Ernst Hofacker

Giganten


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deren Kulturen angenähert. Schwarze hörten weiße Radiosender, freuten sich am Samstagabend auf die landesweite Übertragung der Grand Ole Opry-Show aus Nashville, während sich gleichzeitig weiße Kids für den aufregenden Rhythm’n’Blues und die nicht weniger emotionale Gospelmusik begeisterten, ein Gebiet, das ausschließlich die lokalen schwarzen Sender beackerten. Die rasend schnelle Verbreitung der Massenmedien und deren primär an kommerziellen Interessen ausgerichteten Programme begannen auf diese Weise die bis dahin streng praktizierte Rassentrennung in den USA kulturell aufzuweichen.

      Die Folgen waren naturgemäß zuerst in der populären Musik zu spüren. Ab Beginn der Fünfzigerjahre entwickelte sich der Rock’n’Roll, ein neuer Stil, der, um es vereinfachend zu sagen, das Beste aus Country und Blues verschmolz. Plötzlich sangen weiße Teenager wie Schwarze, allen voran Elvis Presley in Memphis, und auf der anderen Seite nahmen Musiker wie Ray Charles und Chuck Berry wie selbstverständlich Stilelemente und auch das Repertoire des Country & Western in ihre Musik auf. Der Moment, als jener Elvis bei RCA seinen Plattenvertrag unterschrieb, dort am 27. Januar 1956 seine erste Single Heartbreak Hotel herausbrachte und in der Folge zum ersten Superstar des Rock’n’Roll wurde, lässt sich als der Beginn dessen festhalten, was wir heute als Popmusik kennen.

      Presley und seine Zeitgenossen – Jerry Lee Lewis, Little Richard, Buddy Holly und andere – waren Helden nicht nur jenseits des Atlantiks. Auch in Europa sorgten ihre Platten, damals fast ausschließlich Singles, für Furore. Mindestens genauso wichtig wie diese Platten waren die ersten Tourneen schwarzer Musiker in Europa Ende der Fünfziger- und zu Beginn der Sechzigerjahre, allen voran das von den Deutschen Horst Lippmann und Fritz Rau organisierte American Folk & Blues Festival. Diese Konzerte pflanzten die Kunde vom Blues über ethnologisch interessierte Akademikerzirkel hinaus direkt in die Herzen einer jungen Generation, die von der biederen Unterhaltungsmusik ihrer Väter gelangweilt war und den Jazz als zu anspruchsvoll und elitär empfand. Rock’n’Roll, Rhythm’n’Blues und der Skiffle, ein in England gezüchteter kurzlebiger, nichtsdestotrotz einflussreicher Bastard aus Country-Rhythmen, Folkharmonien und der Vitalität des R’n’B, waren in den Ohren der englischen Teenager weit besser. Musik, die Spaß machte, zu der man tanzen konnte.

      Vor allem der leicht zu spielende Skiffle ließ eine ganze Generation englischer Kids zur Gitarre greifen. Die Folgen sind bekannt. Wenige Jahre später tauchten die Beatles auf und überschütteten ihr Publikum mit einer neuen Musik von bis dahin ungekannter Vitalität. Die Liverpooler hatten den ursprünglichen Rock’n’Roll ihrer US-Vorbilder mit Folk, Soul und nicht zuletzt den Traditionen der englischen Music Hall angereichert und daraus Songs von ansteckender Lebensfreude destilliert. Innerhalb kürzester Zeit entstand in England eine vielfältige Szene, die alsbald höchst erfolgreich den originär amerikanischen R’n’B und Rock’n’Roll unter dem Banner der »British Invasion« in die USA reimportierte. Jenseits des Atlantiks traf der britische Beat auf eine junge Generation, die den Blues kaum kannte, den Rock’n’Roll längst vergessen hatte und sich mit Surfmusic, Girl Groups und dem standardisierten Fließband-Pop der im New Yorker Brill Building konzentrierten Musikverlage behalf. Folglich rannten die Beatles und ihre Kohorten bei den amerikanischen Teenagern offene Türen ein. An den Universitäten des Landes begannen Studenten die Wurzeln ihrer Kultur zu erkunden. Dabei entdeckten sie die reiche Folktradition der USA, adaptierten sie für eigene Songs, in denen sie aktuelle Themen behandelten und die sie in zeitgemäße Arrangements steckten. Der Protestsong wurde zum Popmedium, dessen frühe Helden Bob Dylan, Phil Ochs und Joan Baez hießen.

      So entstand ab Mitte der Sechzigerjahre in der westlichen Welt eine universelle Popmusik, die, ausgehend von Rock’n’Roll, Beat und Folk, im Laufe der Jahre eine Unmenge von Subgenres ausbildete. Die einen erfanden den Folkrock, die anderen den Countryrock, der Blues mutierte zum Bluesrock, weiter zum Hardrock und endlich zum Heavy Metal, derweil am entgegengesetzten Ende des musikalischen Spektrums der ambitionierte Prog- und Art Rock entstand. Einige versuchten gar, die Rockmusik mit der europäischen Klassik zu kombinieren, während an der amerikanischen Westküste Folk, Country und Rock die Grundlage für das introvertierte Singer/Songwriter-Genre bildeten. Schließlich verbanden sich der jamaikanische Ska und Rocksteady mit der weißen Rockmusik zum Roots Reggae, während führende Virtuosen des Jazz nun ebenfalls Rockelemente integrierten. In späteren Jahrzehnten kamen immer wieder neue Strömungen hinzu – World Music, Electronic, Funk, Disco, Techno, Latin – all das vermischte sich miteinander zum heute kaum noch zu überschauenden Sammelsurium unterschiedlichster Stile.

