überfordert ist. Lord vergleicht die ersten vierzehn Monate der Bandgeschichte später mit Luigi Pirandellos absurd-pessimistischem Drama Sechs Personen suchen einen Autor – „fünf Musiker auf der Suche nach ihrem Stil“ – und sagt: „Die Sache mit Rod war die, daß er zwar ein außergewöhnlich guter Sänger war, aber in lauteren Passagen den Ton nicht richtig halten konnte. Die Band wurde härter, und das paßte einfach nicht zu seinem Gesangsstil. Rod hatte was von einem Cabaret-Sänger.“ Dieser Meinung schließt sich – im nachhinein – auch Nick Simper an: „Rod verlor zusehends das Interesse. Er plante eine Frau zu heiraten, deren Eltern superreich waren. Der Hollywood-Virus hatte ihn infiziert, er wollte Schauspieler werden, und Rock ’n’ Roll war für ihn nur noch Kindergeplänkel.“ – „Es war eine sehr kalte Entscheidung“, meint Lord. „Rod war ein wirklich netter Kerl und hatte es nicht verdient, so behandelt zu werden.“ Weil man schon mal dabei ist, stellt Blackmore auch gleich fest, Nick Simpers Baßfiguren seien ihm zu altmodisch. Da an der Abstimmung nur Blackmore und Lord beteiligt sind, fällt die Entscheidung ohne Gegenstimmen – allerdings erst nach einer vorsichtigen Rückfrage bei Ian Paice, ob er denn im Fall einer Doppelentlassung trotzdem weiter dabei wäre. Zum Glück ist Paice zwar mit Evans nach wie vor eng befreundet, aber auch bereit, berufliche Dinge pragmatisch anzugehen, und hat zudem vage Einwände gegen Nick Simpers „Lebensweise“: „Er hatte insgesamt eine sehr negative Einstellung, was den Umgang mit ihm schwierig machte.“
Wie schon im Fall von Bobby Woodman wird das Problem auf Deep-Purple-Weise abgewickelt. John Coletta erhält nach der geheimen Diskussion Ende Mai den Auftrag, sich darum zu kümmern; mit Evans und Simper spricht einstweilen niemand. „Man stelle sich diesen unerfahrenen Manager vor“, erzählt Coletta später, „der versucht, seinen Job zu lernen, während er ihn ausübt, und plötzlich passiert so was. Irgendwo im Mittleren Westen kommt ein Anruf von Jon und Ian, die mich dringend sprechen wollen. Im Hotelzimmer sitzen Ritchie, Jon und Ian mit langen Gesichtern und sagen, daß sie die Nase voll haben. Rod sei nicht gut genug, und Nicky wollten sie auch gleich loswerden. Ich sagte: ‚Jungs, das geht jetzt nicht, wir stecken mitten in einer Tour und müssen abwarten, bis sie zu Ende ist.‘ Der Rest der Tournee, ungefähr fünfzehn Gigs, war die Hölle. Jon, Ritchie und Ian hatten nicht mit den anderen beiden geredet, aber der Bruch zwischen den zwei Lagern war unverkennbar. Ich schärfte ihnen ein, den zweien nichts von der Entscheidung zu sagen, weil sie sonst vielleicht abhauen und uns in der Scheiße sitzenlassen. Die Stimmung war fürchterlich.“
Am 29. Mai 1969 ist die Tournee endlich beendet, und die fünf Mitarbeiter der Projektgruppe Heavy Rock fliegen nach Hause. Als das Flugzeug den amerikanischen Luftraum verlassen hat, steht das dritte Deep-Purple-Album immer noch nicht in den US-Läden. Es kommt Mitte Juni – zu spät, um mehr als ein paar Eingeweihte zu interessieren. Da Tetragrammaton inzwischen aufgrund allzu optimistischer Investitionen in hoffnungslose Projekte selbst für mindeste Werbungs- und Vermarktungsmaßnahmen kein Geld mehr hat, geht die Platte unter wie ein Stein im Ozean (Platz 162 der US-Charts), und Deep Purple sind endlich dort, wo sie so wahrscheinlich doch nicht hingewollt hatten: im Underground. „Dies war ursprünglich der Sammelbegriff für das Geschehen auf kulturellem und politischem Gebiet, welches sich nicht unter den Augen der Öffentlichkeit abspielte.“ (pop)
Dritter statistisch-kritischer Einschub: DEEP PURPLE
1. Chasing Shadows
2. Blind
3. Lalena
4. Fault Line
5. The Painter
6. Why Didn’t Rosemary
7. Bird Has Flown
8. April
erschienen im Juni 1969 (Tetragrammaton, USA) beziehungsweise November 1969 (Harvest/EMI)
Es ist seltsam mit dieser Platte, der man sich schon aufgrund ihrer Veröffentlichungsgeschichte – von zwei komplett unfähigen Plattenfirmen gar nicht respektive viel zu spät herausgebracht – mit immenser Gutwilligkeit und Neugier nähert, geweckt von den „Aber!“s, die in solchen Fällen zum Zug kommen: „Die Platte kennt niemand, aber sie ist gut“ zum Beispiel. Und dann ist man aber doch ein bißchen enttäuscht, wenn sie läuft, und zwar gleich zu Beginn: Der rhythmische Teppich von „Chasing Shadows“ ist ohne Zweifel kompetent bis großartig geknüpft, erinnert aber heftig an den Mittelteil von „Shield“ – na gut, das darf er. Aber die draufgeklatschte Harmoniefolge gibt halt einfach nicht viel her; man hört sie und Rod Evans’ dazwischengebogene „Ich bin doch ein echter Rocker!“-Leitmelodie, die vergeblich versucht, die Prägnanz und Leichtigkeit von „Listen, Learn, Read On“ zu emulieren, einmal und wartet von da ab darauf, daß etwas passiere. Was es nicht tut. Zu allem Überfluß geht die Nummer dann, nachdem sie zu Ende ist, noch mal los und wird damit endgültig zu lang.
