Till Someone Dials 911“. In der Realität konnte man die Angels als einen Schwarm beschreiben, eine unbarmherzige Bande plündernder Schläger, die sich ihre Kohle mit den Einnahmen aus Drogengeschäften verdienten, aus Einbrüchen, dem Umbau gestohlener Fahrzeuge und dem Striptease-Geschäft.
„Wie sieht es mit den realen Solo Angeles aus? Die werden Fragen stellen. Es ist doch nicht so, dass unsere Jungs nach Tijuana zur gegenseitigen Umarmung fahren können!“, gab Cricket zu bedenken, wobei er sich in das Nasenbein kniff, als hätte er Kopfschmerzen.
„Wir werden Rudy losschicken“, antwortete Beef und wischte einige Krümel vom Tisch.
„Der Typ ist oft abgelenkt und kann die ganze Operation in Gefahr bringen“, mahnte Cricket zur Vorsicht und schüttete den restlichen Kaffee in die Mülltonne.
„Wir werden ihm einen Babysitter an die Seite stellen“, meinte Beef geradeheraus.
„Und wer ist der Glückspilz?“
„Bird“ oder „Jay Bird“ lautete der Spitzname, den der große, schlanke, über und über tätowierte ATF-Agent seit seiner Kindheit trug. Er war Spezialist für Undercover-Operationen und lebte seit neun Monaten in einem verbarrikadierten Haus in den Randbezirken von Bullhead City, einer heruntergekommenen Wüstenstadt in der Nähe von Laughlin, 140 Kilometer von Las Vegas entfernt. Das ATF hatte Bird nach Bullhead abgestellt, damit er die Operation Riverside leitete, eine Ermittlung, die sich um harte Kopfgeldjäger drehte, die ein illegales Waffengeschäft unterhielten.
Bird hatte die Identität eines Schuldeneintreibers angenommen, der allzu gerne den Baseballschläger für die Casinos in Las Vegas schwang und Waffen nach Mexiko schmuggelte. Als sich Birds zweifelhafter Ruf während der Monate verbreitete, die er in Bullhead lebte, begann die kriminelle Unterwelt mit ihm Waffendeals abzuschließen und gab sogar Morde in Auftrag. Auch die Hells Angels wurden auf Bird aufmerksam und begannen sich mit ihm zu treffen. Sie übernachteten bei ihm und schliefen oft auf den Sandsäcken, die an den Wänden der höhlenähnlichen Wohnung aufgestapelt waren. Die Angels entwickelten eine feste Beziehung zu dem Undercover-Cop, was Bird zum idealen Kandidaten machte, um die Operation Black Biscuit zu leiten.
Fünf Uhr morgens. Birds Fenster waren mit Sperrholzbrettern vernagelt. Seine Dusche stank nach dem Desinfektionsmittel Clorox, eine Erinnerung an die Reinigung des Badezimmers, denn der letzte Abhängige hatte dort voll reingekotzt. Bird empfing selten Besucher.
Er biss die Zähne zusammen, während er durch eine Spalte des Fensters blinzelte. Tommy, der Bombenbastler, stieg aus seinem Monte Carlo aus, den dreijährigen Sohn im Schlepptau. Er trug eine kugelsichere Weste und einen Motorradhelm und leckte an einem Eiscremehörnchen. Bird traf die beiden hinter dem Haus, wo sich der einzige Eingang befand. Schnell schnappte er sich die Napalmbombe, die das Kind achtlos in den Händen hielt.
„Ich bin gleich zurück“, sagte er, legte die Bombe auf den Fußboden, brachte den Jungen nach draußen und sperrte ihn im Wagen seines Dads ein. Der Junge presste den Kopf gegen die verdreckten Fenster. Bird schluckte. Seine Gedanken drehten sich um den eigenen Sohn, den er schon seit Wochen nicht mehr gesehen hatte.
Am liebsten hätte er Tommy die verfluchte Bombe in die Fresse gesteckt und bis zum Arschloch runtergedrückt. Eigentlich wäre es notwendig gewesen, die Kinderfürsorge anzurufen, damit sie Tommy den Jungen wegnahm. Im Moment gab es nur eine Möglichkeit – den Kleinen am sichersten Ort zu verstecken, nämlich Tommys stinkender alter Karre, auf deren Sitzen Urinflecken und Drogenreste waren.
Bird schluckte seine Wut runter, biss sich in die Wange und versuchte den Bombenkauf mit Tommy durchzuziehen. „Die ist doch Scheiße“, spuckte er und hantierte vorsichtig mit dem Sprengstoff.
