Philipp Hacker-Walton

Das halbe Grundeinkommen


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halben Grundeinkommens. Vor dem Abmarsch muss aber noch die moralische Arbeitsmarktreform in den Rucksack, deren Verwirklichung, von der Öffentlichkeit noch unbemerkt, bereits begonnen hat.1

      Die Planungsarbeiten für diese Reise haben durch die Corona-Krise eine unerwartete Beschleunigung erfahren und gleichen plötzlich eher der hastigen Vorbereitung einer Flucht: Mit der neuen Massenarbeitslosigkeit hat ein tektonisches Beben die ethischen Grundfesten unserer Arbeitsgesellschaft erschüttert, nachdem Strukturwandel und Digitalisierung, maulwurfsgleich, das Erdreich darunter schon an vielen Stellen ausgehöhlt hatten. Niemand kann mehr mit Gewissheit sagen, ob nicht bereits das ganze Haus einzustürzen droht.

      Die Corona-Krise ist ohne Zweifel eine „Leben und Bewusstsein tief zerklüftende Wende und Grenze … mit deren Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.“2 Vor „Corona“ regierte jedenfalls noch das „Fördern und Fordern“ in nahezu ungetrübter Herrlichkeit. Diese schmale Formel prägte drei Jahrzehnte lang unser Verständnis von Gerechtigkeit in Wirtschaft und Staat und faszinierte nicht nur die leitenden Beamten der Sozialbehörden und die Interessenvertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern weite Teile der Bevölkerungen in allen reichen demokratischen Nationen. In dieser Formel schienen die guten und die bösen Engel unserer Seelen glücklich erkannt und versöhnt. Das alte Prinzip von „Geben und Nehmen“, gefühlt so uralt wie die Evolution selbst und gleichzeitig so jung wie die Vorstellung einer solidarischen Hochleistungsgesellschaft3, hatte nicht nur seinen griffigen Ausdruck, sondern auch seine mächtige technokratische Praxis in den Institutionen gefunden.

      Auch philosophisch betrachtet schien alles plausibel: Wenn der Staat tatsächlich „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“4 in ihrer jeweiligen geschichtlichen Form ist, dann durften fast zwei Generationen mit dem „Fördern und Fordern“ einen sittlichen Höhepunkt erleben, indem sie Idealismus und Realitätssinn im Hinblick auf die moralische Vertrauenswürdigkeit des Menschen integriert fanden. Eine recht lange Zeit schien nichts verständlicher und vernünftiger als dieses Prinzip, das unter dem leuchtenden Banner der Chancengerechtigkeit zu segeln behauptete. Jetzt, mit Corona, wissen wir: Ein geschichtlicher Endpunkt war auch das meritokratische „Fördern und Fordern“ nicht. Schon allein, weil nicht mehr so recht klar ist, was genau noch von den Arbeitslosen gefordert werden kann und darf, wenn die Arbeitsplatzlücke immer tiefer klafft.

       Abschied vom „Fördern und Fordern“

      Standen im Jahr 2019 den knapp 900.000 von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen in Österreich noch 521.000 beim staatlichen Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldete offene Stellen gegenüber,5 so macht die abwechselnd aufbrandende und dann wieder schwelende Corona-Krise dieser noch halbwegs funktionalen Balance auf längere Sicht den Garaus.

      Denn es ist nur mehr wenig sinnvoll, weiterhin davon auszugehen, die staatliche Stellenvermittlung mit ihren gesetzlichen Pflichten für Arbeitslose sei gerecht, wenn nur mehr der kleinere Teil der Betroffenen überhaupt Stellenangebote bekommen kann. Schon davor war das störrisch hohe Ausmaß der strukturellen Arbeitslosigkeit ein schmerzlicher Pfahl im Fleische einer sich partout optimistisch gebenden, gebetsmühlenartig auf Qualifizierung6 setzenden Arbeitsmarktpolitik. Dass die bekannten Asymmetrien und Diskrepanzen am Arbeitsmarkt weiterhin dialektisch-produktiv sind, scheint nur mehr für den kleineren Teil der Arbeitslosen plausibel und gültig.7

      So verwundert es dann doch nicht, dass das „Fördern und Fordern“ stillschweigend in Abdankung begriffen ist. Was in Österreich als „AMS-Algorithmus“ zur Bewertung der Arbeitsmarktchancen von Betroffenen heftig und kontrovers diskutiert wurde, ist in Wirklichkeit nichts anderes als der erste ernsthafte, zur besseren Legitimation wissenschaftlich maskierte Versuch, viele sehr arbeitsmarktferne langzeitarbeitslose Menschen von der Vermittlungspflicht zu befreien. Politisch und rechtlich ist der Versuch noch heftig umkämpft8 und die Kriterien für einen bedingungsreduzierten Arbeitslosengeldbezug wurden wieder verwirrt und einer zwar nicht beliebigen, aber doch strategisch unreflektierten behördlichen Praxis überlassen. Aber das ist nur ein Aufschub.

