George Martin

Es begann in der Abbey Road


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„Mitell hier“ meldete. Danach herrschte Stille, eine Stille, die eine dringliche Aufforderung zum Sprechen ausdrückt. Und so redete man wenige Worte. Es folgte wieder eine lange Pause. Der Mann sprach einfach kein Wort zu viel.

      Obwohl die Plattenlabels zu der Zeit einen großen Teil der Einnahmen für die EMI erwirtschafteten, wurde die Unterhaltungsindustrie meiner Meinung nach von der Geschäftsführung argwöhnisch beäugt. Vermutlich hätten sie lieber Fahrräder als Schallplatten produziert. Ich glaube auch, dass sie die hohen Kosten der Umstellung auf die Produktion von LPs fürchteten. Allerdings hatten sie keine Entschuldigung, nichts über den potentiellen Marktwert zu wissen, denn jeder wies sie darauf hin – Oscar, Leonard Smith und Norman Newell vom Pop-Segment der Columbia und Walter Legge, der für die Klassik Columbias verantwortlich zeichnete.

      Damals konnte Walter Legge als die Primadonna der Welt der Klassik bezeichnet werden. Er war mit Elisabeth Schwarzkopf verheiratet und engagierte sich für den Unterhalt des originalen Philharmonia Orchestra, was ihm ganz offensichtlich nicht schadete. Schwarzkopf und das Orchester waren nur zwei der vielen Künstler und Ensembles, die unter seiner Leitung produzierten. Er war ein typischer Einzelgänger. Ich verehrte Legge, da er einen Hauch frischen Windes in die damals knochentrockene und gruftähnliche Struktur der EMI brachte.

      Doch ein Oscar Preuss war nicht weniger außergewöhnlich. Als ich zu ihm stieß, muss er um die 60 gewesen sein. Er hatte die berufliche Laufbahn als Tontechniker-Lehrling im Alter von 14 oder 15 Jahren begonnen, also kurz nachdem Edison den Startschuss für eine technologische Revolution gab. Er fertigte sogar noch die Membran und die Nadeln für die ersten Grammophone an, darunter sogar noch die Zylinder-Maschinen. Damals musste sich der Tontechniker, der die Aufnahme leitete, noch sein Equipment selbst anfertigen. Über die Jahre hatte er die Karriereleier erklommen, bis er schließlich Parlophone vorsaß und auf einen riesigen Erfahrungsschatz zurückblicken konnte.

      Während des ersten Arbeitsmonats bestand meine Aufgabe darin, Oscar auf Schritt und Tritt zu folgen und so viel wie möglich von ihm zu lernen. Nach einer Weile übertrug er mir kleinere Aufgaben. Er fragte mich: „George, vielleicht bin ich morgen nicht pünktlich im Büro. Könntest du bitte mit den Aufnahmen beginnen?“ Und ich war pünktlich vor Ort und organisierte die Tontechniker und die Musiker, sodass wir die erste Aufnahme schon „im Kasten“ hatten, bevor Oscar herein gestürmt kam und kommentierte: „Das ist überhaupt noch nicht gut. Da müssen wir was anderes versuchen.“ Es kostete einiges an Überwindung, mich bei den Musikern vorzustellen und sie zu informieren, dass ich mehr oder weniger die Verantwortung trug. Ich hege keine Zweifel, dass sie mich anfänglich als einen Grünschnabel betrachteten, doch mir war die Autorität übertragen worden (wenn auch nicht das Gehalt), und somit mussten sie mich tolerieren.

      Die wohl beängstigendste Aufnahme-Session war meine erstmalige Arbeit mit Sidney Torch und dem Queen’s Hall Light Orchestra. Ich arbeitete im Studio 1 in der Abbey Road, im Grunde genommen fast schon eine Kathedrale mit den Ausmaßen von geschätzten 2.000 Quadratmetern. Sogar mit der guten, alten Compton-Kirchenorgel noch an ihrem Platz (auf der Fats Waller seine einzigen Orgel-Aufnahmen machte) war der Raum riesengroß. Oscar hatte mir gesagt, dass er erst ab 11 Uhr da sein werde, also eine Stunde nach Aufnahmebeginn. Ich glaube, dass es ein beabsichtigter Schachzug von ihm war, um zu prüfen, wie ich mich schlage. Hautsächlich erinnere ich mich an die lange Wegstrecke durch den scheinbar endlosen Raum und durch das versammelte 45-köpfige Orchester, bis ich endlich vor Sidney Torch stand, der auf seinem Dirigentenpodest thronte. Ein Schlagmann beim Kricket fühlt sich wahrscheinlich ähnlich, wenn er zur Spielfeldlinie auf dem Platz in Lords schreitet.

      „Guten Morgen, Mr. Torch“, quietschte ich mit einer piepsigen Stimme. „Mein Name ist George Martin. Ich bin Oscars Assistent und werde mit den Aufnahmen beginnen.“

      Ich machte mir vor Angst fast in die Hose, da ich wegen des Reflexes auf meine Unsicherheit offensichtlich ein wenig albern und unbedarft aufgetreten war, doch Sidney blieb nett und gelassen. Er lächelte wohlwollend, erklärte, das sei schon in Ordnung, und gab mir mehr oder weniger zu verstehen, dass er mich unbehelligt lassen würde, wenn ich ihm nicht in seine Arbeit pfuschte.

