Grant Morrison

Superhelden


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      Obwohl die Rechtsabteilung von National gerne das Gegenteil hätte beweisen wollen, war Captain Marvel überhaupt nicht wie Superman. Superman zelebrierte seine individuelle Kraft vor Hintergründen, die so realistisch wie möglich gezeichnet waren. Die Geschichten um Captain Marvel boten eine Welt, die zunehmend unreal wurde, eine Welt, in der das Wort im Mittelpunkt stand. Er vertrat die innere Welt der Traumlogik, der Märchenstunde, wo Spielzeuge zum Leben erwachen. Wenn Superman Science-Fiction und Batman Crime waren, dann war Captain Marvel ein Vertreter des Fantasy-Genres.

       Die Story seines Ursprungs war eine durch und durch schamanische Erfahrung, wie sie wohl jedem Hexendoktor, Ritual-Zauberer, Anthropologen oder Opfer einer Entführung durch Aliens geläufig sein dürfte.

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      Die Reise des jungen Billy Batson beginnt in einer typisch mondänen Umgebung. An einer Straßenecke trifft der Leser zum ersten Mal auf einen Waisenjungen, ein Opfer der Weltwirtschaftskrise, der Zeitungen vor einer U-Bahnstation verkauft, wo er nächtens auch zu schlafen pflegt. Als er von einem merkwürdigen Charakter mit Schlapphut und Trench Coat angesprochen wird, nimmt er dies locker zur Kenntnis. Das Gesicht verbirgt der Fremde unter seiner Hutkrempe, und Billy gibt sich in einem Ausmaße vertrauensselig, wie es in unserer von Pädophilen heimgesuchten Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr möglich wäre. Er willigt ein, dem geheimnisvollen Mann in die Station zu folgen.

      Ein Zug fährt in die ansonsten verlassene Station ein, und es kann wohl nur ein Zug aus einer anderen Wirklichkeit sein, so wie seine Seite mit modernistischen Motiven, die wie Graffiti von Joan Miró aussehen, beschmiert ist. Einem stromlinienförmigen platonischen Prototypen für Harry Potters Hogwarts-Express ähnelnd, trägt der Zug Billy in einen tiefen, dunklen Tunnel, der von unserer Welt in eine andere, eine höher angesiedelte magische Dimension führt, wo Worte zu Zaubersprüchen werden, die die Natur der Wirklichkeit verändern.

      Billys psychedelisches Tunnel-Abenteuer erreicht seinen Höhepunkt in einer weiteren leeren Station. Als er dort ankommt, findet der Junge einen sinistren, von flackernden Schatten gebildeten Torbogen. Am Ende des Korridors sieht sich Billy einem langbärtigen „Zauberer“ gegenüber, der dem Jungen seine neuen Pflichten und Fähigkeiten darlegt. Gleichzeitig hängt ein monströser bebender Würfel aus Granit an einem splitternden Balken über dem Kopf des weisen Mannes. Alles erscheint vergrößert, ist von Fackeln erleuchtet und wirkt fieberhaft, als höhere Mächte Billy in ihre Absichten einweihen: Billy Batson, ein guter und treuer Junge, wurde auserwählt, den Platz des greisen Zauberers einzunehmen. Er nutzte seine Kräfte 300 Jahre lang, um die Menschheit zu beschützen, und braucht nun eine Pause. Die Übertragung der Kräfte kommt dadurch zustande, dass Billy den Namen des Zauberers ausspricht: „Shazam“! Billy wird vom Blitz getroffen, und im umherwirbelnden Rauch dieses finalen Zaubertricks steht dann ein großgewachsener Mann mit Umhang. Er trägt ein militärisch anmutendes rotes Kostüm, auf dem ein gelber Blitz abgebildet ist. Sein Cape ist weiß mit einem hohen Kragen und einer eingeflochtenen gelben Verzierung. Um seine Hüften hat er eine gelbe Schärpe. Dazu trägt er rote Leggings und gelbe Stiefel – klugerweise vermeidet er es, seine Unterhose über seinem Beinkleid zu tragen. Mit seinen zurückgegelten Haaren sieht er aus wie die erwachsen gewordene, perfektionierte Version des jungen Billy. Tatsächlich aber sieht er beinahe exakt so aus wie der Schauspieler Fred McMurray, nach dessen Vorbild Charles Clarence Beck seinen Helden gestaltet hat. Nachdem er seine letzte Aufgabe erfüllt hat, sinkt der Zauberer zurück in seinen Thron, der Steinblock über seinem Kopf löst sich und plättet seinen Körper unter dem enormen Gewicht. Sein Geist wird wie Obi-Wan Kenobi auch noch post mortem als Mentor des jungen Superhelden fungieren.

      Dieser Mix ergibt einen verwegenen Cocktail und dehnt das Potenzial des Superhelden-Konzepts auf eine Weise, wie es später „Lucy in the Sky with Diamonds“ mit der vorherrschenden Vorstellung von Popmusik machen sollte.

      Das Zauberwort war ein Konzept, das den Superhelden mit der Grundlage des menschlichen Sprechens verband: Sprache, Geschichten erzählen. Captain Marvels Kräfte waren nicht das Resultat harter Jahre im Fitnesscenter oder seiner außerirdischen Abstammung oder seines königlichen Blutes. Seine Kräfte leiteten sich von einem Zauberspruch ab. Er war ein Zauberer.

