gegen Ende regelrecht entfesselte, aber eben zirkusbandmäßige Gitarrenarbeit wenig – man hört sie gern, wünscht sich aber den Song dazu weg. Glücklicherweise hebt eine neue, im Vergleich zur „Emmaretta“-B-Seite längere und wesentlich dreckigere Version von „Bird Has Flown“ das Niveau sofort wieder.
In einem muß man Ritchie Blackmore zweifellos recht geben, insbesondere wenn man das Album mehrmals hintereinander gehört hat: Rod Evans, der auf The Book Of Taliesyn (mindestens) seine Momente hatte, wirkt diesmal und inzwischen überfordert, müde, gelangweilt, gequält und über weite Strecken einfach gar nicht richtig bei der Sache. Seine einzige wirklich gute Stelle hat er im tiefschwebenden Refrainausklang von „Bird Has Flown“, aber selbst dieser Höhepunkt wirkt, verglichen mit der zeitgenössischen Konkurrenz (von Robert Plant bis, meinetwegen, zum jungen Noddy Holder), derart bieder und erbärmlich, daß man Evans förmlich schrumpfen sieht und ihm mitleidig die Schulter tätscheln möchte. Wenn man ernsthaft behaupten wollte, Deep Purple sei ein weiterer Schritt nach vorn, dann aber vor allem in diese eine Richtung: zur Umbesetzung des vokalen Arbeitsplatzes.
Das zeigt im Grunde auch das versöhnliche, nun wirklich meisterhafte Finale, das ewig über- ebenso wie unterbewertete, ebenso pathosgeschwollene wie nüchtern-hypnotische, fehler- wie makellose und von späteren Bombast-Rockbands aus aller Herren Ländern bis zum Erbrechen ungeschickt derb bis brutal beklaute, nach wie vor überraschend wirkungsvolle „April“. Denn da hält Herr Evans in Ermangelung irgendeiner sinnvollen Betätigung Gott sei Dank einfach bloß den Mund – bis zum „Rockteil“, wo er, na gut, sich doch noch etwas Mühe gibt und immerhin nicht so sehr stört. Welch ungeheures Gespür und schlafwandlerische Sicherheit Jon Lord, möglicherweise dank seiner klassischen Schulung, möglicherweise einfach als Geschenk der großzügigen Natur, als Arrangeur hat, ist frappierend. Nicht nur schraubt er eine ganze Kiste voller unterschiedlicher Elemente, Teile, Ideen und Interpretationsmöglichkeiten so geschickt zusammen, daß nirgends ein Übergang oder eine Kante erkennbar ist und selbst das Orchester in der Mitte wirkt, als wäre es auf magische Weise aus dem zuvor musizierenden Ensemble irgendwie herausgewachsen, um sich dann ebenso unbemerkt in eine Rockband zu verwandeln. Er liefert noch dazu die Originalvorlage für Millionen melancholische Songs, die auf derselben absteigenden Vier-Akkord-Folge beruhen, er hält, im Gegensatz auch zum Rest des Albums, die Regler aller Hallgeräte so stur bei fast null, daß an keiner einzigen der vielen diesbezüglichen Gefahrenstellen Bombastalarm gegeben werden muß, und er schafft es, so fassen wir zusammen, aus einem unscheinbaren, kleinen Entwurf ein Songgebäude zu bauen, das in der gesamten Geschichte der Rock- und Popmusik seinesgleichen bis heute vergeblich sucht. Noch 2004 schrieb die Berliner Zeitung, mit „April“ hätten sich Deep Purple „auf einmal für ihren Hard Rock entschuldigt“: „Der Organist John Lord mußte irgendwie seinen sinfonischen Druck loswerden und verschrieb der bis dahin unauffälligen Band eine sogenannte Rocksuite, die noch viele und vor allem viel furchtbarere Rocksuiten unbefugter Epigonen nach sich zog. So gesehen ist dieses ‚April‘, mit dem die Mesalliance zwischen Rockinstrumenten und Orchester begann, die Sternstunde des künstlerischen Niedergangs eines kompletten Genres; verhängnisvoll für die primitive Rockmusik, aber in seiner Anmaßung auch wundervoller Kitsch. Schön schlimm – wie der April.“
Wäre der Rest der Platte der letzte Müll oder auch nur so halbgar wie diese Formulierung – man müßte sie dennoch loben und lieben, und wenn das schwer psychedelisch rockende Finale von „April“ verklungen ist, kann sich der Schreiber dieser Zeilen, mit schweren Füßen und perlglänzenden Augen zurückgekehrt aus Heppel & Ettlichs Kneipe um die Ecke, wo man ihm zum Ausklang und Abschied ungefragt ebendieses „April“ kredenzt hat, nicht mehr erinnern, was es gleich noch mal war, was er an Deep Purple enttäuschend fand oder gefunden haben wollte.
Weitere fünf Wochen lang bespielt die Band – ob aus Verzweiflung, Sturheit oder einfach um ein paar Pfund in die Kasse zu kriegen – Bühnen in Großbritannien, und weitere fünf Wochen lang wissen Rod Evans und Nick Simper nichts von ihrer bereits beschlossenen Kündigung. Das ist nach Deep-Purple-Logik durchaus sinnvoll, denn es müssen ja erst Nachfolger gefunden werden, damit der Geschäftsbetrieb reibungslos weiterlaufen kann.