      Nach der ersten Begegnung kamen wir gut miteinander aus. Allerdings wurde er in kritischen Situationen äußerst jähzornig. Ich habe ihn dabei beobachtet – wenn das Orchester nicht seine Vorstellungen umsetzte – wie er den Taktstock durch den ganzen Raum schleuderte (und das ist ein sehr weiter Wurf). Dabei schrie er: „Herrgott noch mal, Gentlemen. Nun spielen Sie es doch endlich richtig!“

      Ich musste schnell lernen und lernte aus meinen Fehlern. Einen der ersten Schnitzer leistete ich mir 1950, also schon zu Anfang meiner Anstellung. Man schickte mich in ein Lichtspielhaus, um mir einen Film anzusehen, in dem Mario Lanza das Thema „Be My Love“ sang. Immer noch stark von der Klassik geprägt, empfand ich den Gesang des Mannes als Beleidigung durch und durch. Er behandelte die Melodie mit roher Gewalt und Ignoranz. Ich verabscheute jede Sekunde und verfasste daraufhin einen gehässigen Bericht, der aus der Feder eines Musikkritikers hätte stammen können, der alles von einer erhobenen, avantgardistischen Warte aus analysiert. Ich kritisierte das Stück als einen kitschigen und bis ins letzte kalkulierten Song, in dem jedes nur erdenkliche Klischee verwendet wird.

      Und so kümmerten wir uns nicht weiter um diese Nummer. Doch in meinem jugendlichen Leichtsinn hatte ich die auf der Hand liegende Möglichkeit übersehen, dass aus dem Stück ein Hit werden konnte. Und genau das geschah natürlich.

      Ich musste weiteres Lehrgeld bezahlen, als Oscar mich mit der Leitung von Jazz-Sessions beauftragte, zusätzlich zu den Klassik- und Easy-Listening-Aufnahmen. Ich begutachtete eine Plattenaufnahme von Humphrey Lytteltons Formation. Sie spielten einige Stücke, wobei ich speziell dem Bassisten kritisch zuhörte. Scheinbar erzeugte er mit seinem Instrument nur ein dumpfes Ploppen.

      Ich beobachtete den Musiker noch etwas länger und fragte ihn dann: „Könnten Sie die Noten nicht etwas deutlicher spielen?“

      Nach einer kurzen Pause reagierte der schockierte Mann und schleuderte mir eine nicht druckfähige Antwort ins Gesicht. Die Essenz seiner Meinung bestand jedenfalls im Vorwurf, dass ich keine Ahnung von den damals modernen Spieltechniken des Kontrabasses hätte – was sogar stimmte.

      Unbeeindruckt versuchte ich ihm meine Empfindung zu vermitteln: „Es klingt so, als würden Sie mit Boxhandschuhen spielen.“

      Ich lag nicht falsch, doch in dem Moment explodierte Humph. Er beschimpfte mich mit Ausdrücken, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört hatte, und rannte wutentbrannt aus dem Studio.

      Es war klar – jetzt brauchte ich Hilfe von höchster Stelle. Ich suchte Oscar in seinem Büro auf und erzählte ihm von dem Vorfall, was zu einer weiteren Explosion führte. Oscar schrie: „Du gehst jetzt sofort, holst Humph um alles in der Welt wieder ins Studio zurück und entschuldigst dich bei allen Anwesenden“, befahl er mir. Und dann drehte er sozusagen das Messer um, das in meiner Brust steckte: „Wenn du uns Humph vergrault hast, kannst du deinen Hut nehmen.“

      Außerhalb des Gebäudes fand ich den hochgradig verärgerten Künstler, der die Straße auf und ab stampfte. Ich biss in den sauren Apfel, entschuldigte mich bei ihm für mein dummes und ungebührliches Verhalten und überzeugte ihn letztendlich, die Session weiterzuführen. Damit – aber das verriet ich ihm damals nicht – war der Job wieder gesichert.

      Später entwickelte sich zwischen Humph und mir eine innige Freundschaft. Gemeinsam produzierten wir viele Platten, wie zum Beispiel „Bad Penny Blues“. Ich hatte die Lektion gelernt. Aus musikalischer Sicht hatte ich recht gehabt, doch nicht diplomatisch reagiert. Sine qua non – ein taktvolles Verhalten ist die unerlässliche Voraussetzung für die Arbeit eines Plattenproduzenten. Es ist eine schwierige Gratwanderung. Man darf sich nicht jeder kleinsten Laune eines Künstlers unterwerfen, aber auch selbst nicht zu unbedarft und massiv auftreten. Ich musste eine geeignete Umgangsform erlernen, um dem Musiker Fehler aufzuzeigen, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. Man sollte führen, aber durfte auf gar keinen Fall Druck ausüben. Damals, wie auch heute, war die psychologische Feinfühligkeit das bedeutendste Charakteristikum eines Plattenproduzenten.

      Eine weitere, wenn auch weniger bedeutende Eigenschaft ist die Trinkfestigkeit. Sie wurde