Jürgen Roth

Deep Purple


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Floskel aus dem Fundus der Popskribenten), als neu, als neuer Rock ’n’ Roll ohne Anspruch auf Veränderung der gesellschaftlichen Realität. Denn die Gesellschaft verändern zu wollen, das war wohl unter Musikern zumeist wenn nicht Illusion, so doch bei manchem bloß bare Lüge; weshalb, im Umkehrschluß, im Lager der Fortschrittlichen Deep Purple nie auf Wohlwollen hoffen durften. Denn diese fünf (und mehr) Musiker machten Musik, unter ziemlich unterschiedlichen persönlichen Voraussetzungen und mit ziemlich divergenten Vorstellungen und Zielen, mehr nicht. Und das ist viel, und es ist (oder war) der Skandal an Deep Purple. „Wir wollten niemandem irgend etwas predigen, weder Drogen noch Politik, noch Lifestyle“ – so hat es Roger Glover ausgedrückt.

      Oder erzählen wir statt dessen und jenseits der Deutungsmuster und -zwänge des elaborierten Popdiskurses zum Beispiel davon, was passiert, wenn einen im September 2002 zum erstenmal seit vier oder sechs Jahren der ­Rappel des Spießers packt und man seinen alten Wagen zur Waschanlage fährt.

      Man rumpelt in die Einfahrt, tuckert durch die Vorwäsche und hält vor der Waschstraße. Vor dem Wagen lungern zwei blaugewandete Hilfskräfte mit Wasserstrahlern und Bürsten herum. Man dreht die milchige Scheibe runter, der Chef schlurft heran, man reicht ihm das Entgelt.

      Auf dem Beifahrersitz liegt zufällig eine CD. Seit Tagen. Seit Wochen vermutlich. Der Wagen hat nicht mal einen CD-Player. Keine Ahnung, was Come Hell Or High Water da verloren hat. Cheffe nimmt siebeneinhalb Euro entgegen, und sein angesichts des vorgerollten ollen Blechs mitleidig-mißmutiger Blick fällt ins Wageninnere. Cheffes Mundwinkel verziehen sich – nach oben.

      „Ist das Jan Gillaaan?“ Auf der Rückseite von Come Hell Or High Water, einem Live-Mitschnitt von der letzten Tournee, die Deep Purple im Herbst 1993 mit Ritchie Blackmore hinter sich gebracht hatten, ist Ian Gillan zu sehen, wie er ausgesprochen vergnügt und kraftfroh das Mikrophon in die Luft stemmt. Das Photo konnte schon immer gefallen. Es drückt die seltsam angestrengte, aber auch entspannte Stimmung aus, die Deep Purple auf ihren wahrscheinlich besten, verspieltesten und zugleich aggressivsten Konzerten seit der Reunion 1984 zu jenen Improvisationsaus- und -höhenflügen begleitet und geführt hatte, die eine der besten, verspieltesten und aggressivsten Bands der Rockgeschichte in ihren besten, verspieltesten und aggressivsten Momenten in den siebziger Jahren ausgezeichnet hatten.

      „Ist das Jan Gillaaan?“ Cheffe war hin und wie weg vom Fenster. „Ja“, antwortete man, und man war überwältigt. Man hätte weinen können. Jauchzen können. Vor Verwunderung. Vor Glück. Vor sonstwas. Denn wer kannte und erkannte denn heute, außerhalb der Musikbranche und außerhalb expertokratischer Zirkel, noch Ian Gillan? Und meckerte dann nicht herum, er und die anderen ollen Krawallmacher und Schweinepriester sollten doch bitte in den berühmten, in den überfälligen Rockerruhestand wechseln?

      „Ja, Ian Gillan.“ – „Der Beste!“ rief Cheffe entzückt und entrückt, und er wiederholte: „Das ist Jan Gillaaan!“

      Man reichte ihm die zerkratzte CD-Box. Er nahm sie vorsichtig in die Hand. Ein öliger Finger wanderte über die Setlist. „Supersongs. Die besten“, sprach er nun mehr zu sich, und sein breites Grinsen verwandelte sich in ein gütiges Lächeln. Recht besehen, überzog Cheffes Overall in der Vorabendsonne jetzt ein Purpurschimmer.

      „Ja, Supersongs, die besten“, sagte Cheffe, schaute den verdutzten Insassen eines verdotzten Golf an, reichte die CD zurück und gab seinen Untergebenen mit der linken Hand ein Zeichen.

      Man kurbelte die Scheibe langsam, fast in Trance wieder hinauf. Cheffe trat ein paar Schritte nach hinten und stand vor dem Wagen. Er riß die Beckerfaust in die Höhe und wies die Knechte laut und stolz an: „Volles Programm! Das Beste für diesen Mann!“

      Die beiden schrubbten wie Berserker Blackmore in seinen besten Zeiten.