Die Londoner Musikszene hat – wie die britische überhaupt – während der Abwesenheit von Deep Purple nicht etwa den Betrieb eingestellt, sondern ist wie ein Schnellzug weitergefahren, ohne sich um zurückbleibende Passagiere groß zu kümmern, und so muß der schimmerlose Ritchie Blackmore seinen alten Schulfreund und Ex-Outlaws-Kollegen Mick Underwood anrufen und fragen, wer und was denn zur Zeit angesagt sei, vor allem in puncto Baß und Gesang. Ob aus Stolz oder Naivität – Underwood, der seit kurzem bei Episode Six trommelt, schwärmt, unvorsichtigerweise, in den höchsten Tönen von seinem Sänger Ian Gillan. Der sitzt während des Anrufs mit Roger Glover in Underwoods Bude herum; man ist damit beschäftigt, Sparmaßnahmen durchzurechnen, die den Erwerb einer neuen Gesangsanlage ermöglichen sollen.
Gillan – wir erinnern uns – war vor knapp anderthalb Jahren schon mal im Gespräch, inzwischen aber haben sich die Voraussetzungen gründlich geändert: Nach einer längeren Tournee durch den Libanon, das einzige Land, in dem Episode Six je einen Nummer-1-Hit, vielmehr: überhaupt einen Hit, verzeichnen können, und dem Ausstieg des Underwood-Vorvorgängers Harvey Shields (John Kerrison blieb nur ein paar Tage), ist Gillan nicht mehr so überzeugt von einer großen Zukunft mit Episode Six und hat bei Gelegenheit schon mal die Idee ins Spiel gebracht, mit Underwood und dem Episode-Bassisten Roger Glover eine neue Band zu gründen – deshalb auch der geplante Anlagenkauf, mit dem die Betriebsausstattung vervollständigt werden soll.
Blackmore und Lord reagieren schnell. Am 4. Juni sehen sie sich im Ivy Lodge, einem kleinen Jugendklub in Woodford Green im Londoner Nordosten, Episode Six an. Underwood hat Blackmore Ian Gillans Telephonnummer gegeben, und Gillan erzählt Roger Glover vor dem Gig, ein Typ von einer Band namens Deep Purple habe ihm einen Job angeboten. Wenn Blackmore sich etwas in den Kopf gesetzt hat, auch das wissen wir bereits, ist ihm fast jedes Mittel zur Durchsetzung recht. Als er zu Episode Six auf die Bühne steigt und als Gast ein bißchen mitspielt, werden auch die restlichen Mitglieder der Band mißtrauisch. „Ich kannte Deep Purple nicht, mir erschienen sie wie ziemlich ruchlose Gesellen“, sagt Roger Glover. „Die Session mit Ritchie war gut, aber was mir am meisten im Gedächtnis blieb, war das Erscheinungsbild der Band: Sie trugen alle Schwarz, sahen geheimnisvoll aus, hatten schwarzgefärbte Haare – und ziemlich viel davon.“ Nach dem Auftritt kommt Jon Lord in die Garderobe und unterbreitet Gillan ein förmliches Angebot für eine inaugurale Geschäftsbesprechung.
Für gewisse Dinge hat Ian Gillan ein gutes Auge. Als er, in den besten Klamotten, die der gemeinsame Gillan/Glover-Kleiderschrank hergibt, mit einer Zehnerpackung Rothmans-Zigaretten und einer Hosentasche voller pappiger Kleenex-Tücher, weil er schwer erkältet ist, vor Nervosität zitternd zu dem anberaumten Treffen mit Blackmore, Lord und Paice erscheint, bemerkt er, daß sich unter der Fassade des Trios Dinge abspielen, die mit Bandstrukturen, wie er sie gewohnt ist, nicht leicht in Einklang zu bringen sind: „Offenbar“, schreibt er in seiner Autobiographie Child In Time, „hatten Rod Evans und Nick Simper keine Ahnung, was da vorging, ebensowenig wie das Management, John Coletta und Tony Newman. Während die in ihrem Büro in der Newman Street 25, London W1, emsig daran werkelten, der Band ihre zukünftige Lebensgrundlage zu sichern, waren Ritchie, Jon Lord und Ian Paice dabei, die Band nach ihren Vorstellungen umzubauen. Auf den ersten flüchtigen Blick kamen die Typen sehr stark rüber. Sie wirkten reich und selbstbewußt, auch sehr gut gekleidet. Ich versuchte, sie zu beeindrucken, indem ich ihnen Zigaretten anbot: ‚Will jemand eine von denen?‘ Dabei fielen die Rotztücher mit aus meiner Hosentasche. Weil mir der Schleim nur so die Kehle runterlief, bückte ich mich qualvoll runter, um den feuchten Haufen aufzuheben, und alle starrten mich an. Es war ein Augenblick entsetzlicher Unsicherheit, aber sie halfen mir dann schnell darüber hinweg. Wir plauderten über Rock ’n’ Roll, und sie boten mir den Sängerjob bei Deep Purple an. Dann fragten sie noch, ob ich irgendwelche anständigen Bassisten kenne, und ich erwähnte Roger.“ Gillans schwerer Schnupfen, erzählt er später, hindert ihn daran, beim Anblick der Frisuren, die seine drei zukünftigen Arbeitgeber durch die Gegend tragen, in schallendes Gelächter auszubrechen.
Roger Glover ist nicht ganz so leicht zu überzeugen wie sein Sänger. Nach dem Episode-Six-Auftritt