Jürgen Roth

Deep Purple


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„Rückkoppelungseffekt“ nennen – ist nun (um so mehr) bereit, (an) sich selbst zu glauben.

      Als er während der Australientournee der Searchers mit den Rolling Stones Ende 1966 von der Bühne fällt, sich böse Schnittwunden am Bein zuzieht, sich dann auch noch im Apartment einer australischen Hübschheit an einer Tür den Finger bricht und seine Mitmusiker derweil sein Säckchen voller lebensweise­rettender Tranquilizer ins Klo spülen, schreibt Curtis auf dem Heimflug auf einer Kotztüte einen letzten Song und schmeißt sofort danach seiner Band die Trommelstöcke hin (John Blunt übernimmt seinen Platz im stetig sinkenden Schiff; Chris wird über ihn sagen, er klinge, „als krabbelte eine Ratte über die Snare Drum“). Danach versucht er sich mit der trefflich betitelten Single „Aggravation“ (= „Verschlimmerung“, ein Song von Joe South übrigens) erst mal vergeb­lich als Solist, in Begleitung der Studiomusiker Jimmy Page, John Paul Jones, Joe Moretti und Vic Flick. Er schreibt Songs für Alma Cogan und andere und produziert für Paul & Barry Ryan den Hit „Have You Ever Loved Somebody“, womit er weiter am Grab der Searchers schaufelt, die gleichzeitig denselben Song als Single veröffentlichen: „Tito Burns, der sich um die Searchers kümmerte, sagte zu mir: ‚Du Bastard! Du hast die Searchers ruiniert!‘ Ich sagte: ‚Ich hatte nichts mit ihnen zu tun, sondern sie mit mir. Sie wollten superschlau sein, und das ist schiefgegangen.‘“ Und in zugedröhnten Mußestunden bastelt er an seinem Karussell, das er nun auch auf den Namen Roundabout tauft.

      Die ersten paar richtigen Musiker, die er zum Mitmachen überreden kann, gehören der Kapelle The Shakedown Sound aus Herefordshire an, sind aber sehr schnell wieder weg und gründen lieber Mott The Hoople. „Er war ein witziger Kerl“, meint Dale Griffin, „und wollte, daß wir seine neue Band Roundabout bilden. Dann marschierten wir gemeinsam in die Büros von Polydor, Chris rannte die Korridore rauf und runter und klopfte an Türen, aber keiner wollte was von ihm hören, also sagte er, wir sollten uns am nächsten Tag wieder treffen. Dann tauchte er jedoch nicht auf, und wir waren, ehrlich gesagt, ganz froh.“

      Glücklicherweise ist da aber noch der Zettel mit Tony Edwards’ Telephonnummer. Der Möchtegernmanager hat inzwischen an seiner Ayshea wenig Freude gehabt und hört mit um so aufnahmebereiteren Ohren zu, was ihm Curtis mitteilt: Das Bandprojekt Roundabout sei startbereit, es fehle nur noch jemand, der die entscheidenden Türen öffnet, und – langer Rede kurzer Sinn – nachdem Beatles-Manager Brian Epstein nun (seit dem 27. August) ja tot sei, solle sich Tony einen Ruck geben und der neue Großmogul der britischen Popszene werden. Edwards schmilzt dahin, bringt es aber irgendwie noch fertig, zu fragen, wann er sich die phantastische Wunderband denn mal ansehen könne. Das, muß Curtis gestehen, gehe denn doch noch nicht ganz; er habe die Band zwar gegründet, aber nur im Geiste: „Da“, sagt er und tippt sich hörbar an die Schläfe, „da ist sie drin! Es gibt sie nur in meinem Kopf, bis jetzt.“ Ein kleiner Fehler, der Herrn Edwards nicht weiter stört: „Angebissen habe ich trotzdem.“

      Und nicht nur er. Wenn die Sache so groß wird, wie Curtis meint, wird sie für Edwards allein vielleicht ein bißchen zu groß, fürchtet er, und da fällt ihm John Coletta ein. Der Fünfunddreißigjährige ist „Marketing Consultant“ bei der Reklamefirma Castle, Chappel & Partners, die zufällig im Dachgeschoß des­selben Hauses wie Edwards’ Modefirma residiert. Mit Popmusik hat er zwar bislang nicht das geringste am Hut gehabt; Edwards indes erklärt ihm, es gehe dabei ja auch nicht bloß um lärmende Burschen in bunten Klamotten, die sich mit Drogen vollpumpen: Da steckt auch Geld drin! „Mich interessierte der Marketingaspekt des Projekts“, wird Coletta viele Jahre später formulieren, als ihn der Marketingaspekt des Projekts noch immer sehr beschäftigt. Als dritten, finanzkräftigen und aber auch wirklich nur an Finanzen interessierten Mann holt Coletta einen Ronald Hire mit ins Boot, das nun HEC Enterprises heißt (und am 14. August 1968 offiziell als Firma eingetragen wird).