      Ein Jahr danach, zehn Jahre nach Blackmores endgültigem Abschied, war die Stadt plötzlich plakatiert wie nicht gescheit. Deep Purple hier, Deep Purple da, ein neues Album und eine Deutschlandtour durch die großen Hallen wurden annonciert. Es war, als hätte nie etwas anderes Bestand gehabt als die allgemeine Ansicht, daß es nichts anderes zu begehren gebe als Deep Purple, zumindest, was die Musik betrifft. Der öffentliche Raum, in dem Rock und Pop im Grunde nur mehr stattfinden dürfen und statthaben als Werbeinszenierungen und Konsumbeschleuniger, seit die Stones und vor allem Genesis, die Bösen der Dösigen, Jahre zuvor durch unselige Koalitionen mit einem Wolfsburger Unternehmen und der Gigantomanie des Kapitals die Maßstäbe gesetzt hatten, dieser Raum des Teilbaren und – idealiter – ohne Zwang Geteilten war nun und jetzt und für einige Wochen besetzt von: Deep Purple.

      „Bananas“ stand da, schlicht, in der Würde der freigestellten Lettern, ohne graphischen Hokuspokus. Bananas. Spinnen die jetzt? Nein, sie sponnen und spunnten nicht, obschon sich der Titelsong der neuen Platte genau darum dreht: um den Wahnsinn. „I go bananas“, heißt es im Refrain eines beseligend vorwärtstreibenden Rock-’n’-Roll-Knallers, in dem die Virtuosität der solistischen Einlagen einen Platz so findet, wie sie ihn finden sollte: als Spiel, als übermütiges, kindliches Herumtollen mit Noten und Harmonien.

      Das Album Bananas ist eine der besten Platten des Genres und eine der erfreulichsten der Bandgeschichte. Und wer Deep Purple zum Beispiel am 5. November des Jahres 2003 in der Frankfurter Festhalle sah, durfte hernach ruhigen kritischen Gewissens bekräftigen, daß die Fans, die mittlerweile jedes, aber auch jedes Konzert im Internet ausführlich und vielfach ausnehmend sachverständig besprechen und daher mit Sicherheit mehr wissen und in Erfahrung gebracht haben, als es die Autoren dieses Buchs vermochten und je vermögen – daß diese Fans recht haben, in ihrem Enthusiasmus, in ihrer Freude über eine Spielfreude und eine ernsthafte Entspanntheit, die der Band im „life after Blackmore“ (wie es Jon Lord formulierte, der zu dieser Zeit gleichfalls ausgestiegen und durch Don Airey ersetzt worden war) gut zu Gesicht steht. Wenn Ian Gillan Steve Morse in den Arm nimmt, ins Publikum zeigt und lacht, ist das wahr, unverbraucht, ja, wer weiß, „authentisch“ – und, abermals, mehr nicht. Das vermag Musik. Muß man sich deshalb schämen? Weil man das mag? Weil hier jede „Botschaft“ fehlt? Weil hier, an einem solchen Abend, getragen von der Laune der Selbstvergessenheit, die Gesellschaft nicht zur Debatte steht? Und weil Deep Purple inmitten der Kulturindustrie, die Greil Marcus’ Phantasie, der Rock könne ein universales, andersartiges Kommunikationssystem herstellen, längst durch gnadenlose Ausbeutung und Segmentierung konterkariert hat, weil Deep Purple inmitten dieses so entbehrlichen wie oft degoutanten Schlamassels ihre Würde bewahren, Erfolg haben und neue, junge Fans gewinnen? Ist das eine Schande (für die Welt)? Ein Skandal? Oder egal?

      Muß man sich, wie es Christian Gasser, Jahrgang 1963, tut, schämen, daß einst, als die Sex Pistols explodierten und die (musikalische) Revolution auf einen Schlag beendet war, auf der obligaten Liste der eigenen Lieblingssongs Deep Purple gleich zweimal auftauchten, mit „Child In Time“ und „Smoke On The Water“ (mit „Smoke On The Water“ durfte man schon frühzeitig seine Probleme haben, das Stück ist nicht nur ein Objekt der Haßliebe von Herrn Black­more, sondern von vielen Purple-Anhängern)? Daß unter Gassers fünf „liebsten Sängern“ Ian Gillan auf Position eins zwangsläufig vor dem zweitplazierten Johnny Rotten rangierte? Und Deep Purple den Poll der „Lieblingsgruppen und -musiker“ so unstreitig wie unangefochten halt – anführten? (Zum Beispiel vor den Stranglers, Startnummer fünf.) Ist das alles – jünglinghafte Verirrung? Und heute und hier von Belang?

      Für Gasser und dessen schönes Buch (der kennt sogar die wahnsinnigen Genialfinnen Aavikko!) schämen muß man sich ja nicht. Aber hat der Bruder von einem der Autoren, Thomas Roth, nicht recht, wenn er beim luftgitarrenbegleiteten Wiederhören des Siebziger-Jahre-und-Folge-Rock, der Deep ­Purple essentiell einschließt, brieflich ziemlich prinzipiell niederlegt: „Schlimm genug, den anspruchsvollen Rockisten in mir wiederentdeckt zu haben. Es droht ja noch die Regression auf die Stufe davor, die des unreflektierten Rockisten, des Schlagerhörers unter den Rockern, des durch das Klischee gezähmten Wilden, des Dämlacks und Simpels“?

      Ist es eine Not um und mit Deep Purple, eine elende Rechtfertigungsnot? Und müssen denn all diese Fragen wirklich sein? Wenn man nur die Geschichte einer Band aufschreiben und erzählen möchte, so gut es halt geht? Und sich in bestimmten Fragen der Bewertung angenehm bestätigt fühlt, da Ian Gillan in einem