Jon Lord ließ sich im Musikexpress im Oktober 1971 wie folgt über den Song zitieren: „Dieses Stück ist so persönlich, daß ich eigentlich nicht gern darüber rede. Ich schrieb das Lied, nachdem ich einen fürchterlichen Alptraum gehabt hatte. Es war wirklich ein entsetzlicher Traum: Ich bildete mir die ganze Zeit ein, hellwach zu sein, während ich in Wirklichkeit schlief, und ich sah all diese schrecklichen Figuren an der Wand. Am nächsten Morgen setzte ich mich hin und schrieb diese Nummer, und immer wenn ich sie höre, ist das für mich ein ganz persönliches Erlebnis. Wenn ich mir meine eigenen Songs anhöre, erinnere ich mich oft an Dinge, die sich vor langer Zeit abgespielt haben. Zum Beispiel ‚Blind‘: Erst lange nachdem ich es geschrieben hatte, fiel mir auf, woher die Inspiration dazu gekommen war. Ich erinnerte mich an eine Liebesgeschichte; ich war damals siebzehn, sehr verliebt in ein Mädchen und ging mit ihr am Ufer eines Sees spazieren. Sie bedeutete mir damals sehr viel, und ich war sehr enttäuscht, als sie mit mir Schluß machte. Wenn ich heute darüber nachdenke, war die Situation sehr simpel. Sie sagte damals: ‚Ich will nicht mehr mit dir gehen – ich bin in Harry, den Metzgerjungen, verliebt.‘ Ich weiß noch, wie ich hinterher am Wasser stand, wütend Steine hineinwarf und die Wellen betrachtete. Und wenn du dir das Lied anhörst, kannst du die Wellen hören.“ Dazu muß man allerdings genau und wohlwollend hinhören, doch sei zu Jon Lords Gunsten hinzugefügt, daß seine Soli langsam anfangen, eine Richtung zu finden und die Leitplanken zu bemerken. Das winterlich-dramatische, aber angenehm reduziert arrangierte, sehr tief in den mittleren Sechzigern verwurzelte „Blind“, das an Charme gewinnt, indem Lord seine Orgel gegen ein Spinett oder Cembalo eintauscht, lebt in erster Linie von der vertrackten, phantasievollen und einfallsreichen Schlagzeugarbeit, die zwischen Jazz-Zitaten und Keith-Moon-Anklängen einen eigenen und höchst originellen Weg einschlägt und die Tendenz mittelschneller Hard-Rock-Nummern, in ein statisches Gestapfe zu verfallen, vehement aushebelt. Ritchie Blackmore schaut nur kurz vorbei und wirft ein souveränes, aber nicht sonderlich aufregendes, hendrixoides Wah-Wah-Solo dazwischen, und Rod Evans hat, wie immer, wenn es etwas lauter wird und die Melodie ihn nicht fest an beiden Händen führt, gewisse Schwierigkeiten. Noch besinnlicher und getragener wird die Stimmung auf Donovans Blumenkindballade „Lalena“, die ein ganz kleines bißchen wie eine Vorahnung von „Child In Time“ klingt und jedenfalls ein schöner Song ist, auch wenn Deep Purple ihr trotz Jon Lords unaufgeregtem Orgelsolo nicht allzuviel eigenen Charakter zu verleihen vermögen. Hier zeigt Rod Evans, wofür seine Stimmbänder eigentlich gemacht sind, und das ist einerseits erfreulich, andererseits ein Warnsignal, denn Ritchie Blackmore, das weiß und spürt man über gute drei Viertel des Albums, drängt in die Gegenrichtung – Balladen raus, Rock rein.
Das Rückwärtsexperiment „Fault Line“ ist die dritte, erstmals wirklich gelungene Folge der Serie „Große Einleitung – kleiner Song“ und geht nahtlos in „The Painter“ über, mit dem Blackmore die harte Linie wirkungsvoll untermauert, kräftig unterstützt von wiederum großartig lebendigem Trommelgewitter und einem Lord-Solo, das sich ebenfalls alle Mühe gibt, kantig, wild und elektrisch zu wirken. Das harmonische Gerüst ist ein traditionelles Blues-Schema und Rod Evans’ Melodie simpel, aber schlagend wie eine Ohrfeige. Wenn schon kein richtiger Song da ist, läßt sich, möchte man meinen, aus einer alten Vorlage kaum mehr und Besseres herausholen.
Aber verstehe einer diese Band! Unmittelbar danach kommt sie mit dem Substandard-Status-Quo-Holzhacker-Boogie