Nachwort: Peter ist nun einmal Peter
„Was mich anturnt, ist das Gefühl, auf jungfräulichem Schnee unterwegs zu sein.“
– Peter Gabriel, 2007
„Manchmal bin ich stolz auf meine Fehler, solange ich sie mit Überzeugung begangen habe.“
– Peter Gabriel, Star Test, 1989
Oktober 1982. Es schüttet wie aus Eimern. Im Herzen Englands spielen sechs Männer Songs, die sie im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts geschrieben haben, um den Traum ihres ehemaligen Sängers, der sich für diesen Abend noch einmal zu ihnen gesellt hat, am Leben zu erhalten. Aus rechtlichen Gründen können sie nicht unter ihrem eigentlichen Namen – Genesis – auftreten, weshalb sie bei diesem einmaligen Anlass als „Six of the Best“ auf der Bühne stehen: eine umgangssprachliche Bezeichnung für die Bestrafung mit dem Rohrstock, die an englischen Privatschulen zum Alltag gehörte, und eine geschickte Anspielung auf Charterhouse, wo sie sich einst kennengelernt hatten und die damals berüchtigt war für die Anwendung körperlicher Züchtigung. Nur die griechisch anmutende Schrift, in der ihr Bandname im Programm geschrieben ist – eine Schrift, die auch für das Logo ihres Albums von 1974, The Lamb Lies Down On Broadway, verwendet wurde –, gibt einen Hinweis auf die Vergangenheit dieser Herren.
Der Sänger, Peter Gabriel, hatte sich sieben Jahre zuvor einigermaßen freundschaftlich – und für die meisten doch sehr überraschend – von der Gruppe verabschiedet. Da er zwischen 1967 und 1975 der Frontmann, Sprecher und einer der Songwriter gewesen war, hatten nur wenige nach seinem Ausstieg der Band gute Überlebenschancen eingeräumt. Aber obwohl sie sich dagegen entschieden hatten, ihn zu ersetzen, waren sie sogar noch erfolgreicher geworden – mehr, als es sich wohl je jemand hätte vorstellen können.
Gabriels Karriere jedoch verlief – nachdem er der Band den Rücken zugekehrt hatte – alles andere als geradlinig. Ihm war sein künstlerischer Ansatz wichtiger als kommerzieller Erfolg, womit er eine ganz neue Schar von Anhängern gewinnen konnte. Damals hatte er bereits ein Mainstream-Rock-Album mit den besten amerikanischen Session-Musikern eingespielt sowie ein weiteres, das teilweise in New York entstanden war und die Stadt in der Ära von New Wave und Disco widerspiegelte, aufgenommen. Außerdem – und das war am entscheidensten – hatte er eine weitere LP veröffentlicht, die die Richtung für seine zukünftige klangliche Orientierung weisen sollte. Diese Schallplatte enthielt mit dem Song „Biko“ auch den Track, der für seine Karriere mehr Bedeutung haben sollte als alles, was er bis dahin aufgenommen hatte bzw. noch aufnehmen würde. Der Song, der von Stephen Bantu Biko, einem südafrikanischen Studentenführer, der im September 1977 in Pretoria in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen war, handelte, war unverhohlen politisch und mischte afrikanische Trommeln und das tiefe Dröhnen von Dudelsäcken zu einer hymnischen Nummer, die die bemerkenswerte Eigenschaft besaß, ans politische Gewissen ihrer Hörer zu appellieren – und kam später im Kampf gegen die Apartheid zum Einsatz. Dieser Song war Gabriels Visitenkarte, mit der er signalisierte, dass er sich für die Angelegenheit interessierte und sich engagieren wollte.
