen wieder. Pete hatte das Konzept für ein Doppelalbum ausgearbeitet, das unter dem Titel Rock Is Dead – Long Live Rock die Geschichte der Band erzählen sollte. Alle fanden die Idee gut, aber trotzdem sprang der Funke nicht richtig über. Pete bot vorwiegend ungenutztes Lifehouse-Material auf; doch obwohl man die thematische Verbindung zum angedachten Konzeptalbum und zur aktuellen Situation in der Rockmusik durchaus herstellen konnte, spürten alle im Studio, dass eine solche Retrospektive nicht den Zeitgeist traf. Die elektrifizierte Musik hatte sich weiterentwickelt. Glamrock, die nostalgisch unbeschwerte Überspitzung der poppigen sechziger Jahre, war die angesagte Stilrichtung. Bands wie The Sweet, T. Rex oder Slade, die Keith mochte, weil sie ihn an die frühen Who erinnerten, eroberten die Hitparaden. Angemalte, pompöse, tuntenhaft auftretende Solokünstler wie der Ex-Mod David Bowie, wie Elton John, Alice Cooper, Rod Stewart oder Gary Glitter zogen alle Aufmerksamkeit auf sich. The Who in diese Umgebung zu verpflanzen, schien aussichtslos. Mit ihren Bärten, den nachlässigen Outfits und ihrer narbigen Vergangenheit wirkten sie wie Schmuddelkinder vor der Tür zu einem Hollywoodschloss. Keiner in der Band hatte Lust, sich noch einmal dem Diktat einer Imageverwandlung zu unterwerfen. The Who sind The Who sind The Who sind The Who …
Nachdem „Join Together“, „Relay“, „Long Live Rock“ und weitere Songs bis Anfang Juni aufgenommen waren, hörten die Musiker zusammen mit Glyn Johns die Bänder ab und kamen zu dem Ergebnis, dass alles viel zu sehr wie ein schlechter Aufguss von Who’s Next klang. Daraufhin wurde das Album kurzerhand ad acta gelegt. The Who veröffentlichten stattdessen