      Erstaunlich, dass die Gitarre, das Wappentier der Rockmusik, nach fünf Jahrzehnten ungebrochener Popularität auch unter den Jugendlichen des neuen Jahrtausends als Coolness-Ausweis erster Ordnung gilt. Wie sonst sind die Legionen junger Gitarrenbands zu erklären, die unverdrossen aus ihren Probenräumen strömen und das alte Feuer des Rock eifrig am Brennen halten – egal aus welchem der fünf Erdteile sie gerade kommen.

      So wenig ihr Gitarrenlärm im schrillen Konzert des globalen Mediengewitters zu überhören ist, so wenig lässt sich bestreiten, dass sie sich zum überwiegenden Teil aus den Quellen des guten alten Rock bedienen. Es ist, wie es immer war: Jeder Musiker holt sich Anregungen in der Vergangenheit, kombiniert sie mit eigenen Ideen, aktuellen Perspektiven und nicht zuletzt dem Energielevel seiner Zeit. Dass die Rockmusik sich diesem ewigen Wechselspiel zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nie verweigerte, hat sie so langlebig gemacht. Überraschend ist das nicht, bedenkt man, dass der Vater der Rockmusik, der Rock’n’Roll der Fünfzigerjahre, ja selbst schon als Mischling auf die Welt kam. Wie sang dereinst Muddy Waters: »The blues had a baby and they named it Rock’n’Roll.« Bleibt nachzutragen: Die Mutter hieß Country.

      Unlösbar verbunden mit der Geschichte der Rockmusik sind einige der faszinierendsten, begabtesten und eigenwilligsten Künstler, die das vergangene Jahrhundert hervorgebracht hat. Zwei von den großen Pionieren des schwarzen Blues waren Muddy Waters, dessen Chicago Blues einer der tragenden Pfeiler des Rock wurde, und B. B. King, der mit seinem so eleganten und attraktiven Gitarrenton Generationen von Novizen an den sechs Saiten inspirierte und bis heute ein glänzendes Beispiel für professionelle schwarze Entertainment-Kultur gibt.

      Chuck Berry, dessen Songs der Rockmusik und auch der Gitarre einen Großteil ihres Vokabulars schenkten. Bob Dylan ist der zweifellos wichtigste Poet der Rock. In den Achtzigerjahren erfand er sich neu, streifte das ungeliebte Image vom Chefideologen der Sixties-Generation endgültig ab und streunt seitdem als rastloser »song and dance man« über den Planeten.

      John Lennon und Keith Richards waren zentrale Figuren der beiden Bands, die in den Sechzigerjahren als das Maß aller Dinge galten. Ersterer musste nach dem Ende der Beatles einen neuen künstlerischen Weg finden und den Beatle in sich exorzieren, letzterer gilt bis heute als unkaputtbares Rollenmodell des Rock’n’Roll-Lifestyle, wobei er ganz nebenbei in vorderster Reihe mit den Rolling Stones dafür sorgte, dass sich die Popmusik vom ursprünglichen Diktat der Jugendlichkeit emanzipieren konnte. Ray Davies und die Kinks, Van Morrison, Pete Townshend und Eric Clapton, allesamt Briten, gaben, jeder für sich, dem Rock in seiner stilbildenden Epoche entscheidende Impulse und schlugen sich dann ihren jeweils ganz eigenen Weg durch die Zeitläufte. Davies wurde zum Godfather of Britpop und weisen Chronisten des englischen Lebensstils, Morrison zum vielleicht größten Soulbarden weißer Hautfarbe, Townshend zum hochintelligenten Chefneurotiker des Rock und Clapton, der vielleicht größte weiße Bluesgitarrist, überstand schlimmste Schicksalsschläge, um im neuen Jahrtausend endlich am Ziel seiner langen Reise, bei sich selbst, anzukommen. Prägende Figuren im Windschatten der Beatles, Stones, Kinks und Bob Dylans waren der Amerikaner Jimi Hendrix, der erst nach England kommen musste, um Gehör zu finden, und dann wie ein Komet am Pophimmel verglühte. Und Pink Floyd, die mit kühler mathematischer Präzision neue Klanguniversen erforschten, nachdem sie ihren genialischen Gründer Syd Barrett verloren hatten. Zu den prägenden Figuren gehörte auch Peter Green, der, nachdem er mit Fleetwood Mac dem britischen Blues zu Hit-Ehren verholfen hatte, ein ähnliches Schicksal wie Barrett erlitt und irrlichternd in den Abgründen seiner fragilen Psyche verschwand. David Bowie hob 1969 als »Major Tom« ab zu seiner Space Oddity, kehrte als Starman zurück und erfand das Rollenspiel als tragendes Karriereprinzip des Pop. Zur gleichen Zeit zerbrachen drüben in San Francisco Creedence Clearwater Revival, deren knorrige, von Blues und Country beeinflusste Rocksongs ein Dauerabonnement in den