      Chris Curtis hat inzwischen beschlossen, sich in London niederzulassen, um mit seinem neuen Projekt nicht wieder von irgend jemandem rechts überholt zu werden und zugleich sicherzustellen, daß kein neuer Wahn, kein Trend, keine Mode passiert, ohne daß er in nächster Nähe ist. Unterschlupf findet er im September 1967 in einer Musikerwohngemeinschaft (einem „Schuttabladeplatz“, wie er später meint) am Gunter Grove in Chelsea – in derselben Straße, in der fünf Jahre zuvor die Rolling Stones entstanden sind und wo viele Jahre später ein gewisser Johnny Rotten und noch mehr Jahre später ein gewisser Pete Doherty hausen werden. Da haben sich zufällig diverse Protagonisten der seinerzeit monstermäßig angesagten „Verschmelzung“ von Rock und Klassik einquartiert: Denny Laine von The Moody Blues zum Beispiel, David Knights von Procol Harum und ein etwas älterer, schnauzbärtiger Orgler namens Jon Lord, der mit Art Wood – dessen kleiner Bruder später bei The Creation, den Faces und noch viel später bei den Rolling Stones Gitarre spielen wird – und The Artwoods bis vor kurzem versucht hat, The Move Konkurrenz zu machen, und jetzt nicht recht weiß, wie es weitergehen soll. Er hat Curtis auf einer Party bei Vicki Wickham kennengelernt: „Chris sagte: ‚Ich habe ein Konzept!‘ Es war Sommer 1967, da waren Konzepte immer wunderbar. Drei Leute sollten den Kern bilden. Der dritte war ein Bassist, den ich nie gesehen habe; keine Ahnung, ob es ihn überhaupt gab. Wir würden dann je nach Lust und Laune andere Leute dazuholen, die auf das Karussell aufsteigen und wieder abspringen sollten.“ – „Ich denke sehr schnell, auch heute noch“, beschrieb sich Curtis 1998 in einem Interview mit Spencer Leigh selbst, „und Leute, die mich kennen, sagen: ‚Oh, er wieder!‘ Leute, die mich nicht kennen, könnten durchaus glauben, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank.“

      Zumindest hat Curtis nun eine Bleibe. „Er kam eines Tages mit vier Koffern an und fragte, ob er über Nacht hierbleiben kann“, erzählt Jon Lord später. „Aus der Nacht wurde dann eine Woche und aus der Woche ein Monat und so weiter.“ Rauswerfen mag den kuriosen, quirligen Neuankömmling niemand, denn er redet zwar nächtelang Blech über sein verstiegenes Projekt, hat aber andererseits, wie er sagt, ein finanzkräftiges Management im Rücken – und er verblüfft seinen Mitbewohner Lord mit einem inzwischen noch weiter gewachsenen Bekanntenkreis und Daimler-Limousinen, die ihn abholen und durch die Stadt zu „Terminen“ gondeln. Die Rechnung für den Fahrservice landet später auf Tony Edwards’ Schreibtisch.

      Am 7. Dezember 1967 folgt ein skeptischer Jon Lord der Einladung von Chris Curtis zu einer Ladeneröffnung in der Baker Street 94: Es ist die Apple-Boutique der Beatles, die da eingeweiht wird, und nachdem Chris – den, sagen wir mal: etwas zurückhaltenden – Jon seinen „alten Freunden“ George Harrison und John Lennon vorgestellt und ihn in einer gemieteten Luxuskarosse durch London kutschieren hat lassen, überwindet Lord seine Skepsis und erklärt sich bereit, bei Roundabout mitzutun. Da endlich hat Chris Curtis zum erstenmal das Gefühl, nicht mehr hinterherzulaufen und nicht bloß zu träumen: Die Band, die er ein Jahr zuvor im Kopf gegründet hat, nimmt Gestalt an. Und Jon Lord, das ist dem ehemaligen Beat-Schießbuden-Klopfer sofort klar, ist musikalisch ein anderes Kaliber als die Leute, mit denen er bis dahin zu tun gehabt hat. Der Mann heißt nicht ganz umsonst mit Nachnamen „Gott“.

      John Douglas Lord, am 9. Juni 1941 in Leicester (auf halber Strecke zwischen London und Liverpool) geboren, bekam als Kind vom Zweiten Weltkrieg immerhin noch mit, daß der grollende Weltenbrand auch eine musikalische Seite hatte: Als sein Vater Reginald zur örtlichen Feuerwehr einberufen wurde, gründete er dort umgehend die Fire Service Band – Leicester gehörte seit dem verheerenden „Blitz“-Angriff am 19. und 20. November 1940 nicht mehr zu den bevorzugten Zielen deutscher Bomber, daher wurde mehr musiziert als gelöscht. Vor dem Krieg hatte Reginald Lord bei wochenendlichen Tanzveranstaltungen ins Saxophon geblasen und war mit seiner Schwester als Duo aufgetreten; die Show hieß „Reg & Molly – Ein Lächeln und ein Lied“. Damit aus dem kleinen John kein Muttersöhnchen werde, schleppte er ihn schon als Knirps zum Nachmittagstanztee. Bald entdeckte der Bub auch zu Hause ein tönendes Möbel: das alte Klavier, das ihn derart faszinierte, daß er, kaum daß die Schultüte leer­gegessen war, auch schon Klavierstunden nehmen durfte. Sein zweiter Lehrer, der BBC-Radiopianist und Kirchenorgler Frederick All, brachte dem Neunjährigen das Spielen nicht nur einfach so bei, sondern infizierte ihn auch mit einer Leidenschaft: „Er lehrte mich, Musik zu genießen und sie so gut wie möglich spielen zu wollen.“

      Seinen Unterricht setzte John fort, während er auf die Wyggeston Grammar School ging, wo er zusätzlich noch Stunden in Musiktheorie