Jürgen Roth

Deep Purple


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nichts.“

      Der Plattenvertrag war über Iver Recordings zustande gekommen, einen Ableger des Großverlags Southern Music Publishing, in dessen Vier-Spur-Kellerstudio in der Denmark Street Jon Lord an auftrittsfreien Tagen als Studiomusiker ein paar Shilling nebenher verdiente – meistens für Reklamemusik und die damals sehr beliebten Billigalben mit Coverversionen aktueller Hits. Daß es ihm mittlerweile gelungen war, sich einen gewissen Namen zu machen, hatte sich gezeigt, als er im August 1964 in die Pye-Studios eingeladen worden war, um den Kinks, deren erster Hit „You Really Got Me“ am 4. August erschienen war, bei der Aufnahme von „Bald Headed Woman“ für ihr Debütalbum zu helfen – gemeinsam mit einem jungen Gitarristen namens Jimmy Page (dem wir noch öfter begegnen werden) – und, wie Kinks-Chef Ray Davies später meinte, „der Darbietung ein bißchen Professionalität zu geben“. Staunend sah Lord, wie Kinks-Gitarrist Dave Davies mittels eines kleinen grünen Kastens auf seinem Vox-Verstärker und eines mutwillig zerstörten Lautsprechers einen völlig neuen, unerhört verzerrten Klang erzeugte. Eine technische „Innovation“, die er vorläufig im Hinterkopf behielt.

      Mit der von Mike Vernon, dem Hausproduzenten von Decca, betreuten vierten Single „I Take What I Want“ schafften es The Artwoods dann tatsächlich in die britischen Charts – zum ersten und letzten Mal. Weder das Album Art Gallery (von Jon Lord ursprünglich als Fusionsexperiment mit dem New Jazz Orchestra geplant, was bei Decca jedoch auf Ablehnung stieß) noch die folgenden fünf Singles auf anderen Labels konnten den Erfolg wiederholen. Die EP Jazz In Jeans fand gar so wenige Abnehmer, daß mancher Deep-Purple-Sammler heute gern ein Monatsgehalt für ein Exemplar hinblättern würde, wenn denn eines aufzutreiben wäre. Die Mode hatte gewechselt, der Blues-Boom war verklungen, Jon Lords beabsichtigte Klassik-Rock-Fusion durften andere ausprobieren (The Nice und Moody Blues), und die Londoner Szene erwies sich als höchst vergeßlich. The Artwoods rangen sich auf ihrer letzten Single „What Shall I Do“ endlich zum Selberkomponieren durch und gaben sich alle Mühe, angemessen psychedelisch zu wirken, aber das kommerzielle Ergebnis entsprach dem Titel.

      Keef Hartley war inzwischen zu John Mayalls Bluesbreakers geflohen, und die letzten Rettungsversuche trugen alle Anzeichen von Verzweiflung: Mal wieder ohne Plattenvertrag, ließ sich die Band im Frühsommer 1967 auf ein Angebot von Philips Records ein, die durch den Kinofilm Bonnie & Clyde ausgelöste Dreißiger-Jahre-Gangster-Mode musikalisch umzusetzen, kleidete sich im Original-Chicago-Mafia-Chic samt Maschinenpistolen, benannte sich in St. Valen­tine’s Day Massacre um und nahm eine neue Version von „Brother Can You Spare A Dime?“ auf, einem dramatischen Bing-Crosby-Schlager aus der Feder von Yip Harburg und Jay Gorney, ursprünglich im Oktober 1932 erschienen und damals zu einer Art trotziger Kleine-Leute-Hymne der US-Depressionszeit geworden. In der britischen Heimat der Band erregte die wundersame Travestie nur müdes Gelächter, in Dänemark hingegen rumpelte die Single auf ­Nummer 1, und die Valentins-Combo machte die nicht weniger wundersame Erfahrung einer vierwöchigen Skandinavientournee als frischgebackene Superstars. Wieder zurück in England, wurde selbst dem pragmatischen Dulder Jon Lord der Schmarr’n zuviel. Die Anzüge wanderten in die Kleidersammlung, und The Artwoods waren endgültig Geschichte.

      Sein damaliger Mitbewohner John „Twink“ Alder, Schlagzeuger der Mod-Combo The In Crowd, schlug Lord eine neue Fusion vor. Aus den Resten der Artwoods sowie Arts Bruder Ronnie und Kim Gardner (beide bei The Birds) sollte eine psychedelische „Supergroup“ mit dem Mischnamen The Artbirds werden. Art und Ronnie, der statt dessen gemeinsam mit seinem neuen Kumpel Rod ­Stewart ein Angebot von Jeff Beck annahm, zogen sich gleich wieder zurück. Es blieben Twink, Gardner und Lord, die unter dem Namen Santa Barbara Machine Head und mit Gus Dudgeon als Produzent eines Sonntagnachmittags in den Decca-Studios drei Instrumentalstücke einspielten – „strukturierte Jam Sessions“, wie Twink meinte, der dann, als sich niemand fand, um das Projekt weiterzu­finanzieren, seine eigene Band in Tomorrow umbenannte und zum ungekrönten König der Londoner LSD-Psychedelic-Szene aufstieg (bis Gitarrist Steve Howe zu Yes abhaute). Die SBMH-Aufnahmen verramschte das Label Immediate schließlich auf einer obskuren Compilation mit dem Titel Blues Anytime.