„Und warum lutsche ich an einem Eis, Mann?“ Tommy grinste, während ein Tropfen Vanille das Kinn herunterlief. Er klopfte auf seine kugelsichere Weste. „Wollte noch ein wenig Spaß haben, bevor ich hochgehe.“
„Er gehört zu mir“, antwortete ATF Special Agent Greg Cowan am Telefon. Beef hatte Bird wegen seiner unbestreitbaren Talente angefordert und bestand auf den Einsatz. „Er arbeitet jetzt schon seit neun Monaten an der Operation Riverside, und wir haben mittlerweile genügend Informationen, um diese Hurensöhne …“
„In Bullhead City nimmt ihm jeder die Rolle eines Bikers ab“, parierte Beef mit einer eine Oktave höheren Stimme. „Für den Job ist er ein Naturtalent. Mal ganz davon abgesehen – dort wimmelt es vor Hells Angels, und sie haben nie vermutet, dass hinter ihm ein Cop steckt.“
Das stimmte. Die Schauspielerei war für einen Ex-Footballspieler und ATF-Veteranen ein leichtes Ding. Bird hatte schon als V-Mann gearbeitet und die Gefängnisgang „Aryan Brotherhood“ sowie Familien-Clans der organisierten Kriminalität infiltriert. Darum zeigte er sich nicht allzu überrascht, als Cowan ihm von Beefs Vorschlag erzählte.
Bird ließ den Baseball seinen Unterarm herunterrollen und lächelte. Er mochte wohl in einer „Richie-Cunningham-Familie“ aufgewachsen sein, aber er verfügte über die richtige Einstellung und eine unüberbietbare Widerstandsfähigkeit. Fünf Tage, nachdem ihn das ATF als Frischling eingestellt hatte, fing er sich eine Kugel im Rücken ein (das erste von insgesamt fünf Geschossen während seiner Karriere beim ATF) und verblutete beinahe während einer Geiselnahme. Die Notärzte schnitten den Rumpf seitlich auf, verschoben die Knorpel mit einem Schraubendreher und legten einen Gartenschlauch durch den Brustkorb. Danach war Bird partiell gelähmt. Keine schöne Situation, wenn man mit einem durchgedrehten Verdächtigen auf der Flucht war und bewaffnete Security-Männer durch die Flure des Krankenhauses patrouillierten. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am beklemmendsten empfand er die teilnahmslose Reaktion der Agency auf die darauf folgenden Morddrohungen. „Achte darauf, dass du immer eine Waffe bei dir trägst, und sag deiner Frau, dass sie sehr gut aufpassen soll“, meinte ein Assistent des verantwortlichen Special Agents der Operation lapidar.
Interessant. Und nun zerrissen sich Beef und Cowen förmlich wegen seiner Mitarbeit. Cowen wollte Bird auf gar keinen Fall abtreten. Die Operation Riverside stand kurz vor dem Höhepunkt. Es war noch zu früh, den Fall „einzutüten“ und die Anklagen zu erheben. Würde Bird zu Beefs Team überstellt (und damit ein reguläres Mitglied der Operation Black Biscut), hätte Cowen neun Monate unter immensen Schwierigkeiten zusammengetragene Beweise verloren. Davon abgesehen müsste Bird den Kriminellen in Bullhead City erklären, dass er kein „Schuldeneintreiber/Auftragskiller“ für die Casinos in Vegas mehr sein würde, sondern schon bald ein „waschechter“ Biker der Solo Angeles.
Letztendlich gewann Beef das Tauziehen. Er riss sich Bird unter den Nagel und verpasste ihm die Rolle des Vizepräsidenten des Clubs – und was noch wichtiger war, die Aufgabe als Rudys Babysitter. Doch es kam noch besser, denn Bird wurde im „Doppelpack“ abgestellt und brachte „Pops“ mit, einen vertraulichen Informanten, auf den er große Stücke hielt. Beef wählte Pops für die Rolle eines Prospects aus. Mit ein wenig Schmeicheln und Überredungskunst konnte er Timmy, einen lokalen Polizeirekruten aus Phoenix, davon überzeugen, den anderen Prospect zu spielen. Doch Timmy stellte eine Bedingung – dass er innerhalb von zwölf Stunden ein vollwertiges Member der Solo Angeles mit allen Abzeichen würde.
1 Die Begriffe Prospect und Sponsor sind in einigen wenigen Fällen austauschbar.
2 Die Straftaten reichten vom illegalem Schusswaffenbesitz über Drogenhandel und Mord im Zusammenhang mit Drogen bis hin zu Verstößen gegen den RICO-Act und den National Firearms Act sowie Anklagen wegen Verabredungen zu einer Straftat.
Flagstaff, Arizona – Juli 2002
Bird hockte wartend gegenüber einer heruntergekommenen Tankstelle in der Nähe von Flagstaff. Mit Adleraugen beobachtete er die orange-goldenen Flecken, die in der trockenen Sommerhitze auf seiner am Motorrad hängenden Jacke leuchteten. Sein Herz hämmerte