      Ich erinnere mich, wie ich als Kind jedes Wort im Wörterbuch ausrief, nur um mein persönliches Shazam! zu finden. Letztendlich sucht jeder nach seinem eigenen Zauberwort: die Diät, die Beziehung, die Weisheit, die uns befreien und uns vom Koventionellen hin zum Außergewöhnlichen führen könnte. Diese ewige menschliche Hoffnung auf Transzendenz war wie Raketentreibstoff für die Captain-Marvel-Comics. Shazam! wurde ein Bestandteil unserer Kultur wie Abracadabra oder Hey Presto! – eine Allzweck-Beschwörungsformel. Es war ein Wort der Erleuchtung und der persönlichen Verwandlung, die in einem weißglühenden Augenblick vollbrachte, was Jahrzehnte buddhistischer Meditation nicht in der Lage wären zu bewirken. Seine Kräfte waren die Siddhi, welche von den ultimativen Yogis beansprucht werden. In der Sprache der zeremoniellen Magie beschwor Shazam! den höchsten Schutzengel, um einem zu Hilfe zu eilen. Wenn Billys natürliche Neugier ihn in Schwierigkeiten brachte, konnte dieses Wort Captain Marvel herbeirufen, um alles wieder gerade zu biegen.

      Tatsächlich war Shazam ja ein Akronym. Captain Marvels Kräfte leiteten sich von sechs Gottheiten und legendären Helden ab. Er war ausgestattet mit der Weisheit von König Salomon, der physischen Stärke von Herkules, der Ausdauer des Atlas, der Macht des Zeus, dem Mut des Achills und der Geschwindigkeit des Merkurs. Merkur war im ganzen Konzept allgegenwärtig, vom knallgelben Motiv des Blitzes auf des Captains Kostüm bis hin zu den Wortspielen und der Präsenz des alten Zauberers, der Billy mit seinem Zauberwort ausgestattet hatte. Dieser arbeitete als Junior-Reporter für den Radiosender WHIZ, womit er in den Fußspuren des Zeitungsmannes Clark Kent wandelte. Der prestigeträchtige Job eines jugendlichen Radioreporters scheint ein so perfekter Job für einen jungen Hermes, dass es schon fast nicht mehr außergewöhnlich oder auch nur erwähnenswert wirkt.

      Dies alles machte den ersten okkulten – oder vielleicht passender: hermetischen – Superhelden aus: Marvel war ein Magier in Strumpfhosen, ermächtigt durch höhere Mächte und das Göttliche. Wo Supermans Kräfte auf pseudowissenschaftliche Art und Weise erklärt wurden, öffneten die Abenteuer Captain Marvels die Türen zu einer Welt voller magischer Selbstüberzeugung und Verwandlungsgabe. Da, wo Superman die Zähne zusammenbeißen musste, um die Übel der Welt überwinden zu können, lächelte Marvel bloß und hatte Zeit, seine liebenswerte, warme und gut ausgeprägte Persönlichkeit zu zeigen. Während Supermans Cape schlicht und einfach nur mit seinem „S“ verziert war, war Marvels Umhang extravagant mit einer goldenen Verzierung und bourbonischen Lilien dekoriert. Er trug die militärische Uniform der Männer und Frauen der Zukunft.

      Marvel führte noch eine weitere Neuerung ein. Superhelden waren bis dahin Einzelgänger gewesen. 1940 hatte Batman gerade erst Robin angelernt und das Zeitalter der jungenhaften Sidekicks noch nicht ernsthaft begonnen, da hatte Captain Marvel bereits eine Familie um sich geschart. Eine Superhelden-Familie! Zuerst, im Jahr 1942, schloss sich ihm seine Cousine Mary Batson an – sie musste bloß den Namen ihres Helden, „Captain Marvel“, aussprechen, um sich in die weise und gute Mary Marvel zu verwandeln, die ein Gebäude zu Staub zertrümmern konnte, wenn es nötig war. Das dritte Mitglied ihres Teams war der umwerfende Captain Marvel Jr., der sein Debüt in Whiz Comics #25 (1942) feierte.

      In einer Ära, in der ein großer Teil des Artworks noch wohlwollend als „robust-primitiv“ bezeichnet werden konnte, waren die Arbeiten von Mac Raboy für diese Strips von einer zeichnerischen Feinheit und einem Verständnis von Anatomie und Bewegung geprägt, die sie einzigartig machten. Sein von ihm gestalteter Captain Marvel Jr. war ein geschmeidiger Engel, der mühelos und besser als jeder andere Superheld die Freiheit des blauen Himmels und die jugendliche Energie einfing. Mit einem solch fähigen Partner wie Raboy im Studio, entwickelte Becks eine glatte und professionelle Linienführung. Die Verkaufszahlen von Captain Marvel erreichten ungeahnte Höhen und übertrafen sogar die des mächtigen Superman. Die Hintergründe erschienen solider in den Geschichten der Familie Marvel, die Schatten waren schwärzer und deutlicher, der Fokus und die Tiefe irgendwie schärfer, und die Comics entwickelten einen edlen Look, der an Disney-Animation oder die besten Zeitungsstrips erinnerte.