oder an der Supermarktkassa irgendein Sinnversprechen bereithält.16 Welcher Snobismus und welche Ignoranz gegenüber dem Facettenreichtum der Bedeutung von Arbeit.
Darin liegt ein Grund, aber bei Weitem nicht der wichtigste, warum wir die nötige Generalreform der Arbeitsgesellschaft nicht gleich mit großem intellektuellem Pomp und einem vollwertigen bedingungslosen Grundeinkommen in die Scheune fahren wollen.
Wir verzichten auf die große Pose und plädieren dafür, mit einem halben Grundeinkommen zu starten.17 Mit ihm können wir uns der Universalität (jeder soll es bekommen) und der Bedingungslosigkeit eines Grundeinkommens sukzessive annähern und viel freier mit dem unvermeidlichen Gegenhalt umgehen, der sofort die Finanzierbarkeit und die politische Akzeptanz infrage stellt. Nach der Einführungsphase soll das halbe Grundeinkommen in der Höhe von 500 Euro grundsätzlich jeder Person ab 18 Jahren zustehen. Für Personen mit einem Einkommen von mehr als 5.000 Euro pro Monat erhöht das Grundeinkommen die steuerliche Bemessungsgrundlage für darüber liegende Einkommensteile. Gut- und Sehrgutverdiener würden also – nach den aktuellen Regelungen in Österreich – das Grundeinkommen zur Hälfte bis zu max. 55 Prozent wieder an die Allgemeinheit zurückgeben.
Was uns aber viel wichtiger ist: Ein halbes Grundeinkommen ist Gerechtigkeit im Komparativ. Es fügt sich der geistigen Tatsache, dass es Gerechtigkeit immer nur im Komparativ gibt, dass immer nur mehr Gerechtigkeit, nie aber die Gerechtigkeit zu haben ist. Insofern ist die Einführung eines halben Grundeinkommens nicht nur pragmatisch richtiger, sondern auch ideell wahrer als die Einführung eines ganzen Grundeinkommens.
Aber auch der Start mit einem halben Grundeinkommen wäre schon in vielerlei Hinsicht revolutionär. Wir werden zeigen, wie die Einbettung eines halben Grundeinkommens in die bisherigen Institutionen, z. B. in die Arbeitslosenversicherung oder in das System der Kollektivverträge, gelingen kann und welche grundstürzenden Veränderungen das auslöst.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen im Ausmaß von 500 Euro monatlich zielt klarerweise nicht primär auf Armutsbekämpfung; dafür muss, was den Staat betrifft, bis auf Weiteres vor allem die Sozialhilfe zuständig bleiben.
Wir betrachten das halbe Grundeinkommen ausdrücklich nicht als eine zusätzliche Sozialleistung. Wir sehen es als ein regelmäßig aus dem gesellschaftlichen Gesamtvermögen fließendes Privateigentum, mit dem man deutlich freier und kreativer leben und wirtschaften kann, ohne dass mit seiner Einführung unsere tief verankerten Vorstellungen von Gerechtigkeit ausgehebelt werden. Das ist für uns ein weiterer springender Punkt: Denn das Arbeitsethos als eine gesellschaftliche Kardinaltugend18 stammt aus der Kardinaltugend der „Tapferkeit“, die wir auch nach einer grundlegenden Reform der Arbeitsgesellschaft noch brauchen und hochhalten wollen.
Es würde uns auch nicht stören, wenn man das halbe Grundeinkommen in erster Betrachtung als das marktwirtschaftliche, die Eigenverantwortung und Kreativität zusätzlich anregende Grundeinkommen wahrnimmt. Man kann es sich gut in der liberalen, pluralistischen Demokratie vorstellen – und zwar nur dort. Ein vollwertiges bedingungsloses Grundeinkommen ist ein viel totaleres Kaliber und passt auch, vielleicht sogar besser, in eine totalere, unfreiere Gesellschaft irgendeiner „brave new world“19.
Nach seinem Grundaffekt kommt die Idee eines halben Grundeinkommens nicht aus der moralischen Bitterkeit der Kritik an einem mächtigen und ungerechten System, sondern aus der heiteren Extrovertiertheit bei der Weiterentwicklung von guten und weniger guten Systemelementen. Wir sind von der Bedeutung – ja von der Weisheit – der in Demokratie und Marktwirtschaft über Jahrzehnte gewachsenen Institutionen überzeugt. Das gilt insbesondere für die Arbeitslosenversicherung und die konventionelle Arbeitsmarktpolitik.
Nicht die große rhetorische Pose des Entwurfs einer Utopie ist also unsere Sache, sondern die sorgfältige Planung einer pragmatischen Reiseroute zu einer gerechteren Arbeitsgesellschaft. Wir sind überzeugt, dass viele Menschen bereit sind, diesen Weg zu gehen. Zwischen den einzelnen Kapiteln wollen wir in insgesamt sieben Erfahrungsberichten20 zeigen, wie Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen und Lebenswelten die Idee eines Grundeinkommens auf ihre ganz besondere Weise bewerten.