      Jon Lord, der nun keine Band und auch keine Wohnung mehr hatte, kam für ein paar Wochen bei der Wood-Familie in West Drayton unter und beschloß, wieder Ordnung in sein Leben zu bekommen. Er fand eine Wohnung am Gunter Grove und im Spätsommer 1967 auch einen neuen Job. Das Studio-Vokalprojekt The Flowerpot Men, vormals Ivy League, für das er schon im Studio in die Tasten gegriffen hatte, landete mit „Let’s Go To San Francisco“ einen Überraschungs-hit und mußte daher auf Tour gehen, um die Kuh zu melken, solange sie flog. Die Sessionband, die die Projektleiter John Carter und Ken Lewis schließlich als The Garden um ihre vier Sänger herumgruppierten, bestand aus ehemaligen Begleitern der Sängerin Billie Davis: Gitarrist Ged Stone, Bassist Nick Simper, Drummer Carlo Little und Keyboarder Billy Davidson, der sich allerdings einer Mandel­operation unterziehen mußte, woraufhin Lord für ihn einsprang und auch gleich das Arrangieren der süßlichen Hippie-Songs für die Bühne übernahm.

      Die Blumentopf-Tournee – „Im Grunde war das eine Kabaretttruppe“ (Jon Lord) – führt durch Tanzhallen, Clubs und Dorftheater. Eine eher fade, aufreibende Sache, die ein sicheres, aufgrund der hohen Teilnehmerzahl aber nicht umwerfend hohes Einkommen abwirft, das Lord mit Sessionarbeit für das Album Sound & Movement einer obskuren Band namens The Leading Figures aufbessert. Und so hat er mehr als nur ein offenes Ohr für seinen neuen Mitbewohner Chris Curtis und dessen verstiegene Geschichten von der psychedelischen Konzeptgruppe. Zwar ist Curtis in praktisch jeder Hinsicht das exakte Gegenteil von Lord: Statt eines gelegentlichen Glases Bier pumpt er sich je nach Tageszeit mit Aufputsch- und Beruhigungsmitteln voll, taumelt von Party zu Party und schlägt sich die Nächte mit Zelebritäten von Dave Davies bis Dusty Springfield um die Ohren. Aber Jon Lords scharfer Blick erkennt hinter dem grellen Geflirre einen möglicherweise gangbaren Weg aus der Tretmühle des Session- und Studiogeschuftes (Curtis muß ihn ja auf lange Sicht nicht mitgehen). Zudem ist da noch Tony Edwards, in dem Lord einen Anker der Vernunft sieht – und umgekehrt: „Mit Curtis kam ich nicht wirklich zurecht“, sagt Edwards später, „aber mit Jon Lord verstand ich mich sofort. Er war sensibel, mit ihm konnte ich auf meiner Ebene kommunizieren, einer sehr bürgerlichen Ebene.“

      Aber Lord hat auch Geduld: „Eines Tages kam ich nach ein paar Tagen im Norden mit den Flowerpot Men nach Hause und fand die ganze Wohnung mit Silberpapier ausgekleidet. Tische, Stühle, Bad, Kloschüssel. Die Glühbirnen, die jedesmal durchbrannten, wenn man sie anschaltete. Chris kam aus dem Klo und sagte: ‚He, Mann, was meinst du dazu? Neues Konzept!‘ Ich wußte, daß er durchgedreht war. Ich war recht naiv, ich wußte, was Acid war, aber nicht, wie es wirkte.“ Oh ja – wir schreiben das Jahr 1967, und da gilt exzentrisches Verhalten in jeder Hinsicht als karrierefördernd.

      Womit wir wieder da wären, wo wir begonnen haben.

      „Gebt mir eine Gitarre, und ich beweise euch, wie gut ich bin!“

      Das zweite Kapitel, in dem immer noch nicht viel passiert, wir aber immerhin etwas über Ritchie Blackmore erfahren

      „Glaubt ihr, daß sich die Musikfreunde in zukünftigen Zeiten genauso an eure oder auch andere Poptitel erinnern werden, wie man es heute bei Beethoven, Bach, Mozart und anderen tut?“ – „Möglicherweise ja, denn in der heutigen Zeit kann man unserer Ansicht nach zum erstenmal davon sprechen, daß die Jugend ihre eigene Musik hat. In hundertfünfzig Jahren werden wir weitersehen.“

      Ritchie Blackmore, Interview mit Radio Luxemburg, 1971

      Bei der Musik – um Musik zu verstehen – kommt alles darauf an, daß man nicht tanze (kein tanzendes Verhalten irgendeiner Art annehme), sondern die Musik allein ihre Bewegungen ausführen lasse. Sonst kann man sie nicht sehen, nicht voll ermessen.

      Ludwig Hohl

      Eine seltsame Wirrnis hat die Londoner Jugend im Sommer des Jahres 1967, das nicht umsonst mit einem „Giant Freak-out“ begann, erfaßt. Biedere Beatbuben und schlaffe Blues-Tankwarte schnüren sich in Rüschenhemden, testikel­deformierende Samthosen und buntes Tuch aus Läden wie Granny Takes A Trip. Ihr Publikum tut es ihnen nach und betrachtet gestrige Hitlieferantenbuben in einer Mischung aus Fieber und Schwindel als (über)morgige „Visionäre“.