Grant Morrison

Superhelden


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ein, um den einzelnen Moment zum Mythos zu überhöhen. Es entstand ein förmlicher Abstand, ein Bühnenportal, das die Distanz zwischen dem Leser und der Action absichern sollte. Wayne Borings gesamter Kosmos ließ sich auf einen 2 x 2 Zoll großen Raum reduzieren. Seine geschmeidigen, polierten Panelen flossen wie Billardkugeln über ein komprimiertes, flaches Universum, wo der Raum weder unvorstellbar groß noch einschüchternd, dafür aber geschlossen war und vor Farben und Leben nur so überquoll. Während er zuvor die gleiche Flugpose immer und immer wieder einnahm, sprang Borings Version von Superman gemütlich zwischen unglaublichen Distanzen, die sich zwischen zwei einzelnen Bildern befanden, hin und her, stets stoisch und ausdruckslos. Jahrhundertelange, epische Zeitspannen verflogen zwischen wenigen Panelen. Dynastien vergingen neben den Sprechblasen, und Sonnen konnten alt werden und sterben im Verlauf einer einzigen Seite.

      Es war auch wie eine Spielzeugwelt, die man durch das verkehrte Ende des Teleskops betrachtete. Boring ließ die Ewigkeit winzig wirken, als könnte man sie sogar in Händen halten. Er reduzierte die Unendlichkeit auf einen Cameo-Auftritt, denn – so die große Erkenntnis der Ära Weisinger – menschliche Emotionen können stärker sein als die unglaubliche Größe des Raums und die Grenzenlosigkeit der Zeit. Wayne Borings enge Linienführung war notwendig, um dem dionysischen Sturm und Drang, der die Seiten mit Leben erfüllte, Einhalt zu gebieten und Form zu verleihen.

      Diese Storys konzentrierten sich gänzlich auf die Gefühle. Der Superman der Fünfziger plumpste in allumfassende Gefühlswelten, die so groß und unbezwingbar waren, dass sie ein junges Herz brechen oder sogar die Sterne blenden konnten. Die sozialistischen Machtfantasien, die chauvinistische Propaganda, die mit Gimmicks überladenen Abenteuer, welche die vorangegangen 20 Jahre in Supermans Karriere bestimmt hatten, machten Platz für Geschichten über Liebe und Verlust, Schuld, Trauer, Freundschaft, Terror und Sühne. Sie waren geradezu biblisch in ihren Ausmaßen und ihrer Reinheit. Und immer war Weisingers gottgleicher Superman uns dabei ähnlicher, als er es je zuvor gewesen war. Er verkörperte das Amerika der Fünfziger mitsamt seiner atomaren Faust, seinem tödlichen Erzfeind sowie seinen tapferen Verbündeten. Wie Amerika war auch er ein Koloss, der Fehler beging, die Welt vor Tyrannei schützte und doch von nagenden Schuldgefühlen heimgesucht wurde, innerlich zerrissen war und sich vor Veränderungen fürchtete.

      Weisinger unterzog sich einer Psychotherapie und versorgte seine Schreiber mit dem in den jeweiligen Sitzungen angefallenen Material, damit sie es für ihre Geschichten verwenden konnten. Das Innenleben des Herausgebers wurde auf dem Seziertisch augebreitet, zerlegt und fand sich ohne jegliche Scham in den Comics wieder.

      Zum Beispiel gab es da etwa die Flaschenstadt Kandor. Kandor war die Hauptstadt von Supermans Heimatwelt Krypton gewesen. Geschrumpft und gerettet durch den Schuft Brainiac, war Kandor nun eine winzige Stadt unter einer Glasglocke. Dieses lebende Diorama, diese Ameisenfarm mit Menschen, sprach gerade Kinder sehr an und trug zum Bild eines kindlichen Supermans in dieser Zeit bei. In Kandor waren verloren geglaubte Erinnerungen unter Glas konserviert – Superman konnte sich dorthin begeben, um eine Welt, die er zurücklassen musste, noch einmal zu erleben. Kandor stand für jede Schneekugel, jede Jukebox, jede bittersüße Erinnerung. Kandor war die klingende Stimme einer untergegangenen Welt, einer Vergangenheit, wie sie hätte sein sollen, unerreichbar. Kandor war das verkörperte Überlebenden-Syndrom.

      Der Superman der Fünfziger fand sich inmitten einer absonderlichen, nuklearen Familie bestehend aus Freunden, Widersachern und Verwandten wieder. Weisinger hatte von Captain Marvel und seiner Familie gelernt. Viele seiner Lieblingsschreiber, z. B. Otto Binder und Edmond Hamilton, hatten zum Mythos des Captain Marvel beigetragen und waren in der Lage, diesen Stil an eine neue Fantasiewelt, die pointierte, verwinkelter und paranoider war, anzupassen. Dies war die nukleare Familie, die da in der Finsternis vor sich hin glühte. Nicht länger der letzte Überlebende einer untergegangenen außerirdischen Zivilisation, bekam Superman Gesellschaft von einem ganzen Fotoalbum an neuen Superbegleitern. Er hatte bereits seinen eigenen Superhund Krypto und entdeckte nun überdies, dass er eine hübsche blonde Cousine namens Kara Zor-El besaß, die es ebenso geschafft hatte, die Zerstörung von Krypton zu überleben, und zwar gemeinsam mit einem Superaffen namens Beppo. Es gab Storys rund um Superman als Jungen (Superboy) und als ulkiges Kleinkind mit Superkräften (Superbaby). Lois Lane war auch populär genug, um ihren eigenen monatlich erscheinenden Comic zu bekommen. Genauso wie auch Supermans Kumpel Jimmy Olsen.

      Der junge Olsen hatte eben erst seinen eigenen Comic erhalten, da erlebte er auch schon eine Reihe von außergewöhnlichen körperlichen Veränderungen, die typisch für das Silberne Zeitalter waren. Eine Auswahl seiner Metamorphosen umfasst seine Verwandlungen in ein Stachelschwein, eine riesige Schildkröte, einen Wolfsmenschen, einen äußerst biegsamen Burschen und einen „menschlichen Wolkenkratzer“ – ohne jegliche Pause zur Selbstreflexion. Diese Transformationen hinterließen aber zum Glück nie irgendwelche bleibenden körperlichen Schäden oder Neurosen.

      Das Fantastische drang so tief in den Alltag der Welt Supermans ein, dass sogar Superboys alte Flamme aus der Kleinstadt, die rothaarige Lana Lang, ihr eigenes Doppelleben als insektoides Mädel erhielt. Sie benutzte einen „außerirdischen Ring“, um die schlanke Figur einer Schulballkönigin gegen das gewölbte Abdomen und die nervösen Fühler einer gigantischen Wespe oder Monstermotte zu tauschen, wobei sie aber ihren menschlichen Schädel und Oberkörper behielt, was das ganze zehnmal verstörender erscheinen ließ. Wie Jimmy erlitt Lana kein psychologisches Trauma, wenn sich ihre menschlichen Formen zu einem monströsen Spinnenbauch aufblähten, ihre aus Chitin bestehenden Vorderbeine gegeneinander klackten und superharte Seide aus der Spinndrüse schoss, die sich dort befand, wo eigentlich ihr Hintern hätte sein sollen. Wäre Franz Kafkas sanftmütiger Gregor Samsa im aufstrebenden DC-Universum zur Welt gekommen, hätte er wohl auch seine enormen neuen Kakerlaken-Kräfte für den Kampf gegen Verbrechen und Ungerechtigkeit eingesetzt. Innerhalb kurzer Zeit hätte man ihn eingeladen, sich der Gerechtigkeitsliga anzuschließen. Kafka kam es wahrscheinlich nicht in den Sinn, dass seine Verstoßenen auch heroisch wie die X-Men, auf abnorme Art glamourös wie Jimmy Olsen oder so hinreißende Trendsetterinnen wie die Pulitzer-Preisträgerin Lois Lane hätten sein können.

      Wenn er nicht gerade unter fremdem Einfluss stand, konnte Jimmy Olsen es nur kaum länger als für fünf Seiten aushalten, er selbst zu sein, und er verfügte deshalb auch über ein viel genutztes „Verkleidungs-Kit“ für Notfälle, um dem Abhilfe zu leisten. David Bowie und Lady Gaga vorwegnehmend, wurde sein Leben zu einer Parade aus dauernden Kostüm- und Identitätswechseln. Und lange bevor diese beiden Performer die Grenzen zwischen „maskulin“ und „feminin“ ausloteten, dekonstruierte Jimmy Olsen Macho-Stereotype in einer Abfolge von Softcore-Travestie-Abenteuern für Kinder, die kaum zu fassen sind, wenn man sie sich heute durchliest.

      Die drei unvergesslichen Travestie-Stories (u. a. „Miss Jimmy Olsen“) können durch den folgenden Text, der die Hauptstory in Jimmy Olsen #95 einleitet, zusammengefasst werden:

      „FALLS IHR EUCH JEMALS GEWUNDERT HABT, WAS JIMMY OLSEN ALLES FÜR EINE GUTE STORY TUN WÜRDE, DANN WARTET, BIS IHR JIMMY IN ACTION ALS VERTRETER DES SCHWACHEN GESCHLECHTS SEHT! JA, LIEBE LESER, SUPERMANS JUNGER KUMPEL UNTERZIEHT SICH EINER DRASTISCHEN TYPENVERÄNDERUNG UND LANDET ALS GANGSTERLIEBCHEN MIT SEINEN HOCHHACKIGEN SCHUHEN IN SCHWIERIGKEITEN.“

      Diese Worte werden von einer Illustration begleitet, die Jimmy zeigt, wie er gerade an einer Gruppe Männer vorbeiflaniert, die voller Anerkennung seinen Arsch bewundern.

      „HA! HA! DIESE WÖLFE WÜRDEN TOT UMFALLEN, WENN SIE WÜSSTEN, DASS HINTER DIESER WEIBLICHEN VERKLEIDUNG DAS ÜBERAUS MÄNNLICHE HERZ DES DAILY PLANET REPORTERS JIMMY OLSEN SCHLÄGT!“, konnte man in der Sprechblase über dem Kopf des grinsenden Transvestiten lesen.

      Die anzügliche, augenzwinkernde Phrasierung deutete auf eine einwandfreie Dekonstruktion des maskulinen Abenteuer-Genres hin, welche eine Wendung hin zu Showbiz, Identitätentausch und einer Sexualität, in der alles möglich war, bewirkte.

      Jimmy wurde eine Gangsterbraut und schloss sich sogar einer Revue an, in der er mit den Tanzeinlagen der besten Showgirls mithalten konnte. Ein Hauch von Sodomie hing in der Luft, als Jimmy gezwungen war, in einem aufgeladenen romantischen Moment, der sich in einem nur schwach ausgeleuchteten Apartment zutrug, seine Lippen durch die des sabbernden Schimpansen Dora auszutauschen.