Wenn bei uns21, so auch in diesem Zusammenhang, von Gerechtigkeit die Rede ist, dann ist auch von Philosophen die Rede, mit denen wir und unsere Leser in Dialog treten wollen. Immer wieder kommen sie, ausdrücklich oder „im Hinterkopf“, zu Wort, indem wir zum Beispiel fragen:
Wäre der Ahnherr der Aufklärung und Pflichtethik Immanuel Kant damit einverstanden, dass wir vorgemerkte Arbeitslose von der Vermittlungspflicht weitgehend entbinden?
Was könnte Hannah Arendt, die sich in einem ihrer Hauptwerke ganz grundlegend mit dem Tätigsein des Menschen beschäftigt hat,22 dem Gedanken abgewinnen, dass sich in der digitalisierten Arbeitswelt die Erwerbsarbeit und die Nichterwerbsarbeit, ja sogar die Ausbildung und die Bildung, immer ähnlicher werden, was unter Umständen die gesellschaftlichen Bindungskräfte wieder stärken könnte?
Dürfen wir mit Bezug auf das Denken unseres Zeitgenossen Axel Honneth23, der einer der wichtigsten Denker der „Anerkennung“ als dem sozialsten und wechselseitigsten Grundbedürfnis des Menschen ist, damit rechnen, dass bald auch ehrenamtliche Arbeit oder Familienarbeit zu einer vollwertigen gesellschaftlichen Anerkennung des Individuums beitragen werden?
Am Ende des Buches unterziehen wir die Idee eines halben Grundeinkommens einem philosophischen Gerechtigkeitscheck. Dabei stützen wir uns vor allem auf den Begriff der Gerechtigkeit, wie ihn der Harvard-Philosoph Michael J. Sandel entfaltet hat24. Das geschieht mit viel Realitätssinn und inspiriert zugleich, denn Sandel zufolge manifestiert sich Gerechtigkeit in drei wesentlichen Dimensionen: „Nützlichkeit“, „Freiheit und Würde“ sowie in „Werten und Tugenden“. Sandels Clou ist: Nicht allein Freiheit und Würde der einzelnen Person, sondern auch Nützlichkeit und Wirtschaftlichkeit unserer kollektiven Unternehmungen sind trotz aller moralischen Grenzen des Marktes Dimensionen der Gerechtigkeit. Entscheidend sind aber die dritte Dimension und der Appell: Denken wir immer wieder gemeinsam über Sinn und Zweck unserer sozialen Praktiken, unsere Institutionen und über die Werte nach, die das Gemeinwohl bestimmen sollen. Es geht dabei nicht um wahr oder falsch im Sinne der objektiven Wissenschaften oder um vollständige einvernehmliche Problemlösungen, sondern – gut aristotelisch – um die begründete Hoffnung, dass aus dem vernunftgeleiteten öffentlichen Dialog über das Sein ein kluges und doch weithin verbindliches Sollen entspringen kann.
Wir vertreten in unserem Philosophieren also so etwas wie einen pragmatischen „moralischen Realismus“25, weil wir überzeugt sind, dass es „von unseren Privat- und Gruppenmeinungen unabhängige moralische Tatsachen“ gibt, die objektiv bestehen und über die man trefflich streiten kann,26 über die man aber auch trefflich streiten muss, weil sie uns nicht allen auf die gleiche Weise und jedenfalls nicht als Tatsachen an sich zugänglich sind.
Und wir erwarten immer noch von der Philosophie, was Jürgen Habermas zuletzt – wieder einmal – auf den Punkt gebracht hat: „Sie (die Philosophie) darf von Haus aus nicht vor dem Komplexitätswachstum unserer Gesellschaft und unseres immer weitergehend spezialisierten Wissens von der Welt resignieren, wenn sie – wie Kant zu seiner Zeit – ihre Zeitgenossen nach wie vor mit Gründen dazu ermutigen will, von ihrer Vernunft einen autonomen Gebrauch zu machen und ihr gesellschaftliches Dasein praktisch zu gestalten.“27
So viel scheint uns gewiss: Die Idee eines halben Grundeinkommens wird sich ihren fixen Platz im öffentlichen Vernunftgebrauch erobern. Denn seine Einführung kann die Spielregeln der Arbeitsgesellschaft recht grundlegend und auf insgesamt vorteilhafte Weise verändern.
1Zu den ethischen Grundlagen und den fachlichen Eckpunkten einer moralischen Arbeitsmarktreform siehe Georg Grund-Groiss / Philipp Hacker-Walton: Arbeit und Gerechtigkeit. Wien 2019.
2Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt am Main 2015, S. 9.
3Ein Begriff in der politischen Arena der 2000er-Jahre, mit viel öffentlicher Resonanz gebraucht auch vom damaligen