Dr. Haas war ein liebenswürdiger alter Mann, mit einem Doktortitel in Musikwissenschaft. Im Krieg hatte er sehr gelitten, und auch damals ging es ihm nicht gut. Darüber hinaus war er ständig pleite. Doch wenn er mal über Geld verfügte, kaufte er für mich Geschenke wie eine Schachtel Likör-Pralinen oder lud mich sogar zum Essen ein. Er lieh sich von einer Person Geld, um einem anderen Menschen Geschenke zu machen, und drehte das Spielchen dann wahrscheinlich um und borgte sich von dem Beschenkten Geld, um dem ursprünglichen Geldgeber etwas mitzubringen.
Seine Großzügigkeit wurde nur noch von dem Problem übertroffen, das durch seinen Namen verursacht werden konnte. Ich erinnere mich an einen Besuch in unserem Büro. Der Mann vom Empfang kam zu uns und fragte ungläubig: „Mr. Preuss, draußen wartet ein Mann, der sich Mr. Arse3 nennt. Mr. Arse! Kann das denn sein? Wirklich Mr. Arse?“ Wunderbar, was die Phonetik mit Namen anstellt – oder auch grauenvoll!
Der gute Doktor agierte eher wie ein Musikwissenschaftler als wie ein großartiger Dirigent und hatte ein beeindruckendes Wissen über die Musik des Barock, und das zu einer Zeit, als diese Epoche nicht in Mode war. Er überzeugte Oscar, mit seinen Musikern Stücke des Barock zu vertonen. Er stellte sein Ensemble aus den angesehensten Instrumentalisten Londons zusammen, die hauptsächlich im Studio spielten, obwohl sie sich zu gelegentlichen Konzerten hinreißen ließen. Es waren größtenteils Vertreter der Holzblasinstrumente. Ich – ein eher durchschnittlicher Oboist – empfand es als eine große Ehre und faszinierend, Musiker von der Größe eines Frederick Thurston an der Klarinette, Dennis Brain am Horn oder Jack Brymer, Terence MacDonagh und Geoffrey Gilbert aufnehmen zu dürfen.
Wir zeichneten Stücke wie zum Beispiel Dvoˇráks Bläserserenade, Mozart-Serenaden, viele Kompositionen von Bach und Märsche von Beethoven auf: Werke, die heute sehr beliebt sind, doch die damals kaum jemand kannte. Die Aufnahmen wurden natürlich in Mono gemacht, da Stereo noch nicht existierte, aber ich bin immer noch stolz auf unsere Leistungen. Wenn wir Streichquartette einsetzten, wurden sie unweigerlich von Jean Pougnet geleitet, einem charmanten Berg von einem Mann. Seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung lag im Holzhacken auf seinem Anwesen auf dem Lande. Sah man die großen, prankenartigen Hände, war es schier unvorstellbar, dass er seiner Geige damit solch hauchzarte und wunderschöne Klänge entlocken konnte.
Abgesehen von dem Genuss, Holzblasinstrumente von Koryphäen gespielt zu hören, lernte ich bei diesen Sessions wichtige Elemente der Aufnahmetechnik. Durch eine behutsame Platzierung der einzelnen Instrumente im Raum war es möglich, das Ganze mit nur einem Mikrofon mitzuschneiden. Die natürliche Akustik des Studios verlieh den Aufnahmen einen hervorragenden Klang. Um einen möglichst natürlichen Sound zu gewährleisten, sollte man so wenig Mikros wie möglich einsetzen, ein Prinzip, von dem ich glaube, dass es heute noch gilt.
Als das Ensemble in voller Blüte stand, ging Dr. Haas eines Tages zu einer Party. Dort traf er Peter Ustinov, der damals als Beitrag zu den Festivitäten Imitationen von Opernsängern aufführte. Dr. Haas erfuhr, dass Ustinov nicht nur die Musik des Barock schätzte, sondern auch über ein umfangreiches Wissen zu dem Thema verfügte. So entschloss er sich zur Gründung der London Baroque Society und lud Peter ein, den Vorsitz zu übernehmen. Karl bekleidete den Posten des Dirigenten, ich den des Sekretärs – und schon war sie geboren, die London Baroque Society, mit nur drei Mitgliedern. Wir trafen uns ungezwungen in den Abbey Road Studios, aßen gemeinsam zu Mittag, unterhielten uns über Musik allgemein und entschieden uns, was das Ensemble als Nächstes aufnehmen wird. Ich muss schon sagen – uns umgab eine bestimmte Eleganz des 18. Jahrhunderts! Und so lernte ich Ustinov kennen, den ich später aufnahm.
Als ich 1950 zur EMI kam, eröffnete sich mir eine Welt, die von einigen Kontroversen gekennzeichnet war. Die CBS USA hatte Langspielplatten auf den Markt gebracht, und im Juni des Jahres veröffentlichten Decca ihren ersten Longplayer. Doch die einflussreichen Anzugträger der EMI hatten nicht den Weitblick, dass dieses Medium einen revolutionären Prozess ins Rollen brachte, der sich auf den Aufnahmeprozess auswirken sollte. Sie vertraten die Auffassung, dass sich jeder bei einem aus damaliger Sicht überlangen Tonträger langweilen werde, dass das Format zu teuer sei und dass sie ganz zufrieden mit den 78er-Singles seien.
Ich konnte die Einstellung nicht verstehen. Ich produzierte Klassik, und nichts war ärgerlicher, als die Musik in winzige „Fischgräten-dünne“ Stückchen mit einer Laufzeit von jeweils 4:30 Minuten zu sezieren. Ständig musste ich mich mit der Problematik auseinandersetzen, die Partitur gewissenhaft durchzuarbeiten und mich für den idealen Punkt einer Unterbrechung zu entscheiden. Allerdings fiel das oft mehr oder weniger willkürlich aus, und manchmal war ich gezwungen, den Schnitt mitten in einem Satz zu machen. Wenn ich keine ursprünglich vom Komponisten vorgesehene Pause in der Musik fand, musste ich die zweite Seite mit dem letzten Akkord der ersten Seite beginnen, denn sonst wäre ein eigenartiger Höreindruck erstanden. Das war absurd, aber es bot sich keine Alternative, denn durch die rein technischen Einschränkungen durfte eine Seite höchstens eine Spielzeit von 4:45 Minuten haben. Verschiedene Produzenten setzten beim selben Stück unterschiedliche Schnitte, abhängig vom Tempo, das der Dirigent den Musikern vorgab. Mich faszinierte der Vergleich, wo die anderen Tontechniker denn nun ihren Schnittpunkt ansetzten.
Es machte Spaß, wirkte sich allerdings negativ auf das Geschäft aus. Trotz der gebotenen Eile veröffentlichte die EMI eine Erklärung, in der sie bei einem möglichen Formatwechsel eine mindestens sechsmonatige Vorlaufzeit einräumte. Sir Ernest Fisk war für die katastrophale Entscheidung verantwortlich. Ich wähle den Begriff „katastrophal“, denn die Firma verlor ganze zwei Jahre. Meiner Ansicht nach lag in dieser Fehlentscheidung ein fundamentaler Grund für den Verlust des Repertoires von Columbia Records in den USA. 1953 musste die EMI den Katalog des Sub-Labels an Phillips abtreten, und 1957 verkauften die Manager RCA-Victor an Decca, und das nach einer 75-jährigen Zusammenarbeit. Sir Ernest Fisk war ein Australier, der nichts so sehr liebte wie eine Fahrradfahrt um den Hyde Park. Er wird als Vorsitzender der Geschäftsführung in die Firmengeschichte eingehen, der den Einstieg der EMI in den Langspielplattenmarkt verzögerte – Fahrrad hin oder her.
Eine Episode wird wahrscheinlich nicht in die Geschichte eingehen. Es ist der Tag, an dem mir beinahe gekündigt wurde. Ich wusste nicht, wie er aussieht, da der gute Mann in der Geschäftszentrale in Hayes arbeitete. Ich arbeitete mit einem Chor im Studio 1 in der Abbey Road, in dem eine große Orgel stand. Der Organist kam zu spät, ließ also mich, die Tontechniker und den kompletten Chor warten.
Ich hatte den Musiker noch nie gesehen. Um 10.20 Uhr, als die Session schon im vollen Gang sein sollte, ging ich nach oben und wartete auf die Ankunft des unbekannten Musikers. Ein Mann mit einer Halbglatze, gekleidet in einen schwarzen Mantel und eine Nadelstreifenhose, der einen Instrumentenkoffer trug, betrat das Gebäude.
Wütend ging ich auf ihn zu und meinte: „Es wird auch verdammt noch mal Zeit. Ist Ihnen überhaupt klar, dass wir auf Sie warten mussten? Wir warten schon seit gestrichenen 20 Minuten.“
„Wovon reden Sie überhaupt?“, fragte er mich.
„Sie wissen wohl am besten, was ich meine. Die Aufnahme sollte um Punkt 10 Uhr beginnen, und Sie lassen uns hier hängen.“
„Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“, fragte er mit eiskalter Stimme.
Plötzlich tauchte ein schrecklicher Zweifel im hinteren Teil des Martin-Gehirns auf und zwickte mich. „Aber sicher – Sie sind der Organist … oder etwa nicht?“
„Nein, ich bin nicht der Organist. Ich heiße Fisk, und ich bin der Geschäftsführer dieser Firma.“
Gespenstische Stille. Hatte ich eine aussichtsreiche Zukunft verspielt? Ich entschuldigte mich unterwürfig und versuchte zwischen den Paneelen in den Boden zu versinken. Hoffentlich merkte er sich bloß nicht meinen Namen! Die nächsten Tage verbrachte ich in ständiger Furcht und Angst, da ich mich ihm gegenüber mehr als ungehörig verhalten hatte. Glücklicherweise gab es kein Nachspiel, wofür ich dem guten Mann wohl dankbar sein muss.
Der oberste Manager der Firmengruppe war ein vollkommen unterschiedlicher Charakter, den man den Spitznamen „der japanische General“ gegeben hatte. Gespräche mit ihm bestanden im Extremfall in wenigen Silben. Ich wechselte