Vince Neil

Tattoos & Tequila


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sich auf, und nun sehe ich ihn zum ersten Mal vor mir, unverkennbar nach 30 Jahren im Rampenlicht.

      Vince Neil Wharton – früher bekannt für seine toupierte Haarspray-Frisur und die durchdringende Kreischstimme, das Gesicht des Macho-Glamrocks der Achtziger, der Frontmann von Mötley Crüe.

      Inzwischen ist er 48, ein Mann im dritten Lebensabschnitt, etwas gedrungener als erwartet und auch kleiner – 77 Kilo auf 175 Zentimeter. Er trägt einen stoppligen Kinnbart, dünn und mit grauen Strähnen, und lächelt entspannt – vor allem dann, wenn die Menschen ihn beachten. Seinen rechten oberen Schneidezahn schmückt ein kleiner Diamant, eingebettet in eine Reihe perlweißer Kronen, oben wie unten; in der Dunkelheit eines Rock-Clubs funkelt der Stein.

      Mit seinen Drogen- und Alkoholexzessen ist er ebenso in die Rockgeschichte eingegangen wie mit den hohen Absätzen, dem Make-up und den ärmellosen Glitzer-T-Shirts, die ihn Anfang der Achtziger zum androgynen Sexsymbol machten. Heute ist Vince Neil ein gesetzter Mann mittleren Alters. Einen Teil des Jahres verbringt er in Las Vegas, den anderen im Norden Kaliforniens, woher seine Frau stammt. Er hat schon „Geld, aber nicht scheißegal viel Geld“, wie er gern sagt. Oft weist er darauf hin, dass man in einer Band wesentlich weniger verdient als solo. (Und dass von diesem Geld die Agenten, Anwälte, Manager und Steuerberater rund 30 Prozent abschöpfen.) Vince ist nicht nur Rocksänger, er ist auch Geschäftsmann, der sich an verschiedenen Fronten engagiert. Da ist zum einen Tres Rios Tequila, ein Unternehmen, das im mexikanischen Guadalajara Tequila der Extraklasse produziert. Bei Vince Neil Aviation kann man echte Rockstar-Jets chartern – komplett mit Leopardenfellen und dunkelroter Samtausstattung, wie man sich das eben vorstellt. Vince Neil Ink, ein nobles Tattoo-Studio mit Boutique, ist gleich zweimal auf dem Strip in Las Vegas vertreten. Er liebt exotische Sportwagen und Uhren, hat eine ganze Garage voller alter Poster und Kostüme, von denen er einzelne Exemplare an die Restaurantkette Hard Rock Café verkauft hat … und einen ganzen Haufen Gitarren, die ihm ständig von den Instrumentenherstellern geschickt werden, obwohl er in seinem Repertoire lediglich zwei Titel hat, bei denen er dieses Instrument überhaupt spielt – einen Solo-Song, einen von Mötley Crüe. Der Löwenanteil seines Einkommens stammt noch immer aus der Arbeit mit der Band, die in drei Jahrzehnten 80 Millionen Alben umgesetzt hat. (Mötley Crüe verkaufen sich immer noch gut, obwohl sie keine neuen Songs mehr geschrieben haben, seit 2008 Saints Of Los Angeles erschien, eine Art musikalische Autobiografie der Bandmitglieder und ihr vermutlich bestes Werk seit Jahren – zudem das einzige der jüngeren Zeit, das neue Original-Songs enthält.)

      Anstatt eines Spandex-Oberteils trägt Vince ein T-Shirt von Vince Neil Ink mit ausgerissenem Halsausschnitt. Da ich ihm während unserer Zusammenarbeit bei vier weiteren Treffen in zwei verschiedenen Städten in diesem Shirt begegne, ist zu vermuten, dass die ausgefranste Kante Absicht ist. Ein pelzgesäumtes Kapuzenshirt spannt sich über einem kleinen Bauch, wenn er sich streckt, um die Falten glatt zu ziehen. Sein einst so wild toupiertes Haar wird inzwischen regelmäßig in seinem Lieblingsfriseursalon auf dem Strip in Form gebracht. Dort hat man es dunkelblond auf Netter-Junge-von-nebenan gefärbt, mit honigfarbenen Strähnchen versehen, geglättet und mittels der neuesten Technik zu seidiger Vollendung getrimmt; eine wirklich rockstarwürdige Frisur. Der Zahn der Zeit nagt lediglich am leicht zurückgehenden Haaransatz. Eine goldeingefasste Chanel-Sonnenbrille versteckt die nussbraunen Augen.

      Der Gedanke an Vince lässt drei Bilder vor meinem geistigen Auge erscheinen. Eines davon ist der Vince von heute, den ich gerade beschrieben habe, wie er aus seinem Sportwagen aussteigt. Das zweite ist der Vince vom Cover des (wiederveröffentlichten) zweiten Mötley-Albums Shout At The Devil: Wie könnte man diese Augen vergessen, mit diesem gleichermaßen verletzlichen wie völlig geistesabwesenden Ausdruck? Ebenso einprägsam ist das dritte: Sein straff in Leder verpackter Schritt auf dem Cover des Mötley-Debüts Too Fast For Love, auf dem er den linken Daumen mit leichtem Druck an seinen sich deutlich abzeichnenden Penis legt.

      Beim Lesen dieses Buches wäre es sicher nicht verkehrt, das zweite Bild im Kopf zu haben. (Wobei ich sicher bin, dass auch das dritte sich des Öfteren aufdrängen wird; schließlich hat Vince einen großen Teil seiner gesammelten wachen Minuten auf diesem Planeten damit verbracht, sich sexuell auszutoben.) Jenes Foto entstand, als Mötley Crüe 1983 auf der ersten großen Erfolgswelle schwammen, als die Band einem postapokalyptischen Stil frönte, der stark von Filmen wie Mad Max und Die Klapperschlange beeinflusst war. Mit seinen hohen Wangenknochen und den vollen Lippen, die er seinen teils mexikanischen, teils indianischen Vorfahren verdankt, war Vince die ideale Verkörperung der Goldenen Generation des Neuen Westens. Ein Hauch James Dean, ein Hauch Tony Hawk, ein Hauch Jeff Spicoli, dem coolen Surfer aus der Komödie Ich glaub, ich steh im Wald – Vince war die männliche Ausgabe des sonnengebräunten California Girls.

      Man stelle sich einmal vor, wie es gewesen sein muss, dieser Mann zu sein – ein Rockstar, reich, verdammt gut aussehend, der in einem Privatjet zu einer Zeit durch die Welt gondelte, als es noch kein Aids gab, als Kokain, Quaaludes, Jack Daniel’s und wilder einvernehmlicher Sex die ganz normale abendliche Unterhaltung darstellten, so wie heute Karaoke. Selbst im konservativen Mittelwesten feierten die Leute wie die Rockstars. Vince musste einem Ruf gerecht werden und nutzte das weidlich aus. Er hatte das unverschämte Glück aller schönen Menschen: Er musste sich um nichts bemühen, er brauchte nur auszusuchen. Er tat, was er wollte, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen. Er zog über den Strip, vögelte die Mädchen im Gebüsch an der Straße und geriet in Schlägereien mit Polizeistreifen in Zivil oder mit betrunkenen Yuppie-Porschefahrern. In dem Maße, in dem es mit seiner Karriere nach oben ging, vergrößerten sich auch seine Möglichkeiten. Er fuhr Rennwagen und Rennbote. Er feierte Orgien auf Yachten in der Karibik. Er reiste um die Welt. Seine leere Jack-Daniel’s-Flasche warf er aus dem nächsten Fenster. Auch, wenn das vielleicht gerade gar nicht offen war. Nichts war ihm zu wild oder zu skandalös. Nichts verstieß gegen die Regeln, weil es keine Regeln gab. Er verdankte seine Existenz, seinen Platz im Rampenlicht dem menschlichen Bedürfnis nach Helden und Unterhaltung. Er war die Show. Exzesse wurden von ihm erwartet, und die Speichellecker, die ihn umgaben, unterstützten ihn nach Kräften oder stifteten ihn sogar noch an. Groupies standen für ihn Schlange, vor seiner Garderobe, seinem Hotelzimmer, seinem Tourbus oder hinten im Flugzeug. Groupies warteten hinter dem Schlagzeugpodest darauf, ihm während des Drum-Solos einen zu blasen – „das vermittelt vielleicht eine Vorstellung davon, was ich wirklich von diesem egozentrischen Kerl hielt“, sagte Vince später über den Mötley-Crüe-Schlagzeuger Tommy Lee. Aerosmith schrieben ihren Klassiker aus dem Jahr 1987, „Dude (Looks Like A Lady)“, nachdem Steven Tyler und Joe Perry ihn in einer Bar entdeckt und fälschlicherweise für eine heiße Braut gehalten hatten. War es ein Wunder, dass der 17-jährige Vince der erste auf seiner Highschool war, der Unterhaltszahlungen leisten musste?

      Zu einem Zehntel war er der Mann mit dem größten Sex-Appeal der Welt. Zu neun Zehnteln war er eine drohende Katastrophe, die jeden Augenblick über die Welt hereinbrechen konnte.

      Stell dir vor, dieser Typ wärst du selbst gewesen.

      Es war ein Jahrzehnt, geprägt von Kokain, Reagans Wirtschaftpolitik, der Entdeckung von HIV und wachsendem Neofundamentalismus, und die Mötley-Crüe-Mitglieder – Gitarrist Mick Mars, Schlagzeuger Tommy Lee, Bassist Nikki Sixx und Sänger Vince Neil – setzten neue Maßstäbe, was Dekadenz, Selbstzerstörung und Exzesse aller Art anging. Sie gaben jedem Impuls nach und waren fest entschlossen, den Rock’n’Roll-Lifestyle bis zum Äußersten auszukosten. Ihr Sound basierte auf dem Hard Rock und dem Bombast von KISS, versetzt mit der androgynen, schrillen Mode des Glam, einer Portion Bubblegum-Pop und der Dreistigkeit der Punkszene von Los Angeles … großzügig angemischt mit Wimperntusche und Blut. Die Songs der Band waren nie so einprägsam wie ihre Ausstrahlung und ihre Haltung. Schnell, laut und auf Showelemente ausgelegt, aber auch voller melodischem Zuckerguss, bot ihre Musik das Bindeglied zwischen den Poser-Bands der Achtziger und der gehemmten, selbstmörderischen Grunge-Bewegung der Neunziger.

      Die Crües waren fast alle im idyllischen Südkalifornien aufgewachsen, dem Land der Surfer, Skater, Garagenbands und selbstverliebten Schauläufer, und dementsprechend gab es für sie keine politische oder gesellschaftliche Agenda, die über das nächste High, die nächste Schlägerei, den nächsten Streich und die nächsten schön geformten Hinterbacken hinausging. Was Mötley Crüe jedoch von allen anderen abhob,