Aber Gabriel geriet plötzlich in enorme finanzielle Schwierigkeiten. Er war nie in Geld geschwommen – der Genesis-Drummer und spätere Leadsänger Phil Collins nannte ihn einen großen Grübler und Zögerer, der zuerst seinen Träumen folgte und sich erst später Gedanken über die zugehörige Logistik machte. Gabriel hatte ein neuartiges Musikfestival ins Leben gerufen, das Musik aus der ganzen Welt, für die er sich zu interessieren begonnen hatte, auf die Bühne holen sollte. Um dies zu ermöglichen, hatte er mit der Dachorganisation WOMAD (World of Music, Arts and Dance) eine Vision verwirklicht, die seine Wohltätigkeit und Aufrichtigkeit symbolisierte. Gleichzeitig hatte er sein viertes Album in seinem Heimstudio Ashcombe House in Bath aufgenommen. Hier brachte er zum ersten Mal die Sounds, die er gefunden hatte, zur vollen Geltung. Mit seinem Pioniergeist und seinem Verlangen, abseits der Konventionen tätig zu sein, sowie seinem unglaublichen Eifer und Elan hatte sich Gabriel lieber mit gleichgesinnten Geistern statt erfahrenen Vertretern der Musikbranche in Stellung gebracht, um ein Festival zu veranstalten, das diese Art von Musik zelebrieren sollte. Das hatte zur Folge, dass das Festival massiv in die roten Zahlen rutschte. Der Schuldenstand von 250.000 Pfund, der heute ungefähr 600.000 Pfund entspräche, bedeutete für ihn und seine junge Organisation den baldigen Bankrott. Tatsächlich war die erste Auflage des Festivals im Juli 1982 in Shepton Mallet der Inbegriff einer Veranstaltung gewesen, die sich an einem Traum – und nicht der finanziellen Realität – orientiert hatte. Das Publikum war spärlich gesät und die Reisekosten der internationalen Acts waren enorm gewesen.
Entsetzt darüber, dass ihr alter Freund in einer prekären Zwangslage steckte und sogar Morddrohungen von erzürnten Gläubigern erhielt, schlugen Genesis und ihr Manager Tony Smith ein Projekt vor, das eine ordentliche Summe Geld abwerfen würde – ein Benefizkonzert der Band, wiedervereint mit ihrem ehemaligen Sänger. Gabriel war überwältigt von der Großzügigkeit, war sich aber auch durchaus bewusst, dass dies für jemanden, der gerne nach vorne blickte, einen enormen Schritt zurück darstellen würde. Allerdings gab es kaum Alternativen – er musste das Rettungsangebot seiner alten Gruppe annehmen. Six of the Best boten Gabriel die Finanzspritze, die er benötigte.
In der durchnässten Atmosphäre der großteils seelenlos wirkenden Milton Keynes Bowl wohnten 65.000 Menschen dem großen Klassentreffen der Gruppe bei, auf dem die alten Freunde all ihre Stärken ausspielen konnten. Sie wurden von ihrem Mentor und ehemaligen Mit-Kartäuser Jonathan King angesagt, und für ihre Zugabe schloss sich Steve Hackett, der die Band 1977 verlassen hatte, an. Um all die Ironie des Abends auf die Spitze zu treiben, ließ sich Gabriel in einem Sarg auf die Bühne bringen.
Six of the Best beglichen die Schulden von WOMAD und gaben der Organisation letztlich den Schwung mit auf den Weg, das Festival zu einer der führenden Veranstaltungen in seiner Sparte zu machen.
Das vier Jahre später veröffentlichte Album So stellte sich als weltweiter Erfolg heraus, der es mit sich brachte, dass Gabriel nie wieder auf Rettungsangebote angewiesen sein würde. Am Ende des Jahrzehnts rief er mithilfe der Einnahmen, die So einspielte, sein eigenes Studio und Label – Real World – ins Leben. Mit Unterstützung von Virgin Records bot ihm Real World eine geeignete Plattform, seinen globalen Appetit auf neue Musik zur Schau zu stellen.
Aber die Auswirkungen der frühen Achtziger sollten noch einen viel größeren Effekt auf Peter Gabriels Zukunft haben. Sein Eintreten für die Weltmusik und seine Offenheit gegenüber neuen Ideen bedeutete, dass er sich selbst nicht länger nur als Künstler begriff. Sein Schaffen gewann zunehmend auch politisch an Bedeutung, was schließlich dazu führte, dass er mit The Elders eine Organisation ins Leben rief, die heute einige der angesehensten politischen Köpfe der Welt umfasst und als eine Art Think-Tank fungiert, um zur Lösung der größten Probleme des Planeten beizutragen. Gabriel wurde mit dem Man Of Peace Award, der von der Weltversammlung der Friedensnobelpreisträger in Rom verliehen wird, ausgezeichnet: einem Award, der Persönlichkeiten aus der Welt der Kultur und Unterhaltung ehren soll, die sich stark für Menschenrechte und die Prinzipien von Frieden und Solidarität einsetzen und außerordentliche Beiträge zur sozialen Gerechtigkeit auf internationaler Ebene leisten. Wenigen Popsängern ist dies auf so unscheinbare und unaufdringliche Art und Weise gelungen wie Peter Gabriel.
Gabriel hat sich in seinem Leben und seiner Musik immer wieder in unerschlossenes