      Auf den ersten Blick paradox scheint, dass sich auch die politische Linke an die Ideologie der gegenwärtigen Arbeitsmarktpolitik klammert, die – einerseits – planwirtschaftlich vorgeht, um – andererseits – neoliberale Zielsetzungen zu erfüllen. Wie ihr Gegenüber schwärmt „die Linke“ weiter von der effizienten Steuerung der staatlichen Arbeitsmarktpolitik mittels „Balanced Score Card“ und „Management by Objectives“.9 Sie setzt, wie ihr Gegenüber, mittlerweile sogar auf eigene „Erhebungsdienste“ der Arbeitsmarktbehörde zur Verhinderung des Missbrauchs des Arbeitslosengeldes10 und versteift sich unbeirrbar auf die Idee, dass der Strukturwandel bloß ein temporäres Auseinanderklaffen von Qualifikationen und Qualifikationsanforderungen sei, das man mit Lehrstellenförderung und staatlichen Kursprogrammen eines Tages wieder gütlich korrigiert haben wird. Oder sie zeigt sich, anders als ihr politisches Gegenüber, fasziniert von der Idee einer staatlichen Jobgarantie für alle Langzeitarbeitslosen, selbst wenn nicht klar ist, wie man einen demütigenden Bürokratismus bei der Zuweisung individuell passender Jobs und die Stigmatisierung der auf diese Weise „Geretteten“ hintanhalten könnte.11

      „Welfare to workfare“, die Welt-Version unseres „Förderns und Forderns“, löst, lange nach Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder, immer noch bei Progressiven wie bei Konservativen prickelnde Gefühle aus, die aber in beide Richtungen schon ins Leere gehen.

      Wir bedauern das nahende Ende des Förderns und Forderns nicht und wollen zeigen, wie sich vor allem das „Fordern“ befreiend und fruchtbar von der institutionellen auf die persönliche Ebene verlagern kann, wenn bedingungslose Elemente in die Systeme der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit Eingang finden. Einen groß angelegten Feldversuch dazu gab es erst kürzlich: Nach dem ersten Lockdown am Beginn der Corona-Krise, exakt vom 16. März bis 18. Mai 2020, mussten Arbeitslose in Österreich per ministerieller Verordnung keine Sanktionen befürchten, wenn sie ein Stellenangebot ablehnten. Diese Erfahrung legt nahe, dass die Arbeitswilligkeit keinen Schaden nimmt, wenn der staatliche Zwang wegfällt. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein, denn die Bereitschaft, offene Stellen auch außerhalb des angestammten Berufsbereichs anzunehmen, erlebte in der Corona-Krise geradezu Höhenflüge.12

      Es ließ sich aber auch ein Phänomen beobachten, das für eine etwaige Systemreform zu denken gibt: Als die Regierung Anfang Juli bekannt gab, dass alle Personen, die zwischen Mai und August 2020 insgesamt zumindest 60 Tage arbeitslos waren, im September eine Einmalzahlung von 450 Euro erhalten, wirkte das fast so, als hätte jemand dem Rad der Arbeitsvermittlung in die Speichen gegriffen.13

       Götterdämmerung der Erwerbsarbeit und die Einführung eines halben Grundeinkommens

      Wenn wir weiter am Modell der Erwerbsarbeit als einem quasi religiösen14 gesellschaftlichen Leitbild festhalten, zerstören wir auf Dauer Zigtausende Existenzen. Das tun wir in letzter Konsequenz nicht nur ökonomisch, sondern auch im Hinblick auf die Selbstachtung vieler, weil wir ihnen die sozialen Grundlagen ihrer Selbstachtung entziehen. Ist die Erwerbsarbeit erst totalisiert, wird die Erwerbslosigkeit zum Gar-Nichts.

      Bullshit-Jobs; die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse; schneisenartige Jobverluste durch Strukturwandel samt Automatisierung; die kaltschnäuzige Verachtung und Unterbezahlung sogenannter einfacher Arbeit; der heuchlerische Umgang mit „systemrelevanten“ und „moralisch hochwertigen“, aber nur leidlich bezahlten Jobs; das schizophrene Verhältnis zum Handwerk;15 die systematische Geringschätzung der Nichterwerbsarbeit in Verbindung mit regelmäßigen politischen Lobhudeleien für das Ehrenamt – für uns sind all das Zeichen, dass die Sonne der klassischen Erwerbsarbeit mit ihrem Versprechen von Dienstverhältnis, Sozialversicherung, Mitversicherung, Konsum- und Statusteilhabe ihren Zenit überschritten hat.

      Allerdings: Die meisten der Literaten, die als Konsequenz daraus umstandslos die Forderung nach einem vollwertigen bedingungslosen Grundeinkommen aus dem Ärmel schütteln, tun dies auch, weil sie offenbar viele Spielarten