statistisch-kritischer Einschub: PURPENDICULAR
Zweiundzwanzigster statistisch-kritischer Einschub: ABANDON
Dreiundzwanzigster statistisch-kritischer Einschub: BANANAS
Intermezzo: Fragen eines musikhörenden Arbeiters der Stirn
Zum Ausklang
Vom 14. Januar 2005
Was im Jahr 2005 so geschah und wie es weiterging
Vierundzwanzigster statistisch-kritischer Einschub: RAPTURE OF THE DEEP
Vom 27. Februar 2007
Der Hund von Deep Purple
Das Vorwort, in dem wir erfahren, worum es geht, und mit einem Abstecher ins sehr späte Mittelalter eine gewisse Sache von vornherein erledigen
„Wenn ich mir die Platte heute anhöre“, bekannte Greil Marcus 1989, als er wieder mal Anarchy In The U. K. von den Sex Pistols hörte, „wenn ich höre, wie Johnny Rotten an seinem Text zerrt und dann die Teile der Welt ins Gesicht schleudert, wenn mir das alles verzehrende Lächeln einfällt, das er beim Singen aufsetzte, kriege ich eine Gänsehaut.“ (Lipstick Traces, Hamburg 1992)
Merkwürdig, diese Konfession. Sie leistet den hohen Ansprüchen, die man an Dokumente der Obsession stellt, Genüge und „klingt“ streng subjektiv, was das Schlechteste nicht ist, schreibt man über (Rock-)Musik. Zugleich aber bedient Marcus das Konfektionspathos der Subversion, bemüht er jenen Ausdruck, der für „authentisch“ gilt, und schiebt eine Gänsehaut aus dem Phrasenofen hinterher.
Die Erzählungen über die rebellische Kraft der Rockmusik sind selbst müde, ja alt geworden (wobei das Altwerden keine Schande ist, auch wenn der Usus des Popjournalismus eine andere Auffassung erzwingt). Sogar einem Pete Townshend, der Woodstock bereits vorbildlich heruntermachte, als das Festival gerade die Pop-Community zu erschüttern schien, möchte man heute kaum trauen, da er Rotten und Co. besang, weil sie den Traum, Kunst könne das Bestehende attackieren, ja verändern, endlich irgendwie wahr werden ließen. „Wenn du dir die Sex Pistols anhörst“, gestand er, „merkst du sofort, daß das wirklich passiert. Da steht einer, einer mit ’nem Hirn zwischen den Ohren, und erzählt etwas, von dem er ehrlich glaubt, daß es in der Welt passiert, und das sagt er richtig giftig, richtig leidenschaftlich.“
Mal abgesehen davon, wie ungebrochen hier der Katechismus der Avantgarde und ihres idealisierten Produzenten – des leidenschaftlichen Subjekts, das etwas bewirkt – zum Einsatz gelangt, „die Stimme“, das Subjekt, das Marcus panegyrisch umgarnt, stellt, seit die Kulturindustrie Opposition als Style, Habitus, Gebaren integriert hat, nicht mehr „etwas Neues im Rock ’n’ Roll dar und damit in der populären Nachkriegskultur: eine Stimme, die sämtliche gesellschaftlichen Fakten leugnete und dadurch beteuerte, daß alles möglich war“; sondern nur mehr, daß alles möglich ist, was neu und damit schon gewesen ist.
Marcus, fast zwanzig Jahre später, bleibt dabei. Jener Käfig existiere – partiell – nicht, jene Bühne, auf der symbolische und reale Mehrwerte realisiert werden. Das Realitätsprinzip des Rock hingegen lautet schlicht: Erfolg oder Abmarsch durch den Lieferanteneingang, Anpassung oder Nische. Rottens Stimme indes, beteuert Marcus, bleibe „neu, weil der Rock ’n’ Roll sie immer noch nicht eingeholt hat. Eine Zeitlang und wie durch Zauberkraft – die Popzauberkraft, bei der die Koppelung bestimmter gesellschaftlicher Fakten an bestimmte Sounds unwiderstehliche Symbole der Veränderung gesellschaftlicher Realität schafft – funktioniert diese Stimme wie eine neue Redefreiheit. Man konnte kaum das Radio einschalten, ohne überrascht zu werden; man konnte ihr kaum entkommen.“
Es konnte einem auch anders ergehen, das Schockerlebnis gänzlich privater Art sein, und sei’s, weil man damit geschlagen war, in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufzuwachsen. So konnte einen der ältere Bruder, der Musikgeschmacksbildner par excellence, wie Christian Gasser zu Recht in seinem Buch Mein erster Sanyo – Bekenntnisse eines Pop-Besessenen (Berlin 2000) bemerkt hat, vor bald fünfundzwanzig Jahren zu seiner Stereoanlage beordern, einem den Kopfhörer überstülpen und die Starttaste drücken. Unbeschreiblicher Krawall, ein gewaltiges, befreiendes Dröhnen, Quietschen und Heulen, brach los, und man war verloren für die E-Gitarre und Speed King Ritchie Blackmore. „Blackmore zersplitterte in nur fünfzig Sekunden die gängigen Konventionen der Beat-Ära und machte die sechziger Jahre der Popmusik zur Historie“, schrieb später Eclipsed. So war es, und es war so, wie es 1980 in konkret zu lesen war: „Die Beatles, Stones, Cream, Deep Purple, Roxy Music haben ganz selbstverständlich die deutschen Wohnzimmer infiltriert“ – auch wenn es nicht zwingend das elterliche Wohnzimmer sein mußte, in dem man heimlich das 1980 erschienene Doppel-Live-Album Deep Purple In Concert mit zwei BBC-Mitschnitten aus den Jahren 1970 und 1972 und einer ausnehmend schön scheppernden „Lucille“-Version hörte, wenn der familiäre Vorstand mal außer Haus war.
Unterstützung in seiner Begeisterung fand man durch Airplay, sofern die Erinnerung nicht trügt, dazumal kaum, und Deep Purple waren gewiß auch keine, gleich den Sex Pistols, „kulturelle Verschwörung“ (Marcus), eher ein Haufen von britischen Musikern, die nicht selten den lichten, verspielten Klängen frönten, gewollt einfache Riffs in die Welt warfen und dabei einen zuweilen inkalkulablen „Schönlärm“ (Eugen Egner) veranstalteten. Zumal die Mark-II-Besetzung – zumindest im einst gängigen, ja zwingenden Lagerdenken, das noch heute gewisse „Rockismus“-Experten in der ihnen eigenen Manier wiederaufleben lassen – ein Widerpart zum Doom-Gebaren von Black Sabbath und zur bisweilen ein wenig dick aufgetragenen Ernsthaftigkeit von Led Zeppelin war. Und sie war schon damals alles andere als ein Pionierensemble des Heavy Metal, sondern eine ziemlich einzigartige, mitunter aufgekratzt vergnügte, mitunter überwältigende Band, deren Geschichte bedeutend genug sein dürfte, um sie zu skizzieren, subjektiv, abschweifend, aber auch griffbretthart „faktenorientiert“ (Helmut Markwort). „Die Sex Pistols schlugen eine Bresche ins Popmilieu“ (Marcus), Deep Purple hatten das Jahre vorher nicht nötig gehabt und ebensowenig ein Programm, das womöglich das Programm der minervaschlau hinterherdackelnden Interpreten ist. Dessenungeachtet scheint auch Greil Marcus an einem bestimmten Punkt vor der Entwicklung der jüngeren Popmusikgeschichte zu kapitulieren: „Der von den Ansprüchen der Musik ausgehende Schock wird zu dem Schock, daß etwas scheinbar so Absolutes im Lauf der Ereignisse letztlich fast unbemerkt vergehen konnte. Die Musik strebt danach, das Leben zu verändern; das Leben geht weiter, die Musik bleibt zurück; nur darüber läßt sich noch reden.“
Reden wir darüber. Plaudern wir hier zum Beispiel darüber, wie es ist, wenn wir eine Musik, die unsere Jugend – teilweise und zuweilen obsessionsverdächtig – begleitet oder geprägt hat, wiederhören, weil wir sie wieder und wieder hören können, ohne einer ungebrochenen Obsession zu frönen oder irgend etwas zu beschwören – was womöglich dienlich wäre, wollte man Erinnerungen, wenn auch sachte, mystifizieren